Thekla Jahn: Latein in der Schule - es gab einen Boom kurz nach der Jahrtausendwende – aber der hielt nur wenige Jahre – mittlerweile sinken bundesweit die Zahlen der Schüler, die Latein pauken, über ACI- und NCI-Konstruktionen grübeln, sich mit Gerundium und Gerundivum herumschlagen und vielerlei grammatikalischer Notwendigkeiten mehr. "Non scholae sed vitae discimus" – nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Braucht es da also eine tote Sprache? Bringt es nicht mehr, lebendige Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch zu lernen?
Eine Studie der FU Berlin hat sich mit "des Kaisers alten Kleidern" befasst: "Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von Lateinkenntnissen", so der Titel. Einer der Autoren ist Prof. Jürgen Gerhards vom Institut für Soziologie der FU – und die Frage geht an ihn: Wie ist der Befund, braucht es noch Latein?
Jürgen Gerhards: Nein, wir würden sagen, es macht wenig Sinn, dass die Schüler heute noch Latein lernen. Warum? Die wichtigste Funktion des Erwerbs einer Fremdsprache ist, mit anderen Menschen, die nicht die eigene Muttersprache sprechen, die in anderen Ländern leben oder bei uns zu Gast sind, sich verständigen zu können. Das wird gerade im Kontext von Globalisierungsprozessen immer bedeutsamer, und gerade die modernen Sprachen Englisch, Französisch und so weiter und Spanisch gewinnen an Bedeutung, könnte man sagen.
Jahn: Das heißt, Sie sagen, es ist Zeitverschwendung, Latein zu lernen?
Gerhards: Ja, wenn man davon ausgeht, dass Lernzeit eine begrenzte Ressource ist, muss man sich überlegen, in was man gewisser Weise diese Ressource, diese Zeit des Spracherwerbs investiert, und da Latein in gewisser Weise eine tote Sprache ist, die nicht mehr gesprochen wird, fällt die erste Funktion des Fremdsprachenerwerbs von Latein im Grunde weg.
Lateinlernen "eine Menge Sekundärfunktionen" zugeschrieben
Jahn: Jetzt gibt es aber Lateiner, die sagen, Geduld ist gefragt, wenn man Latein lernt, deutlich mehr als bei lebendigen Sprachen, um zum Beispiel im Lateinischen die komplizierten Satzkonstruktionen zu erfassen und korrekt zu übersetzen, man muss den ganzen Satz überblicken, einzelne Bestandteile in korrekte Beziehungen setzen, und möglicherweise kommt dann noch die metaphorische Bedeutungsebene dazu. Also da schult sich doch das logische Analyseverständnis.
Gerhards: In der Tat, es werden dem Erwerb des Lateins eine Menge Funktionen – wir nennen das Sekundärfunktionen – zugeschrieben wie Förderung des logischen Denkens, wie Verständnis und Grammatik, auch der deutschen Grammatik. Also wenn ich Latein gelernt habe, lerne ich auch sozusagen die deutsche Grammatik als Nebenprodukt in gewisser Weise, oder eine dritte Funktion, die Latein zugeschrieben wird, ist, dass der Erwerb anderer Fremdsprachen, vor allen Dingen romanischer Sprachen, durch den Erwerb von Latein erleichtert wird. Nun zeigt der Forschungsstand, dass dem nicht so ist.
Jetzt gibt es aber eine kleine Wende in der Argumentation, zu sagen, auch selbst wenn man nachweisen kann, dass diese Sekundärfunktionen von Latein nicht greifen, kann es ja sein, dass wenn die Leute glauben, dass der Erwerb von Latein wirksam ist, dass das eine Wirklichkeit sui generis ist und deswegen auch wirkt. Das genau haben wir versucht zu überprüfen. Wir haben eine Umfrage unter Eltern von Achtklässlern durchgeführt und haben die ganzen Funktionen, die dem Latein zugeschrieben werden, wie die Förderung des logischen Denkens, die Förderung von Deutschkenntnissen oder die Verbesserung der Fähigkeit, andere Sprachen zu lernen. Wir haben die Eltern gefragt, wie sie Latein im Vergleich zu modernen Fremdsprachen einschätzen.
Der Befund ist, dass in der Tat die Mehrzahl der Bürger, der Eltern glaubt, dass Latein genau diese Funktionen hat, obwohl das objektiv betrachtet diese Funktionen gar nicht erfüllt. Also deswegen haben wir für den Titel unseres Aufsatzes auch den Titel gewählt "Des Kaisers alte Kleider". Das ist eine Anlehnung an das Andersen-Märchen, "Des Kaisers neue Kleider", wo zwei pfiffige Schneider dem Kaiser einreden, dass er ein prunkvolles Gewand trägt, aber faktisch gar kein Gewand anhat, gewisser Weise unbekleidet durch sein Kleinstädtchen zieht.
Jahn: Das heißt, die Lateiner, sagen Sie, können nicht mehr als jemand, der Französisch oder Spanisch oder eine andere lebendige Sprache lernt. Sie sagen, das haben Sie objektiv festgestellt. Können Sie das denn objektiv feststellen?
