Michael Köhler: "Wir haben uns als eine Einrichtung verstanden, die Kultur bewahrt, tradiert. Wir sind grandios gescheitert in dieser Rolle." Das sagte gestern der Direktor der Anna Amalia Bibliothek, Michael Knoche, in unserem Programm. Das ist mutig, das öffentlich zu sagen. Anlass, heute mit ihm zu sprechen, ist der zehnte Jahrestag des Brandes in der Sammlung. Seither gibt es "Intelligentes Brandfolgenmanagement". So heißt das. Das Ziel ist furchtbar einfach umschrieben: Bewahrung der Originale. Heute, habe ich Michael Knoche gefragt, begehen Sie einen Nationalen Aktionstag in Weimar. Es ist seit dem Brand 2004, dem verheerenden, der zehnte seiner Art. Was hat sich seither geändert?
Michael Knoche: Es ist durch das Unglück in Weimar und das fünf Jahre zurückliegende Unglück in Köln mit dem Stadtarchiv, glaube ich, schon vielen Menschen bewusst geworden, was hier auf dem Spiel steht, wenn wir die Originaldokumente weiter vernachlässigen. Das kann, glaube ich, so nicht weitergehen, ist das allgemeine Gefühl. Aber es muss jetzt umgesetzt werden auch in politisches Handeln, und das ist das Ziel dieses Aktionstages, den wir heute durchführen.
Köhler: Sie bemängeln, dass es ein nationales Konzept dafür nicht gebe, obwohl das doch im Koalitionsvertrag steht.
Knoche: Ja, es steht im Koalitionsvertrag. Aber es ist noch immer umzusetzen. Es ist auch eine komplizierte Geschichte. Die Kulturhoheit liegt ja bei den Ländern. Aber der Bund hat meines Erachtens hier eine koordinierende Aufgabe, die er auch aktiv wahrnehmen muss. Er muss darüber hinaus auch Geld dazuschießen, weil es national wertvolles Kulturgut gibt, das in einzelnen kleineren Ländern gar nicht angemessen genug erhalten werden kann.
Köhler: Nun sind Sie eine der prominentesten Einrichtungen. Wenn Sie vorangehen, hat man auch Glück vielleicht, dass auch kleinere Häuser im Bereich der Bestandssicherung, die ja nicht ganz so super attraktiv immer ist, vielleicht voranzukommen. Sie haben Fortschritte gemacht bei der Mengenrestaurierung; so nennt man das. Sie schaffen inzwischen einige hundert Blatt pro Tag, habe ich auch aus der "Tagesschau" erfahren. In Zeiten von Digitalisierung, E-Books, Clouds fragt sich der Laie, ist das zeitgemäß. Ich ärgere Sie mal und sage, haben Sie da was verschlafen? Wie sieht die Zukunft des Bibliothekswesens aus, auch in Weimar?
Knoche: Die Zukunft ist sicher digital, aber ich kann sie mir nicht vorstellen ohne die originale gedruckte oder handschriftliche Überlieferung in den Archiven.
Köhler: Warum?
Knoche: Weil die Forschung natürlich das originale Stück braucht, wenn es die Kommunikationsabsicht zum Beispiel eines bestimmten Werkes im 16. Jahrhundert analysieren will. Dann genügt nicht irgendeine Kopie im Internet. Außerdem haben diese Dinge natürlich über den wissenschaftlichen Wert auch einen kulturellen Wert. Sie schmeißen ja auch keine Dürer-Zeichnung fort, wenn Sie eine schöne digitale Kopie davon gemacht haben. Ranga Yogeshwar, der uns heute bei dem Aktionstag unterstützt hat, der hat das in einem Bild ganz treffend gesagt: "Essen Sie mal eine digitale Suppe, eine Suppe Digital. Guten Appetit! Da schmecken Sie nichts." Da setze ich alles daran, auch künftigen Generationen dieses Erlebnis des Originalen und der Wissenschaft die Möglichkeit zur Untersuchung der Originale zu behalten, zu gewährleisten und dafür Sorge zu tragen.
Köhler: Jetzt werde ich mal eine Sekunde lang sonntäglich, denn der Begriff des Lesens ist ja nicht nur gebunden an den materiellen Träger, das Autograf, das Pergament, das Büttenpapier, sondern das ist ja auch ein Akt der Deutung, ein hermeneutischer Akt. Wer nicht mehr lesen kann, kann auch nicht mehr lesen, sage ich jetzt mal so ein bisschen kryptisch. Auch bei Goethe heißt es doch: "Mir Adepten war die Schrift gegeben, die geheime, sie zu lesen." Wir müssen es auch entziffern können, und die Technik geht vielleicht auch verloren, wenn wir die Dinger nicht mehr in die Hand nehmen.
Knoche: Richtig. Deshalb haben wir ja auch Programme für Schüler und Schulklassen, die wir einführen in die Arbeit mit den historischen Buchbeständen. Das ist ganz wichtig, weil diese Fähigkeit, mit den Dingen umzugehen, auf dem Spiel steht.
Köhler: Sie steht nicht nur auf dem Spiel; das ist doch Ihr Kapital, Herr Knoche, eigentlich das, was man mal pathetisch die Aura nannte. Es gibt eben nur diesen einen Brief von Niels Bohr an Heisenberg, oder diesen einen Autografen von Goethe, oder diese eine Novalis-Handschrift. Das ist doch gerade das Einzigartige daran.
Knoche: Ich glaube auch, dass das viele Menschen verstanden haben, wenn sie sich mit den großen Unglücken in den Gedächtnisinstitutionen in den letzten Jahren auseinandergesetzt haben. Wir haben heute zum Beispiel den sogenannten "Weimarer Appell" verabschiedet und das ist ein Aufruf, dieses alte Kulturgut, das so viele Jahre durch Vernachlässigung gefährdet ist, nun in Zukunft besser zu schützen.
Köhler: Letzte Frage, die genau das aufgreift. Damit das nicht missverstanden wird: Es geht nicht um Weimar alleine, sondern es geht auch um Stadtgründungsurkunden, barocke Bücher, Landkarten, Fotoalben, Notizbücher, egal ob jetzt in Neuss, in Dresden, in Paderborn oder am Tegernsee.
Knoche: Richtig. Das ist der Sinn. Weimar kommt allmählich raus aus seinen Problemen, die Herzogin Anna Amalia Bibliothek wenigstens. Aber in vielen anderen Einrichtungen liegt das Problem noch im Argen und wir appellieren an die verantwortlichen Politiker in Bund, Ländern und Gemeinden, uns in gleicher Weise wie man die baulichen Denkmäler schützt, auch dabei zu helfen, die gefährdeten Originale in Deutschland zu sichern. Diesen Aufruf haben ganz prominente Erstunterzeichner mit unterstützt. Ich sage nur zum Beispiel Anne-Sophie Mutter oder Helmut Schmidt oder Friede Springer oder Wim Wenders oder Ranga Yogeshwar.
Köhler: Michael Knoche, der Direktor der Anna Amalia Bibliothek, aus Anlass des zehnten Jahrestages des Brandes der Sammlung und dem nationalen Aktionstag in Weimar war das.
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