Bei der umstrittenen Frage der künftigen Rentenpolitik hat sich offenbar Olaf Scholz in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt. Das Rentenniveau soll erhalten bleiben wie auch die Regelarbeitszeit, das Renteneintrittsalter. Auch die Beiträge zur Altersversorgung sollen möglichst stabil bleiben. Doch es wird gerade in den kommenden Jahren immer mehr Rentner geben bei gleichzeitig immer weniger Beschäftigten, die in die Rentenkasse einzahlen können. Experten warnen, eine Reform werde immer weiter auf die lange Bank geschoben auf Kosten der nachfolgenden Generationen.
Zu den Mahnern zählt auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher. "Über die Hälfte des Bundeshaushalts wird man in 20 Jahren an Zuschuss für die gesetzliche Rente ausgeben und trotzdem wird es nicht reichen. Das zeigt, wie dramatisch die Situation ist", warnte er im Dlf. Die Prognosen sagten einen massiven Anstieg an Altersarmut voraus: Viele Menschen hätten unterbrochene Erwerbsbiografien und können gar nicht 42 Jahre Vollzeit einzahlen. Vor allem Frauen seien davon begroffen.
Je länger man warte, desto schwieriger werde es, das Problem zu lösen, so der DIW-Präsident. Eine wichtige Stellschrauben sieht er im Renteneintrittsalter. Während manche aus körperlichen und psychischen Gründen gar nicht bis 67 Jahre oder länger arbeiten könnten, seien andere durchaus gerne länger im Beruf. Er plädiert daher für mehr Flexibilität.
Zudem liege der Schlüssel für eine gute Rente letztlich darin, "einen guten Job zu haben, möglichst Vollzeit arbeiten zu können oder viele Stunden arbeiten zu können und ein gutes Arbeitseinkommen". sagte Fratzscher. Zu viele Menschen arbeiteten heute im Niedriglohn-Bereich, mehr als die Hälfte der Frauen in Teilzeit, obwohl sie gerne in Vollzeit tätig wären - bei ausreichenden Kinderbetreuungsangeboten mit hoher Qualität. Und nicht zuletzt werde das Thema Zuwanderung durch die demografische Entwicklung wichtiger denn je – "nicht nur, um Fachkräfteprobleme zu lösen, sondern auch, um Menschen zu haben, die in die Sozialkassen einzahlen".
Das Interview im Wortlaut
Dirk Müller: Herr Fratzscher, sind die Jungen die Dummen?
Marcel Fratzscher: Na ja, das ist die Gefahr. Unser Rentensystem funktioniert ja so, dass wir ein Umlagesystem haben. Das heißt, die jungen zahlen immer für die alten. Je mehr Ältere und je weniger Jüngere Sie haben, desto stärker wird natürlich die Belastung für jeden einzelnen jungen Menschen. Das ist erst einmal eine Gerechtigkeitsfrage. Meine Sorge ist, wenn man das System überspannt, dass dann auch ein starker wirtschaftlicher Schaden entsteht, denn bereits heute sind die Sozialversicherungsbeiträge für junge Menschen so hoch, dass das wirklich für Unternehmen ein wirtschaftlicher Faktor wird und viele sagen: Das ist uns zu teuer in Deutschland. Wir müssen aufpassen, dass der Bogen nicht überspannt wird und dann Schaden für alle entsteht, für jung und für alt.
"Wir sehen in unseren Prognosen einen massiven Anstieg an Altersarmut"
Müller: Sie sagen, der Bogen soll nicht überspannt werden. Wo liegt denn die Spanne? Wann ist Schluss?
Fratzscher: Ich denke, wir sind jetzt schon an dem kritischen Punkt angekommen. Das Rentenniveau bei ungefähr 48 Prozent des durchschnittlichen Lebenseinkommens ist schon nicht viel. Der Beitragssatz bei knapp 19 Prozent ist jetzt nicht niedrig, aber wir sehen, beides wird sich großartig in den nächsten 15, 20 Jahren verändern müssen. Meine Sorge ist, dass viele Menschen in den kommenden Jahren in Rente gehen und in Altersarmut fallen werden. Wir sehen in unseren Prognosen einen massiven Anstieg an Altersarmut, weil viele Menschen haben unterbrochene Erwerbsbiografien, können gar nicht 45 oder 42 Jahre Vollzeit einzahlen, sondern haben Zeiten, wo sie nicht arbeiten, oder viele, ganz, ganz viele, vor allem Frauen, arbeiten in Teilzeit. Das heißt, es wird immer mehr Menschen geben, die nicht genug Ansprüche haben und damit in die Altersarmut fallen.