Gerhards: Also dieser Teil unserer Studie ist nicht der, den wir selber durchgeführt haben, sondern richten wir uns entlang des Forschungsstandes, und da gibt es wirklich sehr, sehr gute Studien, nach meinem Dafürhalten, die besten sind von Elsbeth Stern und Ludwig Haag, die sehr genau versucht haben, dieses zu messen. Wie macht man das? Zum Zeitpunkt t1 misst man gewisser Weise bei den Schülern, also zum Zeitpunkt, wie sind deren Grammatikkenntnisse, wie ist deren logisches Denken ausgeprägt und so weiter, und dann vergleicht man die Gruppen – der eine Zweig erlernt Latein, die anderen lernen Englisch oder Französisch –, und nach ein paar Jahren vergleicht man deren Fähigkeiten, logisch zu denken, miteinander, deren Fähigkeit, Grammatik zu verstehen, miteinander, und was man findet, ist: Es gibt keinen Unterschied.
Man könnte in derselben Zeit auch Spanisch lernen
Jahn: Haben Sie, Herr Professor Gerhards, selber mal Latein gehabt?
Gerhards: Ja, ich habe großes Latinum. Ich muss gestehen, mir hat es auch Spaß gemacht, aber trotzdem ist es desillusionierend, wenn man sieht, dass man sieben Jahre Latein hatte, aber im Grunde hätte man dieselbe Zeit ja auch nutzen können, sein Französisch zu intensivieren oder sein Englisch zu intensivieren oder Spanisch zu lernen.
Jahn: Hat Ihnen Latein nichts gebracht?
Gerhards: Da habe ich eine ambivalente Einschätzung. Wie gesagt, weil ich es gerne gemacht habe, habe ich es mit einer gewissen Befriedigung gemacht, aber das ist ja vielleicht kein pädagogisches Ziel, dass man eine subjektive Befriedigung hat, sondern das Ziel ist ja des Spracherwerbs, dass man mit der Sprache irgendwas anfangen kann, sei es – und das ist die wichtigste Funktion –, sich mit anderen Menschen verständigen zu können, sei es, andere Fähigkeiten wie die eben genannten, logisches Denken und so weiter.
Jahn: Sie sagen immer, das tritt nicht ein. Man schult nicht logisches Denken durch Latein, aber man schult es doch. Die Frage ist doch eigentlich nur, wie viel Zeit wendet man dafür auf, oder?
Gerhards: In der Tat, sobald man Bildung betreibt, investiert man gewisser Weise Zeit, und es ist immer auch eine Abwägungsentscheidung. Ich würde nicht sagen, dass Latein keinen Effekt hat auf das logische Denken oder auf die Grammatikkenntnisse anderer Sprachen. Nur wenn man dem Forschungsstand traut, habe ich dieselben Effekte auch, wenn ich Französisch oder Englisch lerne.
Bewerber mit altsprachlicher Bildung eher eingeladen
Aber es gibt die Fiktion, dass es wirkt. Es gibt in der Soziologie das sogenannte Thomas-Theorem, das ist nach zwei Amerikanern benannt, William und Dorothy Thomas, die haben 1923 einen Aufsatz geschrieben, in dem die Hauptthese lautet, wenn Menschen eine Situation als real interpretieren, dann ist sie real, und so ist es gewisser Weise mit dem Erwerb von Latein. Es ist eine gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit, mit der wir es hier zu tun haben, die als solche gewisser Weise wirksam ist.
Vielleicht noch mal zur Wirksamkeit: Es gibt eine Teilstudie unserer Studie, die ist von Tim Sawert durchgeführt worden, der hat ein sogenanntes natürliches Experiment gemacht. Was hat er gemacht? Er hat fingierte Bewerbungen an Firmen geschickt, in diesen Bewerbungen ist der Lebenslauf aller Bewerber, die er verschickt, konstant, also die haben dieselbe Abiturnote, die haben dieselben Praktika gemacht und so weiter, nur ein Faktor ist verändert, nämlich ob sie in der Schule eine altsprachliche Ausbildung, also Latein oder Altgriechisch hatten, und siehe da, diejenigen, die eine solche Ausbildung hatten im Gymnasium, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, zu Bewerbungsgesprächen eingeladen zu werden. Insofern kann man sagen, in der Tat, diese Fiktion ist wirksam, sie ist auch auf dem Arbeitsmarkt wirksam, obwohl der Scheck gewisser Weise faktisch nicht gedeckt ist.
Jahn: Kommen wir zum Schluss, den man ziehen kann aus Ihrer Studie. Sollte also Latein aus dem Lehrplan verschwinden und damit auch die Chancengleichheit, wenn man weiterdenkt, verbessert werden, weil dann bei keinem mehr stehen könnte in der Bewerbung: Latein, großes Latinum?
Gerhards: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Das ist die freie Wahlentscheidung der Eltern und der Kinder, welches Sprachportfolio sie sich zulegen wollen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist aufzuklären über Folgen und Nebenwirkungen einer bestimmten Sprachwahl, und so würde ich auch die Funktion unserer Studie einschätzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.