Philipp May: Italien ist die drittgrößte Volkswirtschaft der EU und Gründungsmitglied, also unverzichtbarer Bestandteil der Europäischen Union. Jetzt stehen zwei Parteien vor der Machtübernahme, die im Wahlkampf vor allem mit europafeindlichen Tönen Stimmung gemacht haben. Sowohl die rechtsnationale Lega als auch die Protestbewegung Fünf Sterne wollen das aus ihrer Sicht Gängelband aus Brüssel nicht mehr dulden. Vor allem bei der EU sind daher die Sorgenfalten tief. Doch die wahrscheinlich neuen Regierungslenker verbitten sich jede Einmischung. Ein neuer Ton in Rom.
Wir erreichen jetzt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in Singapur am Telefon. Schönen guten Tag!
Marcel Fratzscher: Guten Tag.
May: Herr Fratzscher, sind Sie schon geflüchtet sicherheitshalber aus Europa?
Fratzscher: Nein, nicht geflüchtet. Aber es ist schon interessant, wenn man außerhalb Europas ist, wie anders der Blick ist, und es ist manchmal schon schockierend, wie sehr wir eine Nabelschau in Deutschland und auch gerade in Europa betreiben, ohne zu realisieren, dass natürlich noch andere Dinge in der Welt passieren als nur das, was uns in Europa betrifft.
"In diesen guten Zeiten Reformen machen"
May: Das heißt, die Sorgen, dass Europa, die EU jetzt schon wieder am Abgrund stehen würde, die sind überzeichnet aus Ihrer Sicht?
Fratzscher: Ja, natürlich sind sie überzeichnet. Europa hat eine wirtschaftlich gute Erholung im Augenblick. Das trifft auch auf Italien zu. Natürlich ist Europa in gewisser Weise auch noch in der Krise, gerade wenn man sich die italienische Entwicklung anschaut, aber wirtschaftlich gesehen ist Europa im Augenblick doch auf einem ganz ordentlichen Entwicklungspfad und jetzt geht es darum, in diesen guten Zeiten die Reformen zu machen, damit dieser Aufschwung länger andauert, damit man die Probleme, die Fehler, die man in der Vergangenheit gemacht hat, behebt. Darum muss es gehen auch gerade für Länder wie Italien, die natürlich noch einen großen Aufholbedarf haben.
"Die größte Gefahr ist nicht wirtschaftlich, sondern politisch"
May: Deutsche Steuerzahler müssen demnächst nicht auch Italien retten?
Fratzscher: Das glaube ich nicht. Ich denke, wir werden zwei, drei, vier sehr gute Jahre in Europa haben, auch in Italien. Die große Frage ist viel mehr, wann kommt die nächste Rezession, der nächste Abschwung? Würde das zu einer Krise kommen und wie kann man was jetzt machen an Reformen, damit diese Rezession, diese Krise so mild ist wie möglich, und wie kann man auch den Populisten entgegentreten, die letztlich die größte Gefahr sind für mich für Europa. Wir sehen das gerade in Italien. Die größte Gefahr, die ich im Augenblick sehe, ist nicht wirtschaftlich, sondern politisch, dass Politiker durch eine populistische Politik, aber auch durch eine Konfrontation in Europa letztlich diesen Aufschwung gefährden.
Europa ist Gewinn, Stärke "und nicht ein Problem"
May: Nur sagt jetzt der Chef der rechten Lega, Salvini, wenn Brüssel sich Sorgen macht, heißt das, wir tun genau das Richtige.
Fratzscher: Ja, das ist leider die Tragik, die wir überall in Europa sehen. Wenn etwas gut läuft, dann sagen die einheimischen Politiker, das ist unsere eigene Verantwortung. Wenn irgendwas schlecht läuft, dann ist Europa daran schuld. Und dieses Sündenbock-Phänomen sehen wir ja überall. Das gleich ist ja auch in Deutschland so. Das Gefühl in Deutschland ist vielfach, Europa will uns über den Tisch ziehen, die wollen eine Transferunion schaffen, die wollen doch eigentlich nur an unser Geld, wir sind der Superstar, und außer dem Superstar hört man das ähnlich aus jedem anderen Land auch. In Italien heißt es, Europa ist das Problem und einheimisch in Italien läuft alles richtig, und das ist natürlich falsch.
