"Mit dem Begriff Teilhabe arbeiten wir gar nicht so gerne", sagte die Kunstwissenschaftlerin Sandrine Micossé-Aikins. Es gehe um Gleichstellung - wobei man jenseits der Genderfrage auf sehr wenig Daten zurückgreifen könne. Und um Relevanz, also um die Frage: Für wen ist das, was im Berliner Kulturbetrieb angeboten wird noch relevant? Es sei ja deutlich zu sehen, dass Menschen mit Behinderung oder Menschen, die von Rassismus betroffen seien, als Kulturschaffende in Berlin wenig vorkämen und auch wenig an den Ressourcen teilhätten.
Modellprojekt Berliner Stadtmuseum
Das Stadtmuseum im Humboldt-Forum soll zum Modellprojekt in Sachen Vielfalt werden. Das betrifft das Personal, aber auch die Vielfalt der Perspektiven, die ins Museum geholt werden. Die Agentur "Diversity-Arts-Culture", deren Leiterin Sandrine Micossé-Aikins ist, wurde vom Berliner linken Kultursenator Klaus Lederer gegründet. Sie berät Berliner Kultureinrichtungen wie zum Beispiel das Stadtmuseum und will Künstlerinnen und Künstler stärken, die bislang unterrepräsentiert sind.
"Ich glaube, dass alle es sehen, der Handlungsbedarf wird nur nicht erkannt." Obwohl es in einem Grundsatzpapier der Berliner Stadtregierung heißt: 'Die Berufung der Leitung von Kultureinrichtungen ist die effektivste Steuerungsmaßnahme zur Förderung von Diversität', wurde als neuer Intendant der Volksbühne René Pollesch berufen. Es sei notwendig, die Kriterien zu analysieren, nach denen Stellenbesetzungen vorgenommen werden und sie auch zu ändern, fordert Sandrine Micossé-Aikins im Dlf.
Heute schlössen Zugangsbarrieren bestimmte, auch große Gruppen, für solche Jobs aus. Die Vergabekriterien müssten sich ändern, wenn Diversität kein Feigenblatt sein soll. "Veränderungsprozesse beginnen immer mit einer Bewusstseinsveränderung. So ein Projekt wie unseres kann zumindest der Anfang von etwas sein. Solange es nicht dabei bleibt."
Die barrierefreie Rampe reicht nicht
Als innovativ und divers, auch in Bezug auf sein Publikum, gilt das Berliner Gorki-Theater. "Ich glaube nicht, dass dort jetzt plötzlich Leute aufschlagen, die noch nie ins Theater gegangen sind. Das ist eher eine Frage von Klassismus." Die sogenannten POC, people of colour, also Menschen, die als nicht-weiß gelesen werden im Alltag, sei aber eine durchaus relevante Zielgruppe. Diversität müsse auch auf und hinter der Bühne gelebt werden. Es reiche nicht, Menschen durch Rampen einen "barrierefreien" Zugang zur Kultur zu ermöglichen. "Es geht schon auch um Repräsentation." Menschen gingen dann ins Theater, wenn es um Themen geht, die sie angehen. Dafür sei es nötig, dass in den Institutionen die Diversitätskompetenz gestärkt werde. Die Arbeit in der Vielfalts-Agentur wird auch wissenschaftlich begleitet.
Es gibt inzwischen in vielen Jurys den Wunsch, sie anders, diverser zu besetzen, aber: "Es gibt zu wenig Personen, die eine Juryarbeit machen können und Diversitätskompetenz mitbringen oder bestimmte Communities repräsentieren können, weil die Ausschlüsse schon viel früher passieren." Auch hier würden andere Kriterien den Jurys helfen, andere Entscheidungen zu treffen.
Diversity-Arts-Culture ist das bundesweit erste Projekt, das neue Standards entwickelt. Vorbild in Europa sei der britische "Creative Case for Diversity", und auch wenn der Kulturbetrieb dort anders, neoliberaler funktioniere, sei er schon deutlich diverser als in Deutschland. Den entscheidenden Hebel liefert dann die Förderung. Die Arbeit in der Berliner Vielfalts-Agentur wird auch wissenschaftlich begleitet.
Sandrine Micossé-Aikins ist Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin, Design-Thinking Coach und Aktivistin. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zu Rassismus und Empowerment in der Kunst sowie Repräsentation und Teilhabe im deutschsprachigen Kunst- und Kulturbetrieb. Sie ist Mit-Begründerin des Bündnisses Kritischer Kulturpraktiker*innen sowie der Inititative Bühnenwatch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.