"Immer mehr Menschen werden immer mehr privat vorsorgen müssen"
Müller: Staatliche Zuschüsse haben wir noch nicht erwähnt. 100 Milliarden Euro pro Jahr haben wir hier notiert. Das wird, meine Frage, bei weitem nicht ausreichen, um das zu stabilisieren?
Fratzscher: Nein. Wir gehen davon aus, dass diese knapp 100 Milliarden Euro – das ist ein Viertel des gesamten Haushalts des Bundes, das, was die Bundesregierung an Geld ausgeben kann -, dass sich das in den nächsten 25 Jahren verdoppeln wird. Über die Hälfte des Bundeshaushalts wird man in 20 Jahren an Zuschuss für die gesetzliche Rente ausgeben und trotzdem wird es nicht reichen. Das zeigt, wie dramatisch die Situation ist. Man muss einen Weg finden, wie man den Menschen, vor allem Menschen mit geringen Einkommen, die nicht privat sparen können - denn das ist ja die Alternative; wir haben ja drei Säulen in der Rente: die gesetzliche Rente, das was man vom Staat bekommt. Viele haben eine betriebliche Rente, was das Unternehmen noch mal zahlt - aber viele auch nicht, vor allem Menschen mit geringen Einkommen. Und das Private. Wir sehen eine Verlagerung. Immer mehr Menschen werden immer mehr privat vorsorgen müssen und das ist das große und ungewöhnlich große Problem in Deutschland. Wir haben fast 40 Prozent der Deutschen, die gar nicht privat vorsorgen können.
Müller: Man muss sich das auch leisten können?
Fratzscher: Man muss sich das leisten können. Wir haben ganz viele, die gar nicht privat sparen können und vom Staat abhängig sind.
Müller: Ich möchte Sie, Herr Fratzscher, trotzdem noch mal fragen, was Sie eben angedeutet haben, weil die Zahl so griffig ist und sich so unglaublich hoch anhört. 100 Milliarden Euro gibt es jetzt schon an staatlichen Zuschüssen für die Rentenkasse, und wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie: Bald, in einigen Jahren, müssen es 200 Milliarden Euro sein. Ist das richtig?
Fratzscher: Ja, das wird noch deutlich höher sein. Die Größe des Bundeshaushalts steigt ja auch. Ja, wir sehen einen ganz stark steigenden Trend. Man muss sich vorstellen: Wir zahlen heute, die Politik zahlt heute knapp drei Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung an Zuschüssen, was man durch Steuereinnahmen letztlich finanzieren muss, und das ist massiv.
"Die Renten werden immer weniger auskömmlich sein"
Müller: Jetzt haben wir den Status quo, der problematisch ist, wie Sie sagen. Jetzt gibt es Berechnungen von Experten, die sagen, alles wird viel, viel schlimmer 2025. Dann kommt die Babyboomer-Generation so richtig erst mit voller Wucht in die Rentenkasse rein. Das heißt, es kommen immer mehr Rentner dazu. Das wird ein ganz massives Finanzierungsdesaster. Demnach müsste jetzt schon Entscheidendes passieren. Es wird aber offenbar gar nichts passieren. Wie fatal ist das?
