Diskussion um Durchseuchung und Quarantäne
Die Situation von Kindern unter zwölf Jahren im Corona-Herbst

Mit dem Ferienende in vielen Bundesländern ist das Coronavirus in den Schulen angekommen. Doch bei steigenden Inzidenzen sind Schulschließungen dieses Mal keine Option. Nun werden die Quarantäneregeln bundesweit vereinheitlicht - darauf haben sich die Gesundheitsminister der Länder geeinigt. Ein Überblick.

    Vier bunte Schulranzen stehen nebeneinander auf einer Bank.
    Erkrankt ein Kita- oder Schulkind, sollen künftig nicht mehr alle Mitschüler in Quarantäne gehen müssen - so der Beschluss der Länder für die Gesundheitsämter. (picture alliance/dpa | Bernd Thissen)
    Wechselunterricht, Schul- und Kitaschließung, Quarantäne - Kinder haben während der Corona-Pandemie viel zurückgesteckt. Sie haben dadurch andere, die Erwachsenen geschützt - mit negativen Auswirkungen nicht nur auf den Lernerfolg sondern auch auf die physische und psychische Gesundheit. Mit Beginn der Impfungen und steigender Impfquote ist sich der Großteil der Eltern, Wissenschaft und Politik nun einig: Der Präsenzunterricht soll aufrechterhalten werden, die Kitas offen bleiben. Nur über das Wie gibt es Diskussionen. Soll jede Infektion um jeden Preis vermieden werden? Oder kann man Infektionen auch akzeptieren, weil das Risiko für Kinder geringer ist?

    Wie gefährlich ist das Coronavirus für Kinder?
    Die vierte Welle erreicht vor allem diejenigen, die noch nicht geimpft sind - und damit auch Kinder unter zwölf Jahren. Laut dem Wochenbericht des Robert Koch-Instituts (Stand: 26.8.2021) liegt aktuell die Inzidenz in der Gruppe der 10- bis 14-Jährigen am höchsten und steigt dort auch am schnellsten. Daher kommen aktuell auch wieder mehr junge Patienten in die Krankenhäuser.
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    Kinder müssen aber nur selten auf der Intensivstation behandelt werden. Schulschließungen dürfen daher nur die allerletzte Maßnahme in der Pandemiebekämpfung sein, erklärt Jörg Dötsch, Chef der Fachgesellschaft für Kindermedizin im Dlf. "Jedes Kind, das ins Krankenhaus muss, das ist nicht schön. Aber das heißt nicht im Rückschluss, dass die Situation so gefährlich ist, dass wir den Kindern den Schulbesuch verwehren dürfen." Denn Kinder leiden darunter, wenn sie nicht zur Schule gehen und von Gleichaltrigen isoliert sind, zeigen mehrere Studien. Dötsch appelliert an die Erwachsenen, sich impfen zu lassen, um die Kinder zu schützen. Er rät zur Vorsicht auf der einen Seite und Vermeidung von Panik auf der anderen Seite.
    SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte im Dlf allerdings vor den möglichen langfristigen Schäden: "Das ist ja eine Erkrankung, die dann das Kind im Wachstum trifft, und es gibt Viruserkrankungen, die erst nach Jahren noch mal, wenn man so will, eine zweite Krankheitswelle zeigen. Das könnte auch bei SARS-CoV der Fall sein. Das kann niemand ausschließen."
    Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD
    Lauterbach (SDP): "Wir laufen auf eine Durchseuchung der Kinder zu"
    Immer mehr Schülerinnen und Schüler infizieren sich mit dem Coronavirus. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt deshalb davor, die Maskenpflicht in Schulen abzuschaffen. Sein Vorschlag für den Fall einer Infektion: Kurzquarantäne für die ganze Klasse.
    Die Datenlage zu Long-Covid bei Kindern ist allerdings noch sehr dünn. Ein Problem könnte PIMS darstellen, diese Entzündungsreaktion in vielen Organen lässt sich allerdings meist gut behandeln. Generell führt Corona bei Kindern deutlich seltener zu Problemen als bei Erwachsenen. Doch wenn die Zahlen steigen, treten auch seltene Symptome häufiger auf.
