Matthias Friebe: In den letzten zwei Jahren gab es in den Zeitungen viele Schlagzeilen über Terroranschläge in London. Welchen Einfluss hatten diese auf die Organisation der Weltmeisterschaft?
Ed Warner: Wir haben in den letzten zwei Jahren sehr intensiv mit der Londoner Polizei, den Behörden und auch der Regierung zusammengearbeitet, um gewährleisten zu können, dass die WM bestmöglich gesichert ist. Die Polizei stellte extra Mitarbeiter ab, die sich mit unserem Organisationskomitee austauschen konnten. So haben wir viele mögliche Szenarien durchgespielt, die passieren könnten. Unser Appell an die Fans ist: Seid euch über potenzielle Probleme im Klaren – aber seid nicht verängstigt. Kommt vorbei und habt Spaß! Ich möchte betonen, dass die britische Polizei sehr erfahren im Umgang mit allen möglichen Szenarien und Veranstaltungen ist, nicht nur im Sport sondern auch in der Unterhaltungsindustrie oder bei öffentlichen Versammlungen auf der Straße. Wir sind also bestmöglich vorbereitet, weswegen ich sage, was ich den Leuten schon die ganze Zeit rate: Besucht die Wettkämpfe und habt eine gute Zeit, denn unser Team hat gute Arbeit geleistet, viel davon hinter den Kulissen. So sollte es sein: Vieles sollte im Hintergrund passieren, damit wir nicht all unsere Geheimnisse offenlegen.
Warner zur Terrorgefahr: "Wir müssen einfach wachsam bleiben"
Friebe: Wie oft haben Sie gedacht: Oh Gott, wir könnten ein Problem bekommen?
Warner: Nun, jedes Mal, wenn ein solcher Anschlag passierte – und es gab ja zwei oder drei davon. Nach jedem Vorfall haben wir uns als Team zusammengesetzt und überlegt, welche Schlüsse wir daraus für uns ziehen können. Die Experten für solche Situationen sitzen ja nicht beim britischen Leichtathletikverband oder im Organisationskomitee – sie sind in den Reihen der Sicherheitsfirmen und der Polizei, die uns beraten und in die wir Vertrauen haben. Ich würde nicht mal daran denken, den Plan dieser Experten anzuzweifeln. Sie haben die Erfahrung und darauf haben wir uns zu verlassen. Aber, wie Sie wissen handelt es sich beim Terror ja um ein globales Problem. London ist nicht die einzige Stadt, die bedroht ist. Vor ein paar Tagen gab es glaube ich in Australien ein paar Verhaftungen; es zieht sich also über den gesamten Erdball. Wir müssen einfach wachsam bleiben und aufpassen, dass uns der Terror nicht besiegt.
Friebe: Dürfen wir uns also auf Bilder einstellen von einer Vielzahl an Polizisten und Soldaten, die für die Sicherheit der Zuschauer und Athleten sorgen?
Warner: Ja, aber vieles wird auch nicht sichtbar sein. Ich glaube nicht, dass man Sicherheit nur dadurch gewährleisten kann, indem an jeder Ecke bewaffnete Polizisten stehen. Sie haben vielleicht eine gewisse beruhigende Wirkung, aber die meisten Sicherheitsvorkehrungen und Maßnahmen sind hinter den Kulissen getroffen worden. Und ich denke, so sollte es auch sein: Es gibt vieles, was man als Zuschauer nicht wahrnimmt, auf was man sich aber verlassen kann.
"330.000 Besucher bei der Para-WM – deutlich mehr als je zuvor"
Friebe: Vor ein paar Wochen fand die Para-WM in London statt, im selben Stadion, in dem nun auch die Leichtathletik-WM ausgetragen wird – mit mehr Zuschauern als je zuvor. Hat Sie das in Ihrer Arbeit weiter angespornt?
