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Diversifizierende Drogenkartelle

In Mexiko nimmt der Handel mit Frauen und Kindern erschreckende Ausmaße an. Das organisierte Verbrechen hat entdeckt, dass die Versklavung von Frauen und Kindern viel Geld bringt. Die Drogenkartelle erschließen sich ein neues Geschäftsfeld.

Von Anne-Katrin Mellmann | 12.10.2013
    Kurz vor Sonnenuntergang betritt der Arzt Hector Castillo einen der unzähligen Puffs von Ciudad Juárez: Kein Stunden- eher ein Minutenhotel in Bahnhofstoilettenatmosphäre. Von einem grün gefliesten, in kaltes Neonlicht getauchten Gang, zweigen dicht an dicht fensterlose Kammern ab. Es stinkt süßlich gammelig. Eine alte gebeugte Frau bringt eine Waschschüssel aus einer Kammer und kippt den schaumigen Inhalt in ein dreckiges Becken auf dem Gang. Dort wäscht sich eine junge Zwangsprostituierte Elena Hals und Gesicht.

    Sie kennt und vertraut Castillo, denn der Arzt hilft den Frauen hier: Heilt sie von Geschlechtskrankheiten, macht Krebs- und Aidstests. Auch Geburten hat er in der Absteige schon betreut. Die Babys wurden von den Zuhältern sofort weggebracht. Wohin, weiß auch er nicht. Elena erzählt mit leiernder Stimme, sie sei zufrieden mit ihrer Methadontherapie. Seit zehn Jahren arbeite sie schon hier. Sie ist jetzt 23.

    Draußen auf der Straße erkundigt sich Castillo nach dem Befinden anderer Prostituierter. Auch die bunte Schminke bringt ihre Augen nicht zum Leuchten. Sie sind vernebelt von Drogen.

    Das Zentrum von Ciudad Juárez ist eine heruntergekommene Gegend mit Straßenhändlern, Bars, Kneipen und Puffs. Sex gibt es überall, in allen Varianten, auch mit Kindern: Mitten auf dem Weg bietet ein Mann ein etwa 7-jähriges Mädchen mit zersaustem Haar an. Arzt Hector Castillo, ein sportlicher Typ Anfang 50, mit Jeans, Hemd und Brille, schaut sich das scheinbar unbeteiligt an.

    Interviews sind hier nicht möglich, nur versteckte Aufnahmen, denn wir werden beobachtet: Von den aufmerksamen Zuhältern an jeder Ecke. Den Arzt lassen sie gewähren, denn er erhält den Wert ihrer Ware - die Gesundheit der Frauen und Mädchen. Castillo arbeitet tagsüber in einer Klinik. Um die Prostituierten kümmert er sich in seiner Freizeit, zahlt die Medikamente aus eigener Tasche. Kaum eine arbeite freiwillig hier, erklärt er später im sicheren Auto:

    "Sie bekommen schlechtes Essen, werden gezwungen so Sex zu haben, wie Kunden ihn wünschen - auch in großen Gruppen, auch ohne Kondome. Sie werden als Sklavinnen gehalten. Sie dürfen nicht mal Wasser trinken, wenn ihre "Besitzer" das nicht wollen. Wie sollen sie sich an die Behörden wenden, eine Anzeige machen, wenn sie nicht einmal telefonieren dürfen?"

    Sie dürften nicht raus aus diesem Viertel, würden bedroht und mit Drogen ruhiggestellt. Tausende Sexsklaven gebe es in Ciudad Juárez, schätzt der Arzt Castillo. Das Geschäft ist fest in der Hand des organisierten Verbrechens, das wir in Europa meist nur als Drogenmafia kennen. Korrupte Polizisten sind am Frauen- und Kinderhandel beteiligt und kassieren kräftig ab.

    "Besonders als die Soldaten in der Stadt waren, stieg die Nachfrage extrem. Denn sie haben die Mädchen ausgebeutet: Ihnen das Geld weggenommen und sie zum Sex gezwungen. Und dabei waren die Soldaten doch hier, um uns vor den Auseinandersetzungen der Kartelle zu schützen."

