Ein Jahr ist es her, dass der belarusische Machthaber Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen manipuliert und damit die größten Proteste in der Geschichte des Landes ausgelöst hat. Lukaschenkos Sicherheitskräfte gehen seitdem brutal gegen Demonstranten vor und verfolgen Belarussen auch im Ausland.
Die Repressionen könnten den Willen der Protestierenden kurzfristig aber nicht brechen, sagte der Dirigent Vitali Alekseenok, der seit einigen Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, aber in Wilejka, etwa 100 Kilometer nordwestlich der belarusischen Hauptstadt aufgewachsen ist.
"Millionen von Belarussen haben unser Land neu entdeckt"
"Seit einem Jahr nehme ich mich als einen Bürger wahr", sagte Alekseenok. Auch bei den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen von 2010 sei er dabei gewesen. Er sei dabei aber eher passiv geblieben, habe sich für Politik nur ein bisschen interessiert und sei dann ausgereist. Zehn Jahre später habe er anders reagiert – und damit sei er nicht allein: "Millionen von Belarussen haben unser Land neu entdeckt und dass wir dafür auch Verantwortung tragen und einiges verändern können." Diese Gedanke habe ihn sehr verändert.
Einer der wichtigsten Aspekte dabei sei, dass Belarusen sich gegenseitig kennen gelernt hätten. "Seit einem Jahr kenne ich jetzt Tausende von Belarusen, tatsächlich Tausende." Zuvor hätten Belarussen nicht so gerne miteinander kommuniziert, seien sich lieber ausgewichen, auch im Ausland. Exil-Belarussen hätten im Gegenteil eher versucht, ihre Identität abzulegen. "Wir haben uns jetzt als Belarussen wahrgenommen", es gebe einen stolz auf die Zivilgesellschaft und dieser Paradigmenwechsel werde Jahrzehnte Bestand haben.
Auch durch die Corona-Pandemie seien eine neue Solidarität und neue Gemeinschaften entstanden. Lukaschenko versuche zwar, diese zu zerschlagen. "Es gelingt ihm auf keinen Fall, das auf allen Ebenen zu schaffen", sagte Alekseenok. Online und in den Köpfen der Menschen sei dieses Gefühl nicht auszulöschen: "Alleine die Tatsache, dass sie sich kennengelernt haben, kann man jetzt nicht wegnehmen." Mit physischer Repression könne das Regime diese neuen Entwicklungen nur bedingt bekämpfen: "Die Idee von einem freien Belarus können Schlagstöcke nicht wegnehmen."
"Wir sind so viele, man kann nicht alle zerstören"
"Wir haben glaube ich alle Angst", sagte Alekseenok. Seine Angst sei aber nicht präsent. Das liege aber auch an seinem Aufenthalt im Ausland, in Belarus sei Angst hingegen immer im Kopf, man stehe damit auf und gehe damit schlafen. Er mache sich schon auch Sorgen um sich, aber das Regime wolle ja Angst verbreiten und dürfe damit nicht gewinnen: "Wir sind so viele, man kann nicht alle zerstören."