    In den USA warnen Kinderkliniken, dass sie immer mehr junge Covid-Patienten versorgen müssen - im August 2021 über 80.000. Das Problem ist in den Staaten mit niedriger Impfquote am größten. In den USA haben Kinder jedoch häufiger Risikofaktoren wie hohes Übergewicht. Außerdem ist der Zugang zum Gesundheitssystem nicht immer einfach, von daher sind dort die Folgen von Corona dramatischer als in Deutschland.
    Welche Schutzmaßnahmen gibt es für unter 12-Jährige?
    Um Kitas und Schulen offen zu halten, gibt es neben den bekannten Hygieneregeln unterschiedliche Maßnahmen: Kohortenregelung in den Innenräumen, regelmäßige Tests, Masken, Stoßlüften oder mobile Luftfilter. Noch fehlen letztere allerdings an den meisten Schulen. Die Bundesregierung hat dazu im Juli ein Förderpaket in Höhe von 200 Millionen Euro auf den Weg gebracht.
    Ein Gerät zur Luftfilterung steht in der Realschule am Hemberg/NRW in einem Klassenraum.
    Warum es so wenige Luftfilter in Klassenzimmern gibt
    In vielen Bundesländern hat die Schule wieder begonnen. Trotz der sich ausbreitenden Delta-Variante findet Regelunterricht statt. Dabei sind noch immer kaum Klassenräume mit Luftreinigungsgeräten ausgerüstet.
    Wie wichtig das Maskentragen im Klassenzimmer vor allem bei den Lehrenden ist, zeigt ein Fall aus den USA, bei dem ein unmaskierter Lehrer die Hälfte seiner Grundschulklasse infiziert hat.
    Junge Kinder stecken sich vor allem bei Erwachsenen an und nicht umgekehrt. Entscheidend und der beste Schutz für die Kleinsten, die sich noch nicht impfen lassen können, bleibt damit die Corona-Impfung von Lehrpersonal, Erziehenden und Eltern.
    Auch eine Impfung für Kinder ab fünf Jahren rückt mehr und mehr in den Blick: Biontech/Pfizer plant Ende September einen Antrag in den USA für die Impfung ab fünf Jahren, eine Zulassung könnte dann im Oktober oder November kommen, mit etwas Verzögerung dann auch in Europa.
    Niedersachsen, Hannover: Ein Kinderarzt impft ein Kind mit einem 6-fach-Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie, Tetanus (Wundstarrkrampf), Kinderlähmung (Polio), Keuchhusten (Pertussis), Haemophilus influenzae Typ b (Hib) und Hepatitis B.
    Sollten Eltern ihre Kinder impfen lassen?
    Die Gesundheitsminister wollen auch Zwölf- bis 17-Jährigen ein Impfangebot unterbreiten. Die Ständige Impfkommission empfiehlt inzwischen ebenfalls eine Corona-Impfung für dieses Alter. Auch die unter Zwölfjährigen rücken in den Blick. Eine Übersicht.
    Wie sinnvoll ist die Quarantäneregelung für unter 12-Jährige?
    Noch sind nicht in allen Bundesländern die Ferien beendet und schon sitzen bundesweit zehntausende Schulkinder in Quarantäne. Je höher die Inzidenzzahlen steigen, desto mehr Kinder müssen wieder zu Hause bleiben. Bis zum 6. September waren die Quarantäneregeln von Bundesland zu Bundesland und von Gesundheitsamt zu Gesundheitsamt unterschiedlich: Einige schickten ganze Klassen in Quarantäne, andere nur einzelne Schüler, etwa die nächsten Sitznachbarn eines positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Mitschülers.
    Ein Luftfilter steht in einem Klassenraum an der Grundschule Neubiberg.
    Kommentar: Die Schulen bitte nicht allein lassen
    Zu Beginn des neuen Schuljahrs unter Pandemiebedingungen ist vieles unklar und bundesweit uneinheitlich, kommentiert Dlf-Bildungsredakteurin Kate Maleike. Sie fordert für Schulen überall im Land klare Leitlinien, damit sie rechtssicher agieren können.
    In Berlin hatten Amtsärzte vorgeschlagen, dass nur noch diejenigen in Quarantäne sollen, die positiv getestet wurden - ohne weitere Kontaktverfolgung. Ein ähnliches Modell wurde in Köln überlegt. Hauptargument dabei: Es könnte sich zeigen, dass es in der Schule kaum zu einer Weiterverbreitung des Virus kommt. Kritikerinnen und Kritiker eines solchen Vorgehens, wie beispielsweise Karl Lauterbach, sprechen dagegen von Fahrlässigkeit und einer Gefahr der Durchseuchung.