Warner: Ja, sehr. Es war ein großartiger Start in den Leichtathletik-Sommer. Am Ende hatten wir, wenn ich mich recht erinnere, 330.000 Besucher bei der Para-WM – deutlich mehr als je zuvor. Nun gehen wir davon aus, dass wir an den zehn Wettkampftagen bei der WM über 700.000 Zuschauer haben werden. Die bisherige Bestmarke lag 2009 in Berlin bei etwa 470.000, soweit ich weiß. Ich denke gerne an die Berlin-WM zurück, es war eine fantastische Veranstaltung. Usain Bolt hatte grandiose Auftritte, brach den 100-Meter-Weltrekord. In den ersten Tagen waren die Zuschauerzahlen noch mäßig, aber zum Ende hin war das Stadion dann voll. Das Schöne bei uns ist, dass wir von Anfang ein gefülltes Stadion haben werden, da die Londoner diese Weltmeisterschaft sehr gut annehmen. Wir bieten großartigen Sport in einem großartigen Stadion in einer großen Metropole. Die Briten lieben hochklassigen Sport, sie lieben hochklassige Leichtathletik und das zeigt sich in den Ticketverkäufen.
Friebe: Was haben Sie von der Para-Leichtathletik-WM gelernt?
Warner: Vor allem die logistischen Abläufe. Es handelt sich hierbei um ein sehr komplexes Unterfangen. Bei der Para-WM gab es etwa 1000 Teilnehmer, nun nehmen knapp 2000 Athleten an unserer WM teil. Das sind eine Menge Hotelbetten, Shuttle-Busse und Flughafen-Transfers, die wir zu organisieren haben. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Sportler in ihrer bestmöglichen Verfassung an den Start gehen. Wenn die Athleten nach der WM sagen, dass es ihnen im Stadion gefallen hat und auch abseits davon alles glatt gelaufen ist, dann wissen wir, dass wir unseren Job gut gemacht haben. Ich denke, das ist das Wichtigste: Wir bereiten den Athleten die bestmöglichen Rahmenbedingungen, damit sie ihre Topleistung abrufen können. Das haben wir bei der Para-WM gelernt, die Dinge hinter den Kulissen, die logistischen Herausforderungen. Das Resultat ist, dass wir uns für die jetzige WM weiterentwickeln konnten, da wir einige Dinge optimiert haben. Am Ende geht es für uns darum, dem Athleten den besten Service zu bieten – wenn Du das schaffst, bekommst Du großen Sport geboten.
Friebe: Also war die Para-WM nur ein Warm-Up für Sie?
Warner: Ein Warm-Up? Nein. Die Para-WM war für sich genommen eine sensationelle Veranstaltung und wir wollen das nun wiederholen. Während ich mit Ihnen rede, kann ich gegenüber auf die Anlage schauen, in der sich die Athleten warm machen können. Die Möglichkeiten, die wir den Sportlern zur Vorbereitung bieten, bevor sie für den Wettkampf in dieses tolle Stadion kommen, ist einzigartig. Es ist ein Vermächtnis der Olympischen Spiele 2012 und wir sind froh darum, denn wie Sie vielleicht wissen, schließen weltweit immer mehr Leichtathletikstadien, da sie dem Fußball weichen müssen. Hier hat man eine Lösung geschaffen mit einem Stadion, in dem beides stattfinden kann, Leichtathletik und Fußball. Es wird einen schönen Rahmen bieten für diese WM.
"Es gibt nur wenige Städte, die so etwas stemmen können"
Friebe: Liegt das auch an dem speziellen Verhältnis zwischen Großbritannien und dem Para-Sport?
Warner: Zweifellos, ja. Das Stoke-Mandeville-Stadion in Aylesbury war der Geburtsort des Para-Sports in Großbritannien. Seitdem lag er der britischen Gesellschaft stets am Herzen. Die Spiele 2012 haben den Sport dann auf ein nie da gewesenes Level gehoben. Die Fans, die im Juli zur Para-WM kamen, haben aus meiner Sicht gezeigt, dass es darum ging, Vielfalt anzunehmen. Wir können behinderte Menschen feiern, genau so, wie wir hart dafür arbeiten müssen, dass die Betroffenen besser mit ihren Behinderungen leben können. Nicht jeder Mensch mit Behinderung ist ein Spitzensportler, wie auch? Es gibt ja auch unter Nichtbehinderten nur wenige Topathleten. Also sollten wir nicht auf Para-Athleten schauen und denken, wir hätten als Gesellschaft Behinderungen überwunden. Das haben wir nicht. Aber sie sind eine große Inspiration und bieten uns als Nation eine Möglichkeit, die Probleme zu verstehen, denen einige Menschen ausgesetzt sind und die Anstrengungen, die sie durchstehen mussten, um diese Hürden zu überwinden. Ich denke, es ist wichtig, eine Para-Sport-Veranstaltung zu haben, die es allen Menschen mit Behinderung erlaubt, sich Vorbilder zu suchen. Und die übrige Gesellschaft erinnert es daran, dass man immer etwas tun kann, um das Leben von Menschen mit Behinderung zu bereichern und sie weiter in die Gemeinschaft zu integrieren.