Fratzscher: Das ist fatal, denn je länger man wartet, desto schwieriger wird, das Problem zu lösen. Jetzt muss man überlegen, welche Stellschrauben hat man. Der ganz kontroverse Punkt ist das Renteneintrittsalter. Wir haben diese zunehmende Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, einmal wegen der Babyboomer, die Sie erwähnt haben, aber auch, weil die Lebensarbeitszeit weiter steigt. Jetzt ist die Logik eigentlich aus der gesetzlichen Rente von der Finanzierung her, für jedes Jahr mehr Lebenserwartung, die die Menschen länger leben, müssten sie eigentlich acht Monate länger arbeiten und später in Rente gehen. Jetzt haben wir das Problem, dass viele Menschen das nicht wollen und auch nicht können. Wir sehen, gerade Menschen mit geringeren Einkommen, mit auch harten körperlichen Jobs schaffen das gar nicht bis 67, so wie es jetzt vorgesehen ist, dass das Renteneintrittsalter auf 67 steigen soll. Andere Menschen dagegen wollen gerne länger arbeiten und da liegt schon mal eine erste Lösung, nicht alle über einen Kamm zu scheren, sondern zu sagen, die Menschen, die länger arbeiten wollen und können, sollen das auch leichter können und nicht hohe Hürden in den Weg gelegt bekommen. Das würde helfen. Aber die Konsequenz ist, was ich vorhin beschrieben habe. Die Renten werden immer weniger auskömmlich sein und damit wird die Altersarmut bei vielen massiv ansteigen.
"Umverteilung von unten nach oben, von arm zu reich"
Müller: Jetzt sagen Sie, über 67 muss man ernsthaft nachdenken. Das fordern auch viele Institute, die das sagen. Man muss über 68, 69, 70 nachdenken, für viele eine wahre Horrorvorstellung. Diese Stimmen verweisen dann auf Österreich, Italien, Frankreich. Dort muss man viel, viel kürzer arbeiten. Viele gehen dort schon mit 60, 62 in die Rente – in Griechenland auch maximal. Das heißt, diesen Weg dorthin zu sagen, weniger Lebensarbeitszeit, ist absolut ausgeschlossen, kann man sich in Deutschland, so formuliert, abschminken?
Fratzscher: Für die allermeisten Menschen ja. Ich glaube schon, dass wir in Deutschland mehr Flexibilität brauchen, weil wie Sie sagen: Es gibt viele Menschen, die sagen, ich möchte nicht so lange arbeiten. Auch die Möglichkeit, die Wahl zu haben, ist gut. Man muss sich dann auch bewusst sein, dass man dann weniger Rente erhält. Aber für viele, die Vorsorge privat sparen können, ist das in Ordnung. Man braucht erstens mehr Flexibilität.
Und zweitens: Mein größter Kritikpunkt an der deutschen Rente ist, dass das eine Umverteilung von unten nach oben, von arm zu reich ist. Denn nicht nur sind Menschen, die wenig Rente nachher bekommen, die, die natürlich auch wenig Arbeitseinkommen haben, während sie arbeiten, und viel häufiger in Pflege fallen, gar nicht bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können, sondern arbeitsunfähig werden. Sondern wenn die Menschen in Rente gehen, haben Menschen mit geringen Einkommen in Deutschland fünf bis sechs Jahre geringere Lebenserwartung. Das heißt: Die Menschen mit hohen Einkommen beziehen nicht nur höhere Renten, sondern beziehen sie auch noch für fünf, sechs Jahre länger, und das ist für mich einer der wirklich großen Schwachpunkte auch im internationalen Vergleich, dass unser Rentensystem nicht nur eine Belastung, eine zu hohe Belastung für junge Menschen ist – da geht es um Generationengerechtigkeit -, sondern auch eine Umverteilung von arm nach reich ist.
"Wir haben zu viele Menschen heute im Niedriglohn-Bereich"
Müller: Die Zahl der Beitragszahler erhöhen – auch eine Forderung, die immer wieder kommt, verbunden mit dem Stichwort: Beamte, Selbständige mit einbeziehen. Würde das Entlastung bringen?
Fratzscher: Kurzfristig nein, langfristig ja. Kurzfristig nein, weil Beamte werden ja auch sagen, ich habe Ansprüche, die möchte ich so, wie sie mir versprochen wurden, nachher erhalten. Aber langfristig würde das sicherlich etwas bringen, bei Selbständigen in einem gewissen Maße auch, weil gerade Soloselbständige, viele von denen haben gar nicht genug Einkommen, dass sie nachher das Rentensystem entlasten können, sondern würden das eher zusätzlich belasten. Das ist sicherlich eine Option, aber das wird nicht der große Wurf alleine sein.
