US-Armee, Bundeswehr und weitere internationale Truppen sind abgezogen, die Taliban haben Afghanistan seit Mitte August wieder unter ihrer Kontrolle. Viele Beobachter fürchten die Rückkehr zu einem Terrorregime. Die Taliban kündigten in der Woche nach der Einnahme Kabuls an,
Afghanistan werde unter ihnen keine Demokratie sein, sondern ein Staat nach islamischem Recht
.
Vor dem Hintergrund der Entwicklung in Afghanistan wird nun auch wieder über die deutsche Beteiligung an der UN-Stabilisierungsmission MINUSMA in Mali diskutiert. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat angekündigt, die laufenden Auslandseinsätze der Bundeswehr zu überprüfen – unter Anerkennung der nicht erreichten Ziele, aber auch der Leistungen.
Kurz vor der Bundestagswahl wird der Sinn von Auslandseinsätzen – nicht nur der Bundeswehr – wieder intensiv diskutiert.
Özlem Demirel ist Europa-Abgeordnete der Linkspartei, die militärischen Auslandseinsätzen traditionell kritisch gegenübersteht. "Nichts ist sicherer geworden" und die Taliban seien auch nicht schwächer geworden, sagte Özlem Demirel im Dlf. "Man hätte von Anfang an auf diesen Kriegseinsatz verzichten sollen. Und wenn man helfen will, dann hätte man Infrastruktur aufbauen sollen."
Der Grünen-Außenpolitiker
Cem Özdemir sieht das anders
. "Kritische Überprüfung ja, aber eine komplette Absage an Auslandseinsätze sei "nicht die richtige Lehre", warnte Özdemir. Er verwies auf Beispiele, wo ein spätes oder gar kein Eingreifen zu viel Tod und Zerstörung geführt habe: den Bosnienkrieg, den Völkermord in Ruanda oder den Bürgerkrieg in Syrien. Das müsse man – im besten Fall jenseits von Wahlkampf und Parteipolitik – diskutieren.
So sieht das auch der
Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger
. Es gehöre zu den Grundwerten des Westen, für Menschenrechte, demokratische Staatsformen und Rechtstaatlichkeit zu werben und dafür einzutreten. "Wir müssen aber stets im Blick haben, ob die hehren Ziele, die wir gelegentlich formulieren, tatsächlich im Einklang sind mit den Mitteln, die wir dazu einzusetzen bereit sind, und für die Dauer des Engagements, das dafür womöglich notwendig sein wird."
Sinnvoll sind solche Einsätze nur, wenn sie nachhaltigen Erfolg haben. Auch mit Blick auf die EU-Ausbildungsmission in Mali wird das immer wieder infrage gestellt. Dort hat das Militär binnen eines Jahres zweimal geputscht und die Zivilregierung aus dem Amt gejagt. Nach dem zweiten Putsch im Mai 2021 sagte Thomas Schiller von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bamako, nahezu alle Offiziere hätten eine internationale Ausbildung bekommen. Dennoch sei das Offizierskorps in Mali weder in der Lage, die Armee richtig zu führen, noch republikanische und demokratische Strukturen zu akzeptieren. In Mali gilt das Militär manchen Beobachtern eher als Teil des Sicherheitsproblems. Bürger und internationale Organisationen werfen ihm regelmäßig Korruption und schwere Menschenrechtsverletzungen vor.
In Diskussionen über Ursachen taucht immer wieder der Begriff Nation-Building auf – und die Frage, ob man einem Land überhaupt mit militärischen Mitteln dabei helfen kann. Die Annahme: Hilft man einem Land zu einem funktionierenden Regierungswesen, einer prosperierenden Wirtschaft und einer aktiven Zivilgesellschaft, entwickelt sich dadurch eine eigene Dynamik und ein stabiler Staat entsteht. In den ehemaligen Bürgerkriegsländern Bosnien-Herzegowina und Kroatien habe das funktioniert, erklärt Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel, im
Interview mit Deutschlandfunk Kultur
.