Italien muss Reformen machen und der Euro ist nicht eine Schwäche für Italien, sondern der Euro ist eine riesige Stärke. Denn man muss sich überlegen: Was würde denn Italien an Zinsen zahlen auf die eigenen Staatsschulden, wenn sie den Euro nicht hätten? Dann würden sie nicht zwei Prozent zahlen auf zehnjährige Anleihen, sondern wahrscheinlich eher 15 oder 20 Prozent. - Europa ist gerade für Italien, aber übrigens auch für Deutschland ein Gewinn und eine Stärke und nicht ein Problem, und sich darauf zu besinnen, halte ich für extrem wichtig. Das Gleiche wie gesagt gilt für Italien genauso wie für Deutschland.
Einheimische Politik ist schuld an der Misere
May: Ich hoffe, wir können den Euro gleich noch mal ein bisschen vertiefen. Ich würde noch einmal ganz kurz bei der politischen Agenda der wahrscheinlichen Koalitionäre bleiben. Das ist ja zum einen harte Haltung bei der Immigration und zum anderen mehr Sozialstaat. Deswegen wurden Fünf Sterne und die Lega gewählt. Und irgendwie auch folgerichtig zum einen die jahrelange Austeritätspolitik von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble und EU-Partner, die Italien bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise weitgehend allein gelassen haben. Also kann man schon irgendwie nachvollziehen, dass das jetzt die Wähler wollen.
Fratzscher: Man kann es nachvollziehen in dem Sinne, dass Italien wirklich in einer tiefen Krise war und noch immer ist. Die Volkswirtschaft ist um fast zehn Prozent geschrumpft. Die Jugendarbeitslosigkeit ist enorm hoch. Wir reden hier von einer ganzen verlorenen Generation junger Menschen, die 10, 15 Jahre keine Arbeit haben, wenig Arbeit haben, kaum Chancen haben. In Italien ist die Lage wirklich dramatisch.
Aber jetzt muss man auch ehrlich bleiben und sagen, hat das was mit der Austeritätspolitik von Angela Merkel oder Wolfgang Schäuble zu tun. Das ist auch wieder eine falsche Sündenbock-Politik. Deutschland hat Italien keine Austeritätspolitik aufgezwungen, sondern das haben die Finanzmärkte getan, weil sie gesagt haben, 2012 vor allem, Italien macht keine solide Finanzpolitik, wir haben Sorge, dass Italien aus dem Euro rausgeht.
Und wenn jetzt eine neue Regierung auch mit Lega und Fünf Sterne den Euro hinterfragt und sagt, Europa ist ein Problem, dann riskiert man genau das wieder zu wiederholen, was wir 2012 hatten. Also es ist nicht Deutschland oder Europa schuld an der Misere in Italien, sondern es ist die einheimische Politik, und solange das nicht erkannt wird, wird auch an dem Problem nichts verändert.
"Hauptproblem in Italien sind schreckliche Institutionen"
May: Wie kann man dann Italien auf Vordermann bringen?
Fratzscher: Italien muss in erster Linie einheimische Reformen machen, also die Strukturreformen, die unter Mario Monti und auch unter Renzi begonnen wurden, fortsetzen.
May: Aber dafür gibt es ja in Italien keine Mehrheit.