Friebe: Sie sind Co-Vorsitzender von London 2017. Der BBC sagten Sie vor ein paar Tagen, dass Sie hier die letzte große WM nach traditionellem Muster erwarten. Warum?
Warner: Weil es weltweit nur wenige Städte gibt, die all das bieten können, was für so einen Wettbewerb verlangt wird: große Zuschauermassen und ein tolles Stadion. Der Umfang ist ja sehr anspruchsvoll. 2.200 Athleten an zehn Wettkampftagen in einer großen Arena. Wir erwarten 700.000 Zuschauer. Das sind wirklich hohe Anforderungen und es gibt nur wenige Städte, die so etwas stemmen können. Alle traditionellen Sportarten sehen sich zudem mit E-Sports einer neuen Herausforderung gegenüber. Junge Leute konsumieren Sport heute anders als früher, sie wollen angesprochen werden auf ihren Tablets, ihren Smartphones, ihren Computern. Es könnte sein, dass ein zehntägiges Spitzenleichtathletik-Event einfach zu groß ist für viele Städte. Vielleicht würde es sich für einige Städte lohnen, wenn wir den Wettbewerb beschneiden, etwa nur Halbfinale und Finale austragen über insgesamt vier, fünf Tage. Wir würden uns reduzieren auf einen einzigen Adrenalinschub: Kurze, knackige, offensive Wettkämpfe; die Qualifikationsrunden würden außerhalb des Stadions stattfinden, in den Wochen zuvor. London hat das Zuschauerpotential, es ist eine große Stadt mit einer gut angebundenen Arena in einem sportverrückten Land. Wieviele andere Städte haben solche Möglichkeiten? Klar, man kann erneut nach Berlin gehen, vielleicht nach Paris oder Rom. Aber abseits davon sehe ich kaum Möglichkeiten für die Leichtathletik, einen Wettbewerb dieser Größenordnung in einem solchen Stadion auszutragen. Die IAAF muss aus meiner Sicht die Struktur von Weltmeisterschaften anpassen, so dass man sie besser vermarkten und für junge Leute wieder attraktiv machen kann. Ich erfreue mich so an der WM in London, weil es der letzte Wettkampf dieser Größenordnung sein könnte – und es macht mich stolz, daran mitarbeiten zu dürfen.
"Vielleicht werden die Olympischen Spiele 2028 den amerikanischen Markt für die Leichtathletik mehr öffnen"
Friebe: Sagen Sie das auch in dem Wissen, dass die kommenden zwei Weltmeisterschaften in Doha und Eugene stattfinden werden?
Warner: Zum Teil ja, absolut. Ich war 2015 in Doha bei der Para-Leichtathletik-WM. Dort gibt es kein großes Stadion und die Ränge werden auch nicht bei jedem Wettbewerb gut gefüllt sein, sowohl auf Grund der Hitze als auch der Tatsache, dass es dort keine große Fangemeinde gibt. Auch in Eugene gibt es kein Stadion, das annähernd so groß ist wie hier in London. Dafür lieben sie dort Leichtathletik, es ist ja die Heimat von Nike. Von daher werden die Zuschauer in Eugene sicher lieben, was sie geboten bekommen werden, aber es ist nun mal ein ganz andere Größenordnung als in London. Dann kommt die WM 2023. Ich denke, die IAAF wird es schwer haben, dafür einen vergleichbaren Veranstaltungsort zu finden wie hier in London. Vielleicht haben sie da also die Möglichkeit, es mal anders zu machen als bislang.
Friebe: Hat die IAAF mit den WM-Vergaben an Doha und Eugene also Fehler gemacht?
Warner: Aus meiner Sicht nicht mit Eugene, denn es ist wichtig, dass sie in den USA Fuß fassen…
Friebe:...aber es ist nicht Los Angeles, New York oder Washington…
Warner: Ganz genau. Vielleicht werden die Olympischen Spiele 2028 den amerikanischen Markt für die Leichtathletik mehr öffnen. Man muss in die USA, von daher kann ich die Wahl von Eugene verstehen. Doha ist für allerdings eine interessante, vielleicht auch eine etwas komische Entscheidung. Es könnte einen Dämpfer geben, wenn man nach London dort die WM austragen lässt. Ich hoffe es nicht, denn ich liebe diesen Sport. Aber ich glaube, dass es noch einer Menge Arbeit bedarf, um zu gewährleisten, dass die WM 2019 den gleichen Stellenwert erfährt wie wir es hier in London nun gerade erleben.