In Afghanistan sei ein Scheitern dieses Ansatzes schon 2005 absehbar gewesen, denn dort sei er "in einer Art und Weise umgesetzt worden, die so dilettantisch war, dass man sich eigentlich wundert, dass es nicht schon früher zu einem Kollaps gekommen ist". Länder wie Afghanistan und Mali seien keine Staaten im herkömmlichen Sinne. In beiden Ländern herrsche Stammesdenken, Korruption, Kleptokratie und schlechte Regierungsführung. In Afghanistan gebe es zudem eine ausgeprägte Ablehnung gegen Einmischung von außen und großes Misstrauen gegen einen Zentralstaat. Für viele Afghanen würde "eine zentrale Staatlichkeit bedeuten, dass man unterdrückt wird".
Die Friedensforscherin Almut Wieland-Karimi vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze mahnte hingegen im Dlf
, man könne noch gar nicht genau abschätzen, ob der Einsatz in Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren völlig umsonst gewesen sei. In der Zeit sei sehr viel in Afghanistan geschehen. Millionen von Kindern gingen wieder zur Schule. Die Gesundheitsversorgung und der Zugang dazu seien enorm gewachsen. Es gab ein Parlament, es gab Ausschüsse, es gab einen Ansatz von Gewaltenteilung. Ob das jetzt alles kaputt sei mit dem Einmarsch der Taliban in ganz Afghanistan, sei noch nicht klar. Auch die Taliban hätten ein Interesse daran, einen funktionierenden Staat aufzubauen beziehungsweise weiterzuführen. Wenn sie Anerkennung haben wollten, müssten sie auch dafür sorgen, dass die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt werden. Ein sogenanntes Nation-Building sei nie das Ziel des Einsatzes in Afghanistan gewesen. Eine erste Lehre könnte sein, Ziele bescheidener zu definieren, und das unbedingt gemeinsam mit den Zielländern und den Partnern vor Ort.
Jedem Bundeswehrsoldaten, der in Afghanistan stationiert war, sei klar gewesen, dass es einen erheblich breiteren Zeithorizont hätte geben müssen, um das Land wirklich zu stabilisieren, hob
Johannes Clair, Mitglied im Bund deutscher Einsatz-Veteranen, im Deutschlandfunk
hervor: eher 20 bis 50 Jahre anstelle von 10 bis 15. Johannes Clair war als Fallschirmjäger im Einsatz in Afghanistan. Probleme des Landes wie die grassierende Korruption seien nie angegangen worden, führte der Veteran aus. Gerade in Zeiten des Wahlkampfs sei in der Politik im Hinblick auf den Afghanistan-Einsatz viel beschönigt worden, der Gesamtzusammenhang sei dabei in den Hintergrund gerückt.
Der Misserfolg habe auch an der Halbherzigkeit des Bemühens gelegen, sagt der Politikwissenschaftler Krause. Nach dem Scheitern ziviler Hilfen seien alle Versuche einer militärischen Lösung gescheitert, "weil auch keiner bereit war, die dafür nötigen Kräfte bereitzustellen". Krause meint: "Wenn man wirklich Afghanistan hätte stabilisieren wollen, hätte man mindestens 1,5 Millionen Soldaten dort stationieren müssen."
In eine ähnliche Richtung geht die Kritik des grünen Außenpolitikers Cem Özdemir. Er sieht erste Fehler schon unter dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush, der kurz nach dem Einmarsch in Afghanistan einen weiteren Kriegsschauplatz im Irak eröffnete. In Afghanistan einzumarschieren, sei zwar richtig gewesen. "Wir haben aber beides gemacht und beides halb gemacht, und das Ergebnis kann man jetzt studieren."
Die afghanische Armee hätte zudem im Kampf gegen die Taliban ohne die Luftunterstützung der USA keine Chance gehabt, "denn man weiß, die afghanische Armee ist ausgebildet nach dem Vorbild der USA. Sie braucht die Luftunterstützung. Die gab es nicht mehr."
Die Bundesregierung steht in der Kritik, wie viele andere Regierungen das Tempo des Taliban-Vormarsches unterschätzt zu haben. "Es gab die Stimmen vor Ort, man hätte nur zuhören müssen", sagte der grüne Oppositionspolitiker Cem Özdemir im Dlf. Auch über den Stellenwert der Außenpolitik müsse geredet werden. "Und was der BND die letzten Jahre und Monate gemacht hat, kann man sich sicherlich auch fragen." Eine aufzuarbeitende Frage ist, ob die Geheimdienste mehr wussten und etwaige Erkenntnisse rechtzeitig weitergaben.
