Aisha Haddou ist Religionswissenschaftlerin. Die Marokkanerin gibt sich durch ein elegantes Seitenkopftuch als Muslima zu erkennen. Doch sie erzählt sofort, dass sie in Marokko islamische und in Belgien christliche Theologie studiert hat. Das neue Dialog-Institut zu leiten, sei für sie eine Ehre:
"Wir verstehen uns als interreligiöses Zentrum und haben Mitarbeiter aus allen drei monotheistischen Religionen. Konkret fragen wir, was wir als Juden, Christen oder Muslime zur Lösung aktueller Probleme beitragen können: zum Umweltschutz, zur Rolle der Frau, zum Frieden. Ich denke, in diesem Ansatz liegt die Zukunft. Wir sollten uns nicht über die Wahrheit streiten. Denn niemand von uns weiß, wo die Wahrheit liegt. Wir müssen als Gläubige demütig sein und voneinander lernen. Dann können wir einander zum Wohl der Menschheit ergänzen."
Die Emanzipation der Frauen in Religion und Gesellschaft beschäftigt Aisha besonders. Die Ehefrau des marokkanischen Königs, Prinzessin Lalla Salma, gibt seit Jahren ein viel diskutiertes Beispiel: Die Informatikerin ist Mutter zweier Kinder und zeigt sich in der Öffentlichkeit ohne Schleier. Aisha nickt:
"Es bewegt sich derzeit viel in Marokko. Frauen sind bei uns heute grundsätzlich gleichberechtigt, sie können Theologie unterrichten und sogar ein Amt ausüben, das dem eines Imams vergleichbar ist. Aber leider gibt es in unserer Gesellschaft auch noch Vorbehalte. Wir haben hier am Institut schon zusammen mit jüdischen und christlichen Frauen Seminare abgehalten über Leaderschip. Das war spannend, denn wir haben erkannt, dass wir oft ähnliche Probleme haben und einander helfen können."
Das neue Dialog-Institut gehört zur "Rabitá des Ulemá", einer angesehenen marokkanischen Forschungseinrichtung. Man arbeite mit Universitäten zusammen, erklärt Aisha, und unterstütze nicht zuletzt eine Bildungsreform, die König Mohammed VI anstrebe.
"Wir brauchen Aufklärung, Wissen und eine solide Ausbildung. Das gilt für alle Religionen und in Marokko ebenso wie in Europa. Dort gibt es die Angst vor dem Islam, es gibt gravierende Vorfälle von Islamophobie. Wir brauchen Bildung, wir müssen etwas tun."
Abfall vom Glauben wird nicht mehr mit dem Tode bestraft
Der Dialog ist nach Ansicht von König Mohammed VI eines der wirksamsten Mittel gegen jede Form von Extremismus. Diese Einsicht versuchte der Herrscher auch 2016 anlässlich einer internationalen Tagung in Marrakesch zu vermitteln. In der Abschlusserklärung, die Hunderte von muslimischen Gelehrten aus aller Welt unterzeichneten, heißt es: "Wer die Religion missbraucht, um in muslimischen Ländern gegen Minderheiten Gewalt anzuwenden, steht im Widerspruch zum Islam! Wir fordern die Vertreter der verschiedenen Religionen und Konfessionen auf, gemeinsam allen Formen des Fanatismus entgegenzutreten."
"Marrakesch war ein bedeutendes Ereignis", erklärt Aisha Haddou. "Marokko bemüht sich heute wirklich, das Zentrum eines liberalen Islams zu werden. Der König fördert diesen Prozess nachdrücklich. Er möchte, dass die Marokkaner sich zunehmend für den Dialog und den Pluralismus öffnen."
Doch die Muslima weiß auch um die Hindernisse: Als König Mohammed 2011 in einer neuen Verfassung für Marokko die Religionsfreiheit verankern wollte, stieß er in fundamentalistischen Kreisen auf großen Widerstand. Das nordafrikanische Land ist ein Vielvölkerstaat. Von einer modernen arabischen Hochkultur bis zur mittelalterlichen Lebensweise der Nomaden am Rand der Sahara ist hier alles zu finden. Der König, der Islam und die Tradition seien die starken Bänder, die das Volk zusammen halten, betont Aisha. Die Öffnung, die ein Teil der Bevölkerung ersehne, erscheine daher anderen als Bedrohung:
"Viele Marokkaner haben heute Angst, ihre Identität zu verlieren, wenn sich das Land zu stark öffnet. Es ist nicht zuallererst eine Frage des Interreligiösen, sondern des Intrareligiösen. Wenn wir uns mit Toleranz oder besser: mit gegenseitigem Respekt beschäftigen, dann muss das innerhalb der jeweiligen Religion geklärt werden. Das ist eine Arbeit an der Identität."
Dieser Forderung entspricht ein Beschluss, den der oberste "Rat muslimischer Gelehrter" Marokkos unter der Leitung des Königs im Februar 2017 fasste: Er hob ein altes Rechtsgutachten auf, das muslimische Staatsbürger im Fall eines Wechsels ihrer Religion mit einem Todesurteil bedrohte. Unter modernen Gesichtspunkten sei dies überholt, erklären die Gelehrten und hoffen, dass andere muslimische Länder, in denen noch ähnliche Regelung gelten, ihrem Beispiel folgen. Nachdenklich meint Aisha:
"Die Öffnung, die Toleranz, die Freiheit… das sind komplexe Fragen. Wir benötigen Zeit. Und das kann man nur nach und nach schaffen, durch Bildung und Erziehung. Die gegenseitige Wertschätzung, die Gedankenfreiheit - all das lässt sich nicht erzwingen, es muss wachsen."