"Anna lag genau im Lichtstreifen, den der Vollmond ins Zimmer warf. In dieser Nacht schreckte Johannes hoch. Am Samstagvormittag stand Tim im Bad und rasierte sich gründlich. 'Das Pulver im Kakao löst sich nicht auf', klagte Elias."
Man könnte Dirk von Petersdorffs Roman über eine gutbürgerliche, deutsche Kleinfamilie im Schnelldurchgang absolvieren und von jedem Kapitel nur den fett gedruckten ersten Satz lesen. Man würde dabei nicht allzu viel verpassen. Denn so ein Durchschnitts-Alltag birgt keine Überraschungen. Die moderate Stimmungslage würde auch im Schnelldurchlauf deutlich, und das Personal wäre nahezu vollständig: Die schöne, blonde, langbeinige Anna arbeitet in der Pharmabranche. Ihr freundlicher Ehemann Tim macht irgendwas Digitales. Ihr Sohn Elias steht vor dem letzten Jahr im Kindergarten. Und Tims alter Studienfreund Johannes, ein hagerer, bei Frauen und im Beruf notorisch erfolgloser Typ, geistert unrasiert durch die Erinnerungen und ist eigentlich erst am Ende des Romans, als Anna ihren 37. Geburtstag feiert, wirklich präsent. Da tanzen die beiden im Mondlicht. Und Tim, ziemlich betrunken, gibt sich eifersuchtsgrundierten Phantasien hin. Dann kommt mit Doris auch noch eine alte Freundin von Anna ins Spiel, was aber an der grundsätzlichen Ereignislosigkeit nichts ändert.
"Tim war erleichtert und hatte ein schlechtes Gewissen. Johannes saß auf der Gartenbank und wartete auf Elias. Doris stand am Bahnhof. Sie haben eine Wiese oberhalb der Stadt gemietet."
Gepflegte Langeweile
Viel mehr passiert wirklich nicht. Und wer darauf wartet, dass irgendetwas geschieht, ein Seitensprung wenigstens, eine Liebesgeschichte vielleicht, ein plötzliches Unglück oder ein Todesfall oder was sich in derlei Romanen normalerweise ereignet, der wartet vergeblich. Dirk von Petersdorff hält die Mittellage der ereignislosen, alltäglichen Beschäftigtheit konsequent durch. Und immer, wenn man das Gefühl hat, jetzt könnte vielleicht doch etwas passieren – dass Tims Betrug mit erfundenen Zahlen beim Aufbau eines Dating-Portals auffliegt zum Beispiel oder dass Anna vielleicht doch noch mit Johannes ins Bett geht – immer dann lässt Dirk von Petersdorff in seinem ersten Roman die Erwartung des Kleinstadt-Tragödien geschulten Lesers doch wieder und geradezu demonstrativ ins Leere laufen. Denn so sind diese durchschnittlichen, bundesdeutschen, wohlgeordneten, aufregungsarmen Lebensläufe der mittleren Generation: Die Erwartung ist stets größer als das, was die Wirklichkeit bietet. Das müssen die Romanfiguren genauso aushalten wie die Leser.
Bekannt wurde Dirk von Petersdorff bisher vor allem als Lyriker, der die Avantgarde ebenso hinter sich gelassen hat wie neoromantische Sehnsüchte nach dem Tragischen – und der strenge lyrische Formen mit popsonghafter Leichtigkeit zu verbinden versteht. In seinen Gedichten kann er von trivialen Dingen wie dem Zähneputzen erzählen, aber wenn er über Hüftbeschwerden und Windräder spricht, dann tut er das in Sonettform. Das hat seinen Reiz, doch diese sprachakrobatischen Stärken nützen ihm für die Prosa nicht viel. Nach einem autobiographischen Text über die Geburt seiner Zwillinge und die neue Erfahrung des Vater-Daseins ist "Wie bin ich denn hierhergekommen" nun sein erster größerer erzählerischer Versuch. Der Titel drückt das Erstaunen über dieses seltsam schmerzlose Leben aus, in dem seine Figuren sich wiederfinden, ohne es je gewählt zu haben.