    Die bildhübsche Esmeralda war erst 14, als sie vor vier Jahren im Zentrum entführt wurde - auf dem Weg zur Schule. Ihre Mutter Martha Rincon sitzt am Küchentisch in ihrem kleinen, baufälligen Häuschen in einem der zahllosen Armenviertel von Ciudad Juárez. Sie zeigt Fotos von Esmeralda und erzählt von der Untätigkeit der Behörden. Weil sie nicht halfen, suchte sie mit ihrem Mann auf eigene Faust im Rotlichtbezirk nach der verschwundenen Tochter:

    "Mein Mann hat sich dort reingeschlichen und sogar in den Bars geschlafen, so getan, als sei er betrunken, damit er alles beobachten konnte. Er hat Süßigkeiten verkauft, darum durfte er rein. So konnte er nach Esmeralda suchen. Denn wir hatten Hinweise bekommen, sie sei dort gesehen worden. Wir suchen immer noch nach ihr. Vier Jahre sind eine lange Zeit - sie hat sich bestimmt sehr verändert. Wenn wir den Frauen in den Bars Fotos zeigen, kommt immer die Antwort: Nein, kenne ich nicht. Auf der Straße sehe ich oft Mädchen, die ihr ähneln. Wie ich wünschte, sie wieder zu sehen. Nur Gott weiß, wann dieses Leiden endet."

    Sie hofft, dass ihre Tochter überhaupt noch am Leben ist.
    Frauen- und Kinderhandel – dieses Geschäft blüht in ganz Mexiko - nicht nur in der heißen Grenzstadt Ciudad Juárez. Die Zig-Tausende Opfer kommen fast immer aus einfachen Verhältnissen oder sind schutzlose Migrantinnen aus Mittelamerika auf dem Weg in die USA.

    Red Mesa de Mujeres, ein Netzwerk von Frauenrechtsorganisationen, dokumentiert die Fälle in Juárez. Eine der Gründerinnen, Cecilia Espinosa, beobachtet einen Anstieg von Zwangsprostitution. Männern mache es nichts aus, dass sich die meisten Frauen nicht freiwillig verkaufen:

    "Das hat mit der patriarchalen, frauenfeindlichen Kultur zu tun, mit einer Kultur, die aus dem Frauenkörper ein Objekt macht und den Missbrauch bagatellisiert. In den Medien, zum Beispiel, taucht immer wieder das Klischee des provokativen Frauenkörpers auf. All das fördert diese illegalen Geschäfte, die sich gegen die Würde des Menschen richten."

    Um diese Würde geht es Doktor Castillo. Wenigstens ein bisschen davon will er den Frauen und Mädchen zurückgeben. Allen möchte er helfen, kann und darf das aber nicht – vor allem nicht den kleinen Kindern. Schon deren Mütter sind meist Prostituierte, gelten als nahezu wertlos. Aber noch viel weniger wert seien die Kinder:

    "In einer Wohngegend hier gibt es ein Haus mit vielen Kindern. Jeden Tag werden sie mit abgeholt und abends zurückgebracht. Ich weiß nicht, ob sie die Kinder zum Betteln schicken oder zum Anschaffen. Die beiden Frauen da kassieren jedenfalls immer Geld für die Kinder. Ich wollte dort arbeiten. Aber sie haben mir mit dem Tod gedroht und darum halte ich mich fern - aus Angst."

    Aber Castillo gibt die Hoffnung nicht auf: Irgendwann will er eine Herberge für solche Kinder eröffnen. Ein Heim, in dem sie sicher vor Menschenhändlern sind, in dem sie spielen und lernen dürfen. Die Stadtverwaltung von Juárez hat gerade angekündigt, ein Refugium für Opfer des Menschenhandels einrichten zu wollen. Eine gute Idee. Aber, solange die Täter nicht verfolgt werden und solange Polizei und Behörden in das organisierte Verbrechen verstrickt sind, würde sich dort niemand sicher fühlen.