Friebe: Wenn Sie von vollen Stadien reden und von den Wettkampfstätten in London, sprechen Sie auch immer wieder davon, Sportler zu motivieren und zu unterstützen. Warum ist das so wichtig?
Warner: Weil das für mich großen Sport ausmacht. Es ist die Kombination aus Spitzensportlern, die vor einem pulsierenden, enthusiastischen, engagierten Publikum antreten. Man kann natürlich auch ohne Zuschauer brillante Leistungen abliefern, aber das fühlt sich doch irgendwie für den Athleten komisch an. Wenn wiederum ein schlechter Sportler vor einem großen Publikum auftritt, gehen die Menschen mit einem merkwürdigen Gefühl nach Hause. Aber wenn man beides zusammenbringt – großen Sport und viele Zuschauer – dann hat man eine begeisternde Veranstaltung. Das ist dann etwas, was in den Köpfen der Menschen bleibt. Und: Sportler geben ihr Bestes, wenn das Stadion voll ist, das haben wir bei der Para-WM gesehen – der Unterschied von London zu den Weltmeisterschaften zuvor war gewaltig. Und das hat weniger damit zu tun, was auf der Laufbahn vor sich geht, sondern auf den Rängen. Meine Einstellung ist: die besten Sportler haben sich die besten Stadien und besten Zuschauer verdient. Nicht nur in der Leichtathletik, auch beim Schwimmen, Radfahren, Fußball, Rugby, ganz egal. Man braucht diese Kombination aus Menschen, die zugucken und Menschen, die Leistungen erbringen. Wenn großer Sport in einem halbvollen Stadion dargeboten wird, hat man aus meiner Sicht die Athleten im Stich gelassen. Das wäre eine herbe Enttäuschung.
"Wir als Leichtathletik müssen die neuen Technologien verstehen"
Friebe: Ich war überrascht, dass Sie gerade E-Sports als möglichen Konkurrenten für die klassischen Sportarten genannt haben. Ist E-Sports in Großbritannien so populär?
Warner: Absolut, es ist enorm populär, global, speziell aber in Asien und auch in Nordamerika. Das höchste Preisgeld für ein E-Sports-Turnier gibt es weltweit bei einer Veranstaltung mit Namen "The International". Wenn ich mich nicht irre, ist dieser Wettbewerb mit etwa 25 oder 27 Millionen Dollar dotiert. Sie füllen Hallen mit zehntausenden Fans, die dabei zuschauen, wie Menschen Computerspiele spielen. Die Einbindung der Fans ist unglaublich. Ich alter Mann von 53 Jahren tue ich mich etwas schwer damit, dies zu verstehen, aber ich verfolge diesen Wachstum mit großem Respekt und Interesse. E-Sports hat sich etabliert und stellt eine große Herausforderung für traditionelle Sportarten da, weil sie es schaffen, junge Leute anzusprechen. Davon müssen wir lernen. Wir als Leichtathletik müssen die neuen Technologien verstehen, um die Leute, die E-Sports begeistern kann, auch für uns zu gewinnen. Gleiches gilt für alle anderen traditionellen Sportarten.
Friebe: In den klassischen Sportarten denkt man nun also über Änderungen nach, neue Formate, neue Wettbewerbe. Ist die traditionelle Leichtathletik zu langweilig?
Warner: Für mich nicht und auch nicht für die 700.000 Zuschauer diese Woche im Stadion oder die hunderten Millionen vor den Fernsehgeräten. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht besser werden kann. Wir müssen uns weiterentwickeln, das ist der Schlüssel. Es gibt sicher Sportarten, bei denen es einer Revolution bedarf. Das ist in der Leichtathletik nicht der Fall, aber es braucht eine Weiterentwicklung – und diese darf nicht nur langsam passieren. Wir müssen uns in einem Tempo weiterentwickeln, das es uns ermöglicht, weiter relevant zu bleiben für junge Leute. Wenn wir das nicht schaffen, verlieren wir diese Zielgruppe und das können wir uns nicht leisten. Ich hoffe daher, dass unsere Traditionssportart dieses Problem nicht auf traditionellem Wege in Angriff nimmt, weil wir dann viele Möglichkeiten ungenutzt ließen.