    Bundesweiter Kompromiss: Kurzquarantäne von fünf Tagen
    Die Gesundheitsminister der Bundesländer einigten sich am 6. September auf eine bundesweit einheitliche Quarantäneregel für Schulen. Der Kompromiss sieht vor, dass nur noch die direkten Sitznachbarn eines nachweislich Infizierten in Quarantäne müssen. Nach fünf Tagen soll es die Möglichkeit geben, sich "freizutesten". Für dieses Vorgehen sprach sich eine Mehrheit der Gesundheitsminister aus, zwei Bundesländer enthielten sich.
    Voraussetzung für ein solches Vorgehen ist jedoch, dass es Lüftungs-, Masken- und Testkonzepte in den Schulen gibt. Dies solle als "Leitplanken" an die Gesundheitsämter weitergegeben werden. Ziel sei guter Infektionsschutz und so viel Präsenzunterricht wie immer möglich.
    Aus der Wissenschaft hatte es Empfehlungen für diese Kurzquarantäne gegeben, denn das Virus wird anscheinend nur wenige Tage nach der Infektion bzw. nach Symptombeginn weitergegeben: Die Dauer des lebensfähigen Virus ist laut einer im "The Lancet" veröffentlichten Studie nur kurzlebig. SARS-CoV-2-Titer in den oberen Atemwegen erreichen demnach ihren Höhepunkt in der ersten Krankheitswoche, erklärt auch der Virologe Christian Drosten. "Diese Krankheit wird in der frühesten Phase der Infektion vor allem übertragen."
    Drosten hatte ebenfalls vorgeschlagen, die Quarantäne bei Lerngruppen auf fünf Tage zu begrenzen. So könnten die meisten Übertragungen verhindert werden. Im Dlf sagte Drosten: "Man muss in irgendeiner Art und Weise jetzt einen Schulbetrieb hinkriegen, der nicht dazu führt, dass es zu einem exponentiellen Anstieg der Infektionstätigkeit in dieser nicht geschützten Altersgruppe führt, und das ist natürlich eine Kombination von Maßnahmen, die man da erwägen muss und tatsächlich jetzt auch möglichst bald umsetzen muss."
    Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité.
    Virologe Drosten: "Mit dieser Impfquote können wir nicht in den Herbst gehen“
    Der Virologe Christian Drosten rechnet fest damit, dass im Herbst wieder gesamtgesellschaftliche Kontaktbeschränkungen nötig werden. Die Impfquote sei zu niedrig, sagte er im Dlf.
    Auch die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft GEW befürwortet den Kompromiss: "Ein kompletter Verzicht auf die Quarantäne würde bedeuten, dass wir die Durchinfektion, also die Durchseuchung von Kindern in Kauf nehmen. Und das ohne gesellschaftliche Diskussion zu führen, halten wir für völlig unethisch", sagte der GEW-Vorsitzende Tom Erdmann im Dlf.
    Nicht jede Infektion um jeden Preis verhindern, aber Durchseuchung vermeiden
    Andere argumentieren dagegen, dass Kinder in der Regel kaum erkranken und dass bei Kindern auch andere Infektionen hingenommen würden. So starben in der Grippesaison 2018/19 neun Kinder unter 14 Jahren.
    Dazu schreiben etwa der Epidemiologe Gerard Krause, der Virologe Florian Klein und weitere Forscher in der aktuellen "Zeit": "Es ist nicht sinnvoll, jede Infektion um jeden Preis zu verhindern". Sie schlagen vor, dass in Schulen, wo engmaschige PCR-Testungen gemacht werden, Quarantäne ganz entfallen könnte. Doch auch diese Forscher wollen Corona nicht einfach durch die Kitas und Schulen laufen lassen. Sie plädieren für die konsequente Umsetzung der Schutzmaßnahmen und vor allem für die Impfung bei den Erwachsenen und Jugendlichen.
    Coronavirus
    Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
    Quellen: Volkart Wildermuth, Christina Westerhaus, GEW, og, dpa