Dirk Müller: Was hat den französischen Präsidenten geritten mit seiner Aussage von der hirntoten NATO? Weil das Bündnis tatsächlich so gut wie am Ende ist? Das Beispiel NATO-Partner Türkei und die Intervention in Syrien dabei im Hinterkopf. Das Beispiel Donald Trump und die anhaltende Kritik an der fehlenden Bereitschaft vieler Europäer, ihren Beitragszusagen nachzukommen, die fehlende Bereitschaft zur finanziellen Solidarität, wie das der amerikanische Präsident sagt, vor allem auch der Deutschen.
Jetzt kommt eine Antwort der NATO selbst von Jens Stoltenberg, Generalsekretär des Bündnisses. Er schlägt eine Weltrauminitiative vor. Viele Dinge, die zu klären sind bei den Gesprächen der Außenminister in Brüssel.
Eine hirntote NATO à la Macron, eine Türkei, die gegen alle NATO-Grundsätze verstößt, Mitgliedsstaaten, die gar nicht daran denken, ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Bündnis nachzukommen, und eine US-Regierung, die immer mehr von der westlichen Allianz abrückt. Vergessen wir nicht den Militäreinsatz in Afghanistan, der bislang nichts gebracht hat und immer noch läuft.
Unser Thema mit dem Politikwissenschaftler Matthias Dembinski von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Guten Tag!
Matthias Dembinski: Hallo! Guten Tag.
Müller: Macht die NATO sich selbst überflüssig?
Dembinski: Wenn man Trump folgt und wenn man Macron folgt, kann man fast den Eindruck gewinnen. Aber wenn man schaut, was tatsächlich passiert, was innerhalb der NATO passiert, kriegt man einen ganz anderen Eindruck. Die USA beispielsweise verabschieden sich militärisch keineswegs vom europäischen Kontinent.
Im Gegenteil: Im Zuge der Initiative, die östlichen Partnerstaaten rückzuversichern, sind die USA vorneweg, bringen wieder Material und Soldaten zurück. Von daher klafft ein bisschen eine Lücke zwischen Rhetorik und tatsächlichen Entwicklungen.
"Wirkliche Bewegung ist auch dort nicht zu erkennen"
Müller: Ist das intelligente Politik, ein bisschen die Waffen aufzurüsten, ein bisschen zu verlagern, die osteuropäischen Staaten zu verstärken? Ist das Politik?
Dembinski: Das ist sicherlich nicht alleine Politik. Das will ich überhaupt nicht andeuten. In einer bestimmten historischen Phase war das vielleicht ein Element, um mit der neuen Situation, die Russland 2014 geschaffen hat, umzugehen. Aber das Ganze muss natürlich begleitet werden und sollte begleitet werden und eingebettet werden in Gesprächsangebote gegenüber Russland.
Müller: NATO-Russland-Rat ist da ein Beispiel, wenn wir bei dem Thema bleiben. Kommt das voran? Ist da in irgendeiner Form eine Perspektive absehbar?
Dembinski: Der NATO-Russland-Rat trifft sich wieder. Er trifft sich allerdings nur auf bestimmten Ebenen. Früher waren die Gespräche sehr, sehr viel intensiver und deckten auch sehr viel mehr Felder ab. Das ist alles sehr eingeschränkt und wirkliche Bewegung ist auch dort nicht zu erkennen.
Müller: Weil das Treffen auf der unteren Ebene sind, ohne dass die Chefs dabei sind. Ist das ein Problem?
Dembinski: Ich glaube, es ist eher ein Problem, dass die untere Ebene zunehmend nicht mehr tagt und ausgeschlossen ist, dass die vielen Arbeitsgruppen, die unterhalb der Botschafterebene dort mal existierten, im Grunde trockengelegt worden sind. Aber wie gesagt, das ist möglicherweise auch nur ein Symptom und an dieser Stelle auch gar nicht zu korrigieren.
Was wir wahrscheinlich brauchen, ist irgendwie ein Neustart im Verhältnis zu Russland, der sich ja möglicherweise jetzt mit dem Treffen im Normandie-Format - dem ersten seit drei oder vier Jahren - wieder abzeichnet.
"Macron wollte zeigen, dass es Probleme gibt"
Müller: Nun gehen viele davon aus, dass der französische Präsident die NATO auch ganz gut kennt, durch eigene Erfahrungen und Recherchen und durch seine Berater. Was meinte er denn mit dieser hirntoten NATO?
Dembinski: Mein Leseeindruck ist, dass es ihm gar nicht darum geht, die NATO zu demontieren, sondern dass es ihm darum ging aufzurütteln, noch einmal zu zeigen, dass es eine ganze Reihe von Problemen und Defiziten gibt, dass Europa viel stärker Verantwortung übernehmen muss, dass aber auch die USA wieder sich viel stärker auf Konsultationen mit Europa einlassen muss.
Sowohl in der Iran-Krise oder bei der Frage des Atomabkommens mit dem Iran als auch vor allen Dingen jetzt bei Syrien war das einfach unilaterale, nicht koordinierte amerikanische Politik mit Konsequenzen vor allen Dingen für Europa, und dass das auf Dauer nicht die Geschäftsgrundlage der NATO sein kann, ist eigentlich klar.
Müller: Aber es geht ja um diesen europäischen Pfeiler, den er stärken will. Das ist seit Jahrzehnten auch in der Diskussion, europäische Verteidigungsinitiative, verschiedene Initiativen, die es da gegeben hat. Vielleicht können wir uns alle im Detail gar nicht mehr richtig daran erinnern. Wie kann Macron mehr Europa fordern, wo Europa in allen politischen Feldern so zerstritten ist wie lange nicht mehr?