Friebe: Wie sollte das angegangen werden?
Warner: Ich glaube, es braucht klare Köpfe, die mit frischen Ideen auf das aktuelle Wettbewerbsformat schauen, auf den Zeitplan…
"Wir müssen neue Wege finden, mit Hilfe von Technik den Sport näher an die Menschen zu bringen"
Friebe: Sollte es mehr Wettbewerbe geben?
Warner: Vielleicht verschiedene Wettbewerbe wie Mixed-Staffelläufe oder Staffeln mit verschiedenen Distanzen. Aus meiner Sicht kommt es aber vor allem darauf an, die Wettkämpfe zu kürzen. Und wir müssen neue Wege finden, mit Hilfe von Technik den Sport näher an die Menschen zu bringen. Ein Beispiel: Man könnte Läufer mit einer Knopflochkamera am Leibchen ausstatten, so dass der Zuschauer das Gefühl bekommt, er befände sich als Beobachter mitten unter den Läufern. Oder denken sie an Virtual-Reality-Brillen, die es ja schon in einigen amerikanischen Sportarenen gibt und bald sicherlich auch weltweit verbreitet sein werden. Wie kann man in der Leichtathletik Virtual Reality nutzen, so dass die Nutzer am Tablet oder Smartphone das Gefühl haben, sie seien Teil des Wettkampfs? So ist es bereits in vielen Sportarten und so sollte es auch in der Leichtathletik sein. Also: Neue Technologien spielen eine wichtige Rolle, genauso wie die übertragenden Medien. Und das Wettbewerbsformat muss kürzer und zugespitzter sein. Das alles wird passieren; ich hoffe nur, dass wir dabei so schnell sind, dass wir weiter relevant bleiben.
Friebe: Der Spaß der Zuschauer steht also im Vordergrund?
Warner: Voll und ganz, ja. Niemand will gelangweilt werden, niemand will außen vor bleiben. Die Menschen müssen das Gefühl haben, Teil des Ganzen zu sein. Und schauen Sie, der große Vorteil von Leichtathletik ist: Es ist Laufen, Springen, Werfen – jeder von uns kann das. Jeder hat eine Vorstellung davon, wie es sein muss, die 100 Meter in zehn Sekunden zu laufen. Ich kann auch laufen, zwar nicht so schnell, aber wenn ich einen Spitzenläufer in Aktion sehe, habe ich ein Verständnis für die Bewegungsabläufe, die es dafür braucht. Ich kann also nachvollziehen, was auf der Bahn passiert. Ich kann nachvollziehen, was beim Werfen passiert und auch beim Springen, auch wenn ich nicht mal ansatzweise so weit springen kann wie die Topathleten. Das ist es, was Leichtathletik so reizvoll macht. Man kann die Leistungen leichter nachvollziehen als in anderen Sportarten, etwa beim American Football oder beim Cricket – ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, ein Quaterback zu sein. Aber ich kann mir wiederum vorstellen, wie es ist, eine Kugel zu stoßen. Das müssen wir uns zu Nutze machen und dem Fan das Gefühl geben, dass er unmittelbar dabei ist. Vielleicht wären mehr Wettbewerbe in der Halle auch eine Lösung, weil eine solche Indoor-Arena direkt ein ganz anderen Zugang bietet. Man kann die Wettkampfstätte leichter ausleuchten, es ist leichter zu übertragen für Fernsehanstalten, es ist leichter für Fans zu interagieren. Und vielleicht müssen wir uns auch über die Größe von Stadien Gedanken machen. Vielleicht ist eine 400 Meter lange Laufbahn zu groß und es bräuchte eine 250- oder 300-Meter-Strecke, um die Zuschauer richtig mitzunehmen. Wir müssen einfach alles auf den Prüfstand stellen. Können wir vielleicht bei Wettbewerben Zuschauer im Innenraum platzieren, also innerhalb der Laufstrecke? All das müssen wir abwägen.
Friebe: Heißt, wir müssen uns verabschieden von den traditionellen Leichtathletik-Wettkämpfen?
