Spätestens 1967 war er der intellektuellen Republik ein Begriff: Pierre Boulez, der in einem "Spiegel"-Gespräch dafür plädierte, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Überwiegend aus ästhetischen Gründen - weil das, was weithin in den Musen-Tempeln getrieben wurde, das künstlerisch Neue ersticke. Auch sollte das große Lüften aus soziologischen Erwägungen stattfinden: Da die bürgerliche Geschmacksträgerschicht des Opernbetriebs eben gar zu sehr stehen geblieben sei, verstockt und wohl nicht reformierbar sei. Die Revolte von 1968 kündigte sich an. Boulez war einer der Spatzen, die es von den Dächern pfiffen. Die Zeit schien reif für einen größeren heftigen Luftzug, der wenigstens durch den Überbau pfeifen sollte. Kulturrevolutionäre Ideen griffen Platz.
Anfang der 50er Jahre war der junge Komponist - Jahrgang 1925 und in Montbrison an der oberen Loire geboren - erstmals über den Rhein gekommen - aus Paris, wo der Fabrikantensohn zunächst Mathematik studierte, was bleibende Strukturen in der späteren künstlerischen Arbeit zeitigte.
Er bildete sich musikalisch bei Olivier Messiaen aus und bei René Leibowitz; analysierte in jener Zeit schwer zugänglichen Werke von Igor Strawinsky, Alban Berg und Arnold Schönberg, mit dessen Zwölfton-Technik er seine persönliche Saulus-Paulus-Erfahrung machte und dessen französischer Vorkämpfer er dann als Dirigent wurde:
Nach Kriegsende war Pierre Boulez als Kapellmeister in die Theater-Compagnie von Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault eingetreten. 1951 tauchte er in Donaueschingen auf und sorgte bei den Musiktagen mit seiner "Polyphonie (X) für 18 Instrumente" für Furore - das heißt erst einmal für eine außerordentliche Kontroverse. Er profilierte sich als "Bannerträger des Fortschritts". Der Ruf war gefestigt, als sieben Jahre später mit der für zwei Orchester und erheblichen technischen Aufwand gesetzten "Poésie pour pouvoir" an der selben Stelle ein raumausgreifender Machtanspruch vorgetragen wurde.
Im Jahr dieser Uraufführung, 1958, verlegte Boulez seinen Hauptwohnsitz nach Baden-Baden - auch aus Protest gegen die Algerien-Politik der französischen Regierung und aus Enttäuschung über den linken Kulturminister André Malraux. Von Baden aus konnte er zeitweise nebenbei auch in Basel eine Meisterklasse für Komposition versehen oder zu einem Lehr-Gastspiel an die Harvard University (Massachusetts) aufbrechen. Schulbildend wurde der Meister ohnedies in hohem Grade.
Dann begann ihn, der selbst nie für das Musiktheater komponierte, die Oper zu faszinieren. 1963 dirigierte Boulez die französische Erstaufführung von Alban Bergs "Wozzeck" in Paris, übernahm dort 1977 die Leitung des IRCAM-Instituts im Centre Pompidou. Ein Jahr zuvor aber war er auf dem Grünen Hügel aufgetaucht und bescherte, zusammen mit Patrice Chéreau, die Sensation des Bayreuther "Jahrhundert-Rings". Die beiden französischen Künstler demonstrierten, dass das weithin so obsolet erscheinende deutsche Hauptwerk des 19. Jahrhunderts doch noch einmal, und so ganz überwiegend aus dem Geist einer modernen ästhetischen Gegenwart, zu aktivieren war. Die großen Konzertsäle der Erde und die einschlägigen Festivals begannen, um Boulez zu buhlen. Der wachsende Altersruhm bescherte ihm großen Beifall - gleichermaßen in der Berliner Philharmonie und bei den Salzburger Festspielen, bei einer Kölner Triennale oder im sommerlichen Aix-en-Provence.
In die Musikgeschichte geht Boulez ein als Ritter der unerhörten Struktur, der mit gleichsam "naturwissenschaftlichen" Vorgehensweisen seine Werke erarbeitete: lange im Glauben an einen schrankenlosen Rationalismus. Der freilich hat sich in Altersweisheit relativiert. Und das war gut so.