Dembinski: Das ist, die 100.000-Dollar-Frage zu beantworten. Ich glaube, einfache Lösungen gibt es da nicht. Macron selber hat ja mit seiner europäischen Interventionsinitiative versucht, einen Hebel anzusetzen, nämlich erst einmal eine Art von europäischer Sicherheitskultur überhaupt zu entwickeln, damit man denn vielleicht mal mit einer Stimme sprechen kann.
Müller: Was wir seit den 80er-Jahren versuchen und auch so gelernt haben.
Dembinski: Ja, genau. Sicherlich! Ich meine, sowohl die Europäische Union als auch der europäische Pfeiler innerhalb der NATO ist eigentlich in den letzten Jahren heterogener geworden durch verschiedenste Entwicklungen, und die Frage ist, wie man das wieder einfängt, wie man hier Gemeinsamkeiten herbekommt. Das ist schwierig.
Ich würde sagen, von dem, was wir aus wissenschaftlicher Perspektive da kennen, gibt es im Grunde zwei Strategien. Das eine wären Mehrheitsentscheidungen und das andere wäre eine viel stärkere Delegation von Kompetenzen an supranationale Organe, etwa den Generalsekretär der NATO oder in Europa an die Europäische Kommission.
"In Europa haben wir immer noch drei Systeme am Start"
Müller: Das wird es ja vermutlich niemals geben. Das sehen Sie auch so?
Dembinski: Ich bin mir nicht sicher. Was die Europäische Union angeht, kann ich mir schon vorstellen, dass da Bewegung drin ist, dass zumindest Frau von der Leyen mit dem Anspruch antritt, die Kommission strategischer zu orientieren, geostrategischer zu orientieren, dass eine ganze Reihe von Reformbemühungen unterwegs sind, Europa als sowohl eigenständig handlungsfähiger Akteur als auch dann als zweiten Pfeiler innerhalb der NATO zu stärken.
Müller: Aber wie passt das zusammen mit einer Bundeswehr, wo Kampfstiefel fehlen, wo Panzer nicht fahren und Schiffe nicht fahren und Kampfjets nicht abheben können?
Dembinski: Das ist sicherlich ein Problem. Die Frage ist, ob das das Entscheidende ist. Einmal gibt es im Rahmen der Europäischen Union, aber auch im Rahmen der NATO eine Reihe von Strategien, wie man Geld, was ja da ist, auch nach wie vor noch, wie man das smarter ausgeben kann, wie man die Duplizierung, die wir in Europa haben, die fehlenden Skaleneffekte, die sehr, sehr vielen Waffensysteme, die parallel nebeneinander entwickelt werden und ganz viel Geld kosten, wie man das alles effizienter machen kann.
Müller: Was meinen Sie mit Skaleneffekten, Herr Dembinski? Das heißt, die Waffen gemeinsam nutzen? Das heißt, die Deutschen fliegen demnächst mit französischen Kampfjets?
Dembinski: Zunächst einmal geht es darum, erst mal sich auf einen Kampfjet zu einigen. In Europa haben wir, allein was Kampfjets angeht, immer noch drei Systeme am Start. Was gepanzerte Landfahrzeuge angeht, gibt es in Europa viel mehr Typen beispielsweise als in den USA. Wenn man das vereinheitlichen könnte, wenn man hier ein bisschen mehr Harmonisierung rein bekäme, dann würde man schon mal in diesem Bereich viel Geld sparen.
Müller: Das wurde aber auch schon in den 80er- und 90er-Jahren diskutiert, weil letztendlich (meine Frage) die nationalen Interessen und die nationalen Wirtschaftsinteressen, die Industrieinteressen in Frankreich, in Deutschland doch wichtiger sind als das Gemeinsame?
Dembinski: Das ist vollkommen richtig. Da wird man auch gar nicht rauskommen. Europa ist kein Bundesstaat. Europa ist ein Staatenverbund. Die Staaten haben eigene Interessen. Aber wir haben jetzt mit dem europäischen Verteidigungsfonds, mit der ständigen strukturierten Zusammenarbeit immerhin Instrumente an der Hand, die hier ein bisschen mehr Effektivität reinbringen könnten. Inwieweit sie dann von den Staaten tatsächlich genutzt werden, das gilt es natürlich abzuwarten.
"Die Türkei ist ein riesengroßes Problem für uns"
Müller: Haben wir auch Instrumente, den NATO-Partner Türkei als NATO in die Schranken zu weisen?
Dembinski: Die Türkei ist ein riesengroßes Problem für uns. Aber um das einzuordnen, ist auch hier vielleicht ein Blick zurück in die Vergangenheit immer ganz sinnvoll. Die Türkei war immer ein besonderes NATO-Mitglied. In den 80er-Jahren standen zwei NATO-Mitglieder, Griechenland und die Türkei, kurz vor einem Krieg.
Ich will nicht sagen, dass der Blick in die Vergangenheit die Gegenwart besonders schöner macht, aber natürlich müssen wir uns heute was überlegen, wie wir mit der Türkei umgehen.
Nur wie gesagt: Dieses Problem ist im Grunde nicht neu und die Steuerungsinstrumente, die früher ansatzweise funktioniert haben, vielleicht können wir auf die wieder zurückgreifen, sprich zunächst einmal zu versuchen, auch mit den türkischen Vertretern zu reden.
Allerdings auch hier bin ich skeptisch. Die Konfliktpunkte sind mittlerweile so groß zwischen dem Rest der NATO und der Türkei, zwischen der Europäischen Union und der Türkei, und die Fronten auch so tief, dass es wirklich schwierig ist, die Türkei zu einem Neustart oder zu einem Umdenken zu motivieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.