Warner: Möglich, ja. Ich hoffe das aber nicht. Aber wie Sie wissen, ist zum Beispiel Hammerwerfen nur noch bei großen Meisterschaften im Programm. Selbst bei der Diamond League findet diese Disziplin nicht statt, weil sie zeitraubend ist und sehr viel Platz benötigt. Vielleicht sollten wir den Sport mehr aufbrechen und etwa die Wurfdisziplinen in aufregende Spielstätten auslagern und uns stattdessen mehr auf die Laufwettkämpfe konzentrieren, in kleineren Arenen. Das meine ich damit: Wir müssen mal einen Schritt zurückgehen und mit klarem Verstand an intelligenten Lösungen arbeiten, losgelöst von alten Denkmustern. Ansonsten werden wir nie in der Lage sein, den nötigen Sprung zu schaffen, um auch für nachfolgende Generationen relevant zu bleiben.
Friebe: Ein Beispiel dafür ist ja der Zehnkampf. Glauben Sie auch, dass wir in London zum letzten Mal diese Disziplin bei einer WM sehen werden?
Warner: Das glaube ich nicht. Ich denke, Sie werden auch noch in Doha und Eugene einen Zehnkampf sehen. Wie es dann 2023 weitergeht, weiß ich aber nicht. Für mich ist es eine großartige, ja märchenhafte Disziplin, die allerdings auch viel Zeit beansprucht. Das Sieben- und Zehnkampfmeeting in Götzis etwa ist jedes Jahr ein Riesenerfolg. Vielleicht sollte der Sport mehr in diese Richtung denken und die Disziplin bei den traditionellen Wettkämpfen streichen. Ich bin mir dessen nicht sicher, aber man sollte es auf jeden Fall überlegen. Oder, wie wir in England sagen: Es darf keine heiligen Kühe geben. Nichts darf ausgeschlossen werden, bevor man nicht alle Möglichkeiten durchdacht hat. Auf diesem Weg muss sich der Sport selbst überprüfen.
"Niemand bezahlt für eine Sportveranstaltung, die ihn langweilt"
Friebe: Der deutsche Speerwerf-Olympiasieger Thomas Röhler sieht sich in einer Doppelrolle: Olympiasieger auf der einen, Unterhaltungsobjekt auf der anderen Seite. Ist das der Schlüssel für die Zukunft? Sportler als Unterhaltungsobjekte?
Warner: Hundertprozentig. Thomas Röhler unterhält mich. Es ist sensationell, wenn er den Speer über 90 Meter wirft – ich liebe es, ihm dabei zuzuschauen. Also, ja, absolut. Schauen Sie, Deutschland hat in den vergangenen Jahren in den Wurfdisziplinen große Unterhaltungsstars hervorgebracht, die das Land bei den großen Meisterschaften vertreten. Ich freue mich immer darauf, die deutschen Werfer zu sehen, weil sie wissen, worauf es ankommt. So, wie Usain Bolt diese Facette in den Sprint eingeführt hat oder andere Sportler in ihren Disziplinen. Ich denke da etwa an Valerie Adams im Kugelstoßen. Da sie schwanger ist, kann sie in London zwar nicht antreten, aber wenn sie in den Ring steigt, ist sie faszinierend: Ihr Umfang, ihre weiten Stöße oder die Art, wie sie das Publikum in ihren Jubel mit einbezieht. Wenn sie gewinnt, wirkt sie wie eine zierliche, emotionale Frau – und dennoch ist sie in ihrer Disziplin ein absoluter Koloss, eine unglaublich imposante physische Präsenz. Das ist eine wundervolle Kombination. So unterhält sie. Thomas Röhler hat also Recht: Wenn Du nicht unterhalten kannst, brauchst Du eigentlich gar nicht erst mitmachen. Niemand bezahlt für eine Sportveranstaltung, die ihn langweilt. Niemand will sich ein Ticket für ein langweiliges Fußballspiel kaufen – er will eine Partie sehen, die ihn unterhält. Sein Team wird vielleicht Tore schießen oder auch kassieren, aber in den Gesichtern der elf Spieler wird er Emotionen erkennen können. Das sollten die Zuschauer auch in den Gesichtern von Leichtathleten sehen, man muss erkennen können, dass es um etwas geht. Manche Athleten können das besser als andere und Röhler gehört sicherlich zu denen, die das sehr gut beherrschen.