Diskutiert wird auch, ob das westafrikanische Mali für die Bundeswehr ein "zweites Afghanistan" wird. Dort nimmt die Bundeswehr an der UN-Stabilisierungsmission MINUSMA in der umkämpften Sahelzone teil und hat momentan die Leitung der EU-Ausbildungsmission EUTM im stabileren Süden des Landes innen. Auch dort zeigt sich die Bevölkerung nach fast zehn Jahren der Militärpräsenz müde. Und trotz der vielen tausend ausländischen Soldaten verschlechtere sich die Lage eher noch, berichtet der Nordwestafrika-Korrespondent Sebastian Felser. In der Sahelzone haben die Menschen nicht nur mit Dürre und Bevölkerungswachstum zu kämpfen, sondern leiden auch unter gewaltbereiten Separatisten, islamistischen Terroristen und Kriminellen, die schnelles Geld machen wollen.
Das aktuelle Einsatzkonzept stabilisiere das Land nicht, beobachtet Felser. Wichtig sei zum Bespiel, dass die ausgebildeten malischen Soldaten Kampferfahrung sammelten, damit sie bereit für ihre künftige Schutzaufgabe seien. Anschließend brauche es einen schrittweisen Abzug, ähnlich wie in Afghanistan, bei dem die Sicherheitskräfte ebenso schrittweise an ihre neue Verantwortung für die Sicherheit im Land gewöhnt würden. Zudem sollte die Bundeswehr ihre Praxis aufgeben, die Ausbilder regelmäßig zu wechseln, findet Felser, denn in der Ausbildung müsse man "seine Schäflein einfach kennen." Das sieht auch Thomas Schiller von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bamako so. Auch er kritisiert mangelnde Beständigkeit in der Ausbildung.
Der CDU-Außenpolitiker
Roderich Kiesewetter fordert
, Einsätze der Bundeswehr künftig stärker von den eigenen Interessen Deutschlands abhängig zu machen - "und nicht rein aus Solidarität", sagte er im Dlf. Vor dem Einsatz in Afghanistan habe es keine Interessenanalyse gegeben, ob man sich dort wirklich engagieren müsse. Die Bundeswehr habe sich beteiligt, weil die Anschläge des 11.September 2001 in Hamburg geplant wurden und "wir uns natürlich auf die Seite der Amerikaner gestellt haben". Auch beim laufenden Bundeswehrmandat für Mali werde zu wenig darüber beraten, was die eigenen deutschen Interessen dort seien und an welchen Kriterien man den Erfolg messe, kritisierte der Obmann der Union im Auswärtigen Ausschuss. Zudem sei man auch dort nicht in der Lage, die mehr als 1.000 Soldaten kurzfristig auszufliegen. Auch für die Ortskräfte in Mali habe man kein Konzept, erklärte Kiesewetter. Der Bundestag müsse zudem sehr klar einforden, Einsätze künftig jährlich zu evaluieren.
Aktuelle Auslandseinsätze der Bundeswehr
- NATO-Friedenssicherungsmission KFOR im Kosovo – rund 80 Soldatinnen und Soldaten
- Anti-IS-Einatz in Jordanien, dem Irak und im Luftraum über Syrien – bis zu 500 Soldatinnen und Soldaten
- NATO-Seeraumüberwachung auf dem Mittelmehr – temporäre Beteiligung der Bundeswehr mit Booten und Schiffen
- EU-Truppenausbildung EUTM und UN-Stabilisierungsmission MINUSMA in Mali – insgesamt bis zu 1.700 Soldatinnen und Soldaten
- UNINFIL-Friedenssicherung und Marine-Ausbildung im Libanon – 300 Soldatinnen und Soldaten
- Anti-Piraterie-Mission Naval Force Somalia der EU am Horn von Afrika – 300 Soldatinnen und Soldaten
- Friedenssicherung UNMISS in Südsudan und Region – bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten
- EU-Mission Irini auf dem Mittelmehr gegen Waffenschmuggel nach Libyen – bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten
- UN-Mission zur Vorbereitung eines Referendums über den Status der Westsahara MINURSO - bis zu vier Militärbeobachterinnen und -beobachter