Kate Maleike: Zwei große Bildungsvorhaben der Bundesregierung sorgen seit Monaten für Debatten, weil sie Grundrechte tangieren beziehungsweise das föderale System und die damit verbundene Bildungshoheit der Länder. Es geht um den Digitalpakt für Schulen, der kurz vor Weihnachten erst mal auf Eis gelegt wurde und den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen. Beides sind Themen, die auch Kommunen und Städte als Träger und Beteiligte natürlich umtreiben. Markus Lewe kennt das gut, er ist der Präsident des Deutschen Städtetages, das ist quasi der kommunale Spitzenverband, die Stimme von über 3.400 Städten in Deutschland. Guten Tag, Herr Lewe!
Markus Lewe: Guten Tag, Frau Maleike!
Maleike: Das sind jetzt zwei große erklärte Ziele der Politik, auf die viele Leute warten, Eltern zum Beispiel, dass sie auch schnell umgesetzt werden. Jetzt sagen Sie, ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung auf Bundesebene lehnen wir ab. Warum?
Lewe: Na ja, erst mal geht es ja darum, dass wir beide Themen, die Sie gerade angesprochen haben, als die Herausforderung der Gegenwart sehen, denn uns liegt natürlich daran, dass wir starke Kinder haben, dass jedes Kind eine Chance hat, auch nach seiner Schulausbildung auch am Alltag teilnehmen zu können, teilhaben zu können. Den Rechtsanspruch lehnen wir nicht grundsätzlich ab, sondern wir sagen, dass es vor allen Dingen auch darum geht, in der Ganztagsbetreuung nicht nur individuelle Betreuung in den Vordergrund, sondern auch die Bildung in den Vordergrund zu stellen, und die Aufgabe der Bildung liegt eindeutig in der Zuständigkeit der Ländern. Von daher können wir uns natürlich durchaus einen Rechtsanspruch vorstellen, aber er muss von den Ländern wahrgenommen werden. Es ist so, dass der Bildungsanteil im Vordergrund steht und nicht der Betreuungsanteil.
Maleike: Dann bedeutet das natürlich, dass jedes Land wieder selbst entscheiden kann und wir damit vielleicht auch Unterschiede in den Bildungsangeboten einzementieren.
Lewe: Das gehört natürlich mit zum föderalen System dazu. Die Zielsetzung ist klar. Es soll in jedem Bundesland ein Rechtsanspruch angeboten werden, und wir erleben ja heute schon, dass es eine ganze Reihe von Maßnahmen gibt, wenn ich beispielsweise an die vorbildliche Hortbetreuung in Ostdeutschland denke oder an die neuen Ganztagsformen, die in Nordrhein-Westfalen gefahren werden. Es gibt ja bereits Konzepte, und die müssen weiterentwickelt werden. Wenn man mit einem Bundesgesetz diese Konzepte wieder komplett infrage stellt, wäre das sicherlich nicht hilfreich.
Kommunen haben Sorge vor Mehrkosten
Maleike: Ist denn Ihr Bedenken nur daran geknüpft, dass es ein Bundesgesetz ist, oder was sind die wirklichen Bedenken dahinter?
Lewe: Es sind zwei wichtige Gründe. Der eine Punkt besteht natürlich in der vorhin von mir schon erwähnten Frage, was steht im Vordergrund, Bildung oder Betreuung. Da geht es mir vor allen Dingen und dem Deutschen Städtetag sehr deutlich um die Verbesserung der Qualität. Das andere ist natürlich auch eine Finanzierungsfrage. Es entstehen natürlich durch einen Rechtsanspruch erhebliche Mehrkosten, und die Kommunen haben natürlich die große Sorge, wenn diese Mehrkosten durch einen Rechtsanspruch zementiert werden, dass die Kommunen selber darauf sitzenbleiben und die dadurch entstehenden Kosten nicht gegenfinanziert werden.
Maleike: Sie würden gerne haben, dass der Bund dann kontinuierlich und auch ständig mit Geld um die Ecke kommt?
Lewe: Nicht um die Ecke kommen, aber wir brauchen zumindest dann, wenn ein solcher Rechtsanspruch besteht, einen deutlichen Ausbau der Infrastruktur, einmal investiv – da hat der Bund ja bereits schon Mittel auch angekündigt, die zur Verfügung gestellt werden –, aber es geht natürlich auch um das, was uns mittlerweile an vielen Ecken und Kanten fehlt, nämlich qualifiziertes Personal.
Maleike: Wir verstehen Sie aber richtig, dass Sie sagen, der grundsätzliche Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung in der Grundschule soll sein.
Lewe: Grundsätzlich finde ich den Weg richtig. Er setzt klare Prioritäten, und die gesellschaftlichen Herausforderungen rufen auch geradezu danach, hier auch entsprechend tätig zu werden.
"Finanzielle Mittel zur Verfügung stellen"
Maleike: Der Digitalpakt ist ein weiteres Thema, Herr Lewe, über das ich gerne mit Ihnen sprechen würde. Eigentlich sollte der ja schon seit vier Tagen laufen, also seit Anfang Januar sollte er ursprünglich gestartet werden, nun ist er in die Warteschleife geschoben worden. Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand?