Müller: Sie sagen, kurzfristig nein, langfristig ja. Über welchen Zeitraum reden wir da? Sind das zehn Jahre oder 30 Jahre?
Fratzscher: Eher 30 Jahre. Sie müssen sich vorstellen: Wenn jetzt jemand heute mit 50 oder mit 55 verbeamtet ist, Sie können denen ja jetzt nicht sagen, wir haben es uns anders überlegt, das Versprechen, was Ihnen gegeben wurde, lösen wir jetzt auf. Sondern das bringt dann was, wenn man den Menschen, den jungen Menschen, die man heute neu einstellt, die verbeamtet werden, heute sagt: Ihr kriegt nachher keine Beamtenpension mehr, sondern ihr zahlt auch in die gesetzliche Rente ein und habt damit geringere Ansprüche. Und das wird natürlich dauern, bis sich das dann langfristig rechnet. Eher 30, 40 Jahre als zehn Jahre, und das wird jetzt alleine nicht der große Wurf sein.
Ich glaube, für viele Menschen – das haben Sie eben angesprochen – ist mehr Beitragszahler, und der Schlüssel für eine gute Rente liegt letztlich darin, einen guten Job zu haben, möglichst Vollzeit arbeiten zu können oder viele Stunden arbeiten zu können und ein gutes Arbeitseinkommen. Das ist der Schlüssel und das wird häufig vergessen, wenn man am Rentensystem herumschraubt. Wir haben zu viele Menschen heute im Niedriglohn-Bereich, ungewöhnlich viele Menschen arbeiten für weniger als zwölf Euro. Jeder fünfte Beschäftigte ist im Niedriglohn-Bereich. Ganz viele Frauen vor allem arbeiten Teilzeit, über die Hälfte der Frauen. Viele sagen, sie würden gerne mehr arbeiten, wenn sie denn könnten, wenn die Kinderbetreuung und Qualität ordentlich wäre und sich das steuerlich auch lohnen würde. Der Schlüssel liegt wirklich auch darin, mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, die schon hier sind, und man muss auch ehrlich darüber reden, das Thema Zuwanderung wird durch die demografische Entwicklung wichtiger denn je – nicht nur, um Fachkräfteprobleme zu lösen, sondern auch, um Menschen zu haben, die in die Sozialkassen einzahlen.
"Schädliche Subventionen einsparen"
Müller: Herr Fratzscher, jetzt haben wir das Interview schon länger gemacht, als bei uns geplant, als die Regie geplant hat. Dann können wir auch weitermachen. Ich habe jetzt einen ganz anderen Punkt. Wenn wir einen dicken Strich ziehen zum Thema Rente, da waren wir beide verabredet. Noch ein Statement, eine Einschätzung zur aktuellen Diskussion um klimaschädliche Subventionen, gestern aus Koalitionskreisen lanciert worden. Pendlerpauschale ein Beispiel, Dieselbesteuerung, die privilegierte Dieselbesteuerung, Kaufprämien für Autos, wie auch immer, Dienstwagen-Privileg. Kann das alles wegfallen?
Fratzscher: Vieles ja. Der deutsche Staat zahlt jedes Jahr 70 Milliarden Euro an Subventionen für fossile Energieträger, Kohle, Gas und Öl, und da sieht man schon, worüber wir eben geredet haben, 100 Milliarden Euro Zuschüsse in die Rente und 70 Milliarden Euro. Das ist ein riesiger Batzen. Subvention heißt, was wir als Verbraucherinnen und Verbraucher und auch die Unternehmen zahlen für fossile Energieträger, ist deutlich geringer als das, was diese fossilen Energieträger an Schaden für Umwelt, für Klima anrichten. Auch das Dienstwagen-Privileg, da müssen wir uns einfach ehrlich machen. Wir sind zwar Autonarren, wir Deutschen, aber es ist extrem teuer, und wenn man mehr Geld für Klimaschutz, für digitale Transformation und auch für soziale Erneuerung, wie wir über die Rente gesprochen haben, wenn man dafür mehr Geld ausgeben will, muss man auch mal schauen, wo man sparen kann und wo man vor allem schädliche Subventionen einsparen kann.
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