Seltsam schmerz- und konfliktlose Lebensläufe
Dieses Leben findet vor allem auf Reisen statt. Vielleicht deshalb, weil nur das permanente Unterwegssein den Anschein von Ausflüchten und Ereignissen produziert. Während der Fahrt an die Ostsee, wo die Mutter wohnt, nach Saarbrücken, wo Freunde zu besuchen sind, dem Sommerurlaub in Schweden und einer Dienstreise Tims nach Chicago vergeht viel Zeit auf wechselnden Autobahnen und Autobahnraststätten. Eine sehr schön beschriebene Szene handelt zudem davon, wie Tim mit dem Auto eine Waschstraße durchfährt und über harte und weiche Bürsten nachdenkt. Aus solchen Momenten gewinnt der Roman das bisschen Leben, das ihn lesbar macht. Dass die Autobahn nicht zufällig so viel Raum einnimmt, legt Dirk von Petersdorff seiner Anna in den Mund:
"Männer haben es strukturell einfacher. Sie können zwar tief betrübt und ins Mark verunsichert sein, aber kaum ist man auf der Autobahn, ist das meiste schon vergessen. Beim ersten Espresso in der Raststätte fühlen sie sich himmlisch wohl und beginnen zu summen."
Auch wenn bundesdeutsche Autobahnraststätten nicht gerade überquellen vor summenden Männern, so mag an dieser Beobachtung doch etwas dran sein. Die titelgebende Frage "Wie bin ich denn hierhergekommen" wäre von da aus zu verlängern in ein endloses Weg-Und-Weiter. Der unendlichen Lust am Fahren entspricht die eigene Ortlosigkeit.
Trostdevise: Wer nichts erlebt, fährt halt öfter mal weg
Der Schmerz, der in der Gegenwart so schmerzlich fehlt, findet sich – und womöglich ist das die Pointe dieser gesammelten Reiseerlebnisse – nur in der Vergangenheit. Da lassen sich auf den Höhen hinter Saarbrücken amerikanische Panzer und deutsch-französische Schlachtfelder besichtigen. Da weist ein Schild an der Autobahn auf die ehemalige innerdeutsche Grenze hin und ruft Kindheitserinnerungen an die Mauer wach, auch wenn von den Erklärungen, die ein Onkel damals gab, nur das gruselige Wort "Todesstreifen" übrig geblieben ist. Den kleinen Elias erreichen solche Erzählungen heute schon nicht mehr; er gibt sich kaum die Mühe, aus seinem Disney-Taschenbuch hochzusehen.
Wer will so viel Ereignislosigkeit lesen?
"Wie bin ich denn hierhergekommen" handelt vom Verlust des Schmerzes und vom Mangel an Widerständen, die das Leben spürbar machen könnten. Bücher, die davon erzählen, gibt es in der deutschen Gegenwartsliteratur mehr als genug. Die Frage ist, wer sie alle lesen soll und wozu. Dient Literatur tatsächlich nur dazu, den Zustand der Erfahrungsarmut zu verdoppeln, indem Autoren den allgegenwärtigen Mangel an Erfahrung literarisch noch einmal ausbuchstabieren? Ist die Leserschaft dieser Art von Literatur zufrieden damit, ein Spiegelbild des eigenen, ereignislos-aufgeräumten Daseins vorgehalten zu bekommen? Oder gibt es vielleicht nicht doch noch andere ein paar Bedürfnisse, die darüber hinaus weisen? Warum also sollte man "Wie bin ich denn hierhergekommen" überhaupt lesen? Die Antwort kann nur lauten: Keine Ahnung. Denn schließlich handelt das Buch genau davon: Von einem leisen, melancholisch grundierten Glück, das nur im Zustand der Ahnungslosigkeit möglich ist. Am Ende sitzen die Protagonisten in einem Schlosspark und lauschen einer herüberwehenden Trompetenmelodie.
"'Was ist das für ein Lied?', fragt Doris und sieht Johannes an, weil sie meint, dass er vielleicht dafür zuständig ist. Tim weiß auch keine Antwort. Sie hören weiter zu, denn diese Fanfare klingt alt und fremd, aber sie bewegt sie. 'Wie jemand der loszieht und gleichzeitig traurig ist', sagt Johannes. 'Hört auf', sagt Anna, 'ich bekomme sonst Gänsehaut.'
Mehr passiert auch an dieser Stelle nicht. Wenn die vier Freunde ganz still sitzen, dann wackelt ihre Bank nicht. Und während noch die Trompete spielt, hat man sie auch schon fast vergessen, so wenig Interesse wecken diese wohlversorgten, selbstzufriedenen und durchschnittlich sympathischen Menschen.
Dirk von Petersdorff: "Wie bin ich denn hierhergekommen"
Verlag C.H. Beck, München. 218 Seiten, 22 Euro.
Verlag C.H. Beck, München. 218 Seiten, 22 Euro.