Die Diskussion findet am wieder errichteten historischen Ort statt: In der ehemaligen Berliner Kommandantur, Unter den Linden Nummer 1. Das Gebäude war der Sitz des Stadtkommandanten Paul von Hase. Er gehörte zum Kreis des Widerstands gegen Hitler. Aus der Distanz, 75 Jahre später, streiten hier die Deuter der Geschichte über die Figur Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Der Schriftsteller Thomas Karlauf kratzt mit seiner Biographie nicht nur am Mythos des Helden Stauffenberg, er stellt diesen für die Bundesrepublik identitätsstiftenden Mythos fundamental in Frage. Karlauf porträtiert den Attentäter des 20. Juli als Einzelwesen und Soldaten:
"Ich glaube nicht, dass er ein politischer Kopf war. Ich glaube, da ist ein großer Dissens. Und das, was Sie hervorheben an Planungen für den Umsturz – also alles, was zwischen September/Oktober '43 und Juni '44 läuft -, sind ja militärische Überlegungen. Welcher Divisionskommandeur wird wo eingesetzt, wer ist wo ansprechbar, um seine Truppen am Tag X von A nach B zu bewegen? Das ist ja, was er an der Kriegsakademie gelernt hat."
"Nicht nur auf das Militärische reduzieren"
Gegen Karlauf spielt Johannes Tuchel den staatstragenden Part in dieser Diskussion. Der Leiter der Gedenkstätte "Deutscher Widerstand" in Berlin verteidigt den Generalstabsoffizier und Hitler-Attentäter:
"Ich würde ihn nicht nur auf das Militärische reduzieren wollen. Ich denke, er wollte hier politisch auch gestalten. Und ich denke, eine seiner Stärken wäre gewesen, nach dem Tag X auf den erfolgreichen Staatsstreich zu reagieren, nicht nur als Soldat zu reagieren. Wenn Sie sich anschauen, dass er eben schon, glaube ich, schon im Mai '43 gegenüber Kuhn sagt: ‚Wir brauchen eine Militärdiktatur, aber sie ist nur ein Übergang.‘"
Anders als Tuchel legt Thomas Karlauf den Akzent auf den Menschen Stauffenberg. Er stellt ihn als charismatisch, dominant und eitel dar - als Cellisten und frommen Verantwortungsethiker, als Anhänger von Stefan George, der Deutschland in seiner Lyrik romantisch verklärte. Aus Karlaufs Perspektive harmonierte Stauffenbergs Gesinnung mindestens bis 1942 mit der NS-Ideologie. Weder die Massenerschießungen von Juden noch der menschenverachtende Umgang der Wehrmacht mit Kriegsgefangenen forderten ihn heraus:
"Er hat in dieser Phase, in der er von diesem Verbrechen Kenntnis erhält -in dieser Phase sozusagen keinerlei Impetus, dass daraus etwas zu folgern ist. Das muss man betonen."
Genau das Gegenteil hebt Johannes Tuchel hervor, wenn er über Stauffenberg spricht. Er sieht ein "Bündel von Motiven", die den Stabschef im Heeresamt zum Handeln brachten. Dazu gehört für Tuchel auch der Mord an den Juden Europas:
"Wir sind jetzt im Jahre '42 angekommen. Wir wissen, dass er den Krieg für einen Angriffskrieg hält, dass er den Sinn dieses Angriffskrieges nicht sieht, dass er diesen Krieg für verbrecherisch hält. Dass er die Kriegführung für dilettantisch hält, dass er die Verbrechen an den Juden sieht. Das ist ein Motivbündel. Menschen ändern sich doch, und Menschen erlernen ja auch."
Glühender Nationalist im Jahr 1942
Dagegen sieht Thomas Karlauf den späteren Attentäter noch im Jahr 1942 als glühenden Nationalisten:
"Wenn Sie die Originaldokumente von ihm sehen - dieses Europa unter deutscher Vorherrschaft, der Glaube an den Endsieg noch '42 – diese Dinge können Sie nicht wegleugnen."
Erst mit dem Scheitern des Feldzugs gegen die Sowjetunion wird Stauffenberg zum entschiedenen Kritiker Hitlers. Darauf legt Thomas Karlauf in seiner Biographie wert. Der Berliner Schriftsteller will Stauffenbergs Leistung nicht schmälern. Er will sich nur nicht an dessen Stilisierung und Heroisierung beteiligen. Die eigentliche Leistung des Attentäters beschreibt er so:
"Diese Konsequenz, diese Entschlossenheit: Das finde ich das, was ihn so heraushebt aus der Gemeinschaft der Widerstandskämpfer der Opposition. Das ist einzigartig an ihm."
Bei allem Ernst und aller Bedeutung der Debatte um den 20. Juli: Das Duo der Diskutierenden scheint noch immer gefangen in der Männerwelt, die Gegenstand ihres Gesprächs ist. Immer wieder wischen die Herren in den 60ern die Fragen der Moderatorin, Vivian Perkovic, zur Seite, korrigieren sie und erklären, worüber nun eigentlich zu reden sei. Wer Herrschaftsgeschichte studiert, übernimmt unbewusst manchen Habitus aus der Historie.