Lewe: Ich finde das sehr bedauerlich, denn wir erleben ja momentan eine revolutionäre Entwicklung. Wenn ich mal daran denke, dass die Digitalisierung auch in den Schulen ein Beitrag dazu ist, wie man junge Menschen Medienkompetenz beibringt, dann kann man sagen, es gehört mit zu den Grundkulturformen, die man beibringen muss, also das ist lesen, schreiben und rechnen, und dazu gehört auch der Umgang mit digitalen Medien. Ich vergleiche das immer so, wenn man die Digitalisierung in den Schulen nimmt und die Infrastruktur dafür nicht hat, dann wäre das so ähnlich, wenn man schreiben lernen müsste ohne Stifte. Das darf natürlich nicht sein. Die Bürgerinnen und Bürger, auch die Eltern, verstehen das teilweise nicht, warum man wegen politischer beziehungsweise verfassungsmäßiger Diskussionen nicht zu einem entsprechenden Pakt kommt. Deshalb hoffe ich, dass es schnellstmöglich einen Kompromiss geben wird, der dann doch die nötigen Mittel des Bundes zur Verfügung stellt, um die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Bei der Infrastruktur sind wir ja noch lange nicht bei den Inhalten, die getroffen werden müssen, denn Medienkompetenz bedeutet viel mehr als nur die Zurverfügungstellung von Computern oder iPhones oder anderen Dingen.
Maleike: Wo liegt denn für Sie der Ausweg aus dieser verfahrenen Situation?
Lewe: Also im Moment ist es ja so, dass es die Sorge gibt - die kann ich auch verstehen - von einigen Bundesländern, dass sie meinen, der Bund würde sich eigentlich in die Hoheit der Länder insoweit einmischen, als dass er zu sehr in den Bildungsbereich sich einmischen würde.
Maleike: Aber bei der Ganztagsschule wollten sie das ja selber auch gerade.
Lewe: Hier geht es gerade erst mal darum, dass wir bei der Digitalisierung vor allen Dingen auch die finanziellen Mittel dafür zur Verfügung gestellt bekommen möchten, und wir haben hier auf der einen Seite ja schon Rahmenbedingungen dafür. Es ist zum Beispiel bisweilen so, dass finanzschwache Kommunen unterstützt werden sollen. Uns geht es aber darum, dass diese Förderung auf alle Kommunen verteilt wird und dass dann die Länder natürlich in ihrer Hoheit, auch wie die Bildungspolitik betrieben wird in ihren Bundesländern, nicht betroffen werden.
"Es ist eine große Herausforderung"
Maleike: Was ist denn, wenn Bund und Länder sich nicht einigen? Sind Sie zum Beispiel in Münster darauf vorbereitet, die Digitalisierung in den Schulen auch so zu betreiben?
Lewe: Also das wäre eine Herausforderung, die wir alleine als Kommune nicht stemmen würden, nicht stemmen können, und das, was mir viel mehr Sorge bereitet, ist, die Diskussion, die auf einer höheren Ebene stattfindet, kann von den einfachen Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr nachvollzogen werden. Mir sagen die Leute, Mensch, warum macht ihr das denn jetzt nicht sofort, und ich habe manchmal die Sorge, dass durch die Vielzahl unterschiedlicher Diskussionen, ob das im Bereich NOX, Diesel oder ob das jetzt im Bereich Digitalpakt ist, die Verzweiflung an der Politik erwächst, als dass Vertrauen in Politik sich weiter steigert, und deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass es zu einem tragfähigen Kompromiss kommen wird im Sinne unserer Schülerinnen und Schüler.
Maleike: Digitalpakt, wann, denken Sie, wird der scharfgestellt, wann wird er endlich kommen?
Lewe: Na ja, ich wäre Prophet, aber vielleicht trägt dieses Interview ja auch mit dazu bei. Ich glaube schon, dass der Druck …
Maleike: Gucken wir mal!
Lewe: Der Druck wächst natürlich, jetzt zu handeln, und die Mittel benötigen wir Kommunen dringend. Also ich hoffe, dass es in den nächsten Tagen kommen wird. Es ist auch extrem wichtig, weil warum geht man überhaupt an sowas Substanzielles wie die Verfassung. Das macht man eigentlich nur, wenn große Herausforderungen da sind, die über das normale Maß hinausgehen, und es ist eine große Herausforderung. Wir haben in Deutschland den großen Anspruch, auch in Zukunft weltweit in dem Wettbewerb mitmachen zu können, übrigens auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, und andere Länder sind uns, was das Thema der Digitalisierung angeht, weit voraus. Allein aus dem Grunde sind solche neuen Dinge wichtig, auch mal herkömmliche Strukturen gründlich zu hinterfragen und dann auch mal wirklich in die Substanz, vulgo die Verfassung zu gehen.
Maleike: Markus Lewe war das in "Campus und Karriere", der Präsident des Deutschen Städtetages, und wir haben gesprochen über die beiden großen Bildungsbaustellen, Digitalpakt für Schulen und das Grundrecht auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen. Herzlichen Dank!
Lewe: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.