Fratzscher: Ja gut. Die Frage ist, was sind das für Strukturreformen. Es ist ja völlig klar, dass Wachstum und Jobs geschaffen werden müssen in Italien. Das Hauptproblem, das ich in Italien sehe, sind schlechte staatliche Institutionen, ein politisches System, das korrupt ist im schlimmsten Sinne, im besten Sinne zumindest ineffizient ist. Als italienischer Unternehmer oder Unternehmerin ist es schwierig, im eigenen Land zu investieren. Die Bürokratie, die überbordend ist. All das, da, glaube ich, besteht schon ein großer Konsens, dass das Hauptproblem in Italien nicht die Wirtschaftsstruktur ist, denn gerade der Norden hat eine extrem starke Wirtschaftsstruktur mit vielen Familienunternehmen, mit vielen mittelständischen, sehr innovativen Unternehmen.
Das Hauptproblem in Italien sind schreckliche Institutionen. Darüber besteht ein großer Konsens. Aber klar: Die Gruppen, die davon profitieren, wehren sich natürlich gegen Änderungen. Aber nochmals: Es ist nicht Europa daran schuld, aber Europa kann trotzdem Italien helfen. Und da geht gerade die Ansage auch an die neue Bundesregierung. Anstelle jetzt alle europäischen Reformversuche abzulehnen, die Währungsunion, den Euro stabiler zu machen, muss auch eine neue Bundesregierung sich hier stärker engagieren, um zu verstehen:
Wenn Italien in Schieflage kommt, dann ist das auch ein Problem für Deutschland, denn Italien ist so groß, dass Deutschland da keine Rezession in der Krise erspart bliebe, wenn es wirklich ein Problem in Italien gibt. Deshalb ist es ja auch im deutschen Interesse, die wichtigen Reformen auf europäischer Ebene zu machen, damit auch Italien stabilisiert werden kann. Das ist schon eine gemeinsame Verantwortung. Natürlich liegt viel Verantwortung in Rom, aber viel der Verantwortung liegt auch in Berlin und in Brüssel, die notwendigen Reformen auf europäischer Ebene zu machen.
"Versicherungsunion ja, aber keine Transferunion"
May: Muss man irgendwann so ehrlich sein und auch dem deutschen Wähler, den Steuerzahlern verklickern, ohne eine Transferunion zumindest in geringem Maße oder in einem bestimmten Maße ist diese EU nicht zu machen?
Fratzscher: Nein. Erstens haben wir ja in gewisser Weise schon eine Transferunion. Deutschland ist schon Nettozahler. Das ist gut investiertes Geld. Aber wir brauchen nicht mehr von einer Transferunion, sondern es geht wirklich darum, konzentrierte Risiken abzubauen. Das heißt ganz konkret, italienische Banken, aber übrigens auch viele deutsche Banken müssen gesunden, müssen ihre faulen Kredite abbauen, müssen weniger abhängig sein von inländischen Investitionen, müssen sich internationaler aufstellen. Wir brauchen eine gute Bankenunion und Kapitalmarktunion, nicht um eine Transferunion zu schaffen, sondern eine Versicherungsunion.
Es geht wirklich um eine gemeinsame Versicherung, so dass, wenn es zu Problemen in Italien kommt, es nicht zu einer systemischen Krise kommt, wo der ganze italienische Staat dann bankrott ist, sondern wo diese Risiken dann global oder zumindest europäisch verteilt sind, so dass es zu keiner Schieflage kommt. Versicherungsunion ja, aber keine Transferunion, und das ist für mich auch immer dieses falsche Argument in Deutschland, dass viele Deutsche immer sofort schreien, Transferunion, die wollen unser Geld. Darum geht es eigentlich nicht. Es geht in Europa darum, einen Binnenmarkt zu schaffen, wo Risiken geteilt werden und damit das Risiko für alle auch reduziert wird.
May: … sagt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Und wir ziehen in dieser Sendung schon mal ein Fazit: Die Telefonleitung nach Berlin, die ist ungefähr genauso schlecht wie nach Singapur. Wir bitten das zu entschuldigen. – Herr Fratzscher, vielen Dank für das Gespräch.
Fratzscher: Sehr gerne! – Danke schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.