Friebe: Ich habe gelesen, dass Sie Probleme bei der Sponsorensuche hatten. Hat das mit der fehlenden Unterhaltung zu tun, worüber wir sprachen?
Warner: Nein, es hat mit Doping zu tun. Viele Unternehmen hatten auf Grund der Dopingskandale in letzter Zeit Schwierigkeiten damit, sich in der Leichtathletik zu engagieren. Und das betrifft nicht nur die WM 2017. Schauen Sie sich die Liste an offiziellen IAAF-Sponsoren an, die ist nicht unbedingt lang. Und sie hat sich in jüngster Vergangenheit auch nicht groß geändert, außer der Ausrüsterwechsel von Adidas zu Asics. Die Vermarktungsabteilung der IAAF hat sich großen Herausforderungen gegenüber gesehen, so wie wir auch von London 2017. Wir werden zwar einen Gewinn mit der WM einfahren, aber vor allem deswegen, weil wir so viele Tickets verkauft haben. Unser finanzieller Erfolg gründet darauf, dass die Leute ins Stadion kommen – viele Werbepartner haben wir nicht. Wir konnten einige mit ins Boot holen, aber dafür war auch sehr viel Arbeit nötig. Wir mussten die Leute überzeugen, dass wir eine Sportart sind, bei der es sich lohnt, seine Marke zu platzieren – trotz allem, was mit Russland passiert ist.
"Ich hoffe, Russland kommt zurück. Aber es muss sauber zurückkommen"
Friebe: Der russische Dopingskandal ist eines der großen Themen der letzten Jahre. Die Welt-Leichtathletik hat sich davon immer noch nicht erholt?
Warner: Nein, hat sie nicht. Aber die Russen sind zurück. 19 von ihnen werden diese Woche hier an den Start gehen, unter neutraler Flagge...
Friebe:...eine richtige Entscheidung?
Warner: Ja. Ich bin davon überzeugt, dass die Leute, die diese 19 Athleten getestet haben, gute Arbeit gemacht haben. Es ist also richtig. Denn sehen Sie, wenn ein Russe hier Gold gewinnt und dann bei der Siegerehrung auf dem Podium steht, wird nicht die russische Nationalhymne, sondern die IAAF-Hymne gespielt. Das ist doch fast die größte Strafe, die Russland zugefügt werden kann. Es ist also in gewisser Weise richtig, was hier passiert, weil es Russland dazu zwingt, sich den eigenen Problemen zu stellen, indem sie sehen, dass einige Athleten hier antreten können, es ihnen aber verboten ist, ihre Nationalität zu feiern. Ich hoffe, Russland kommt zurück. Aber es muss sauber zurückkommen. Dieser Prozess scheint langsam zu verlaufen, da weiter Tatsachen geleugnet werden.
Friebe: Wird weltweit genügend dafür getan, um Doping zu bekämpfen?
Warner: Es gibt zu wenig Geld. Das ist offensichtlich, wenn man sich die Budgets der WADA oder der nationalen Anti-Doping-Agenturen anschaut. Je mehr Geld man zur Verfügung hat, desto mehr Tester kann man einstellen und mehr Ermittler, die Doping- und Korruptionsvorwürfen nachgehen können. Wir brauchen mehr Mittel. Das IOC muss der WADA mehr Geld geben, ebenso nationale Regierungen, internationale Verbände wie die FIFA oder die IAAF, sie alle müssen mehr geben. Die WADA müsste eine viel größere Einrichtung sein. Ihr Bestreben ist großartig, aber sie muss wachsen.
Friebe: Wenn wir über Doping sprechen, müssen wir auch über die Siegerlisten reden, die sich auf Grund von nachträglichen Disqualifikationen teilweise noch Jahre später ändern. In London gehen Sie deshalb neue Wege und veranstalten eine spezielle Siegerehrung nur für Sportler, die nun die ihnen einst verwehrten Medaillen erhalten. Ist das der richtige Schritt?
Warner: Ja, absolut. Wenn ein Athlet eine Medaille nicht gewinnt, weil jemand anderes dopt und das aber erst ein, zwei oder fünf Jahre später rauskommt, werden sie auch des Triumphmoments vor großem Publikum beraubt. Das ist für mich der traurigste Aspekt an der ganzen Geschichte. Unsere Idee war es, den betrogenen Sportlern diesen Moment zurückzugeben. Bislang wurden die neuen Medaillen per Post verschickt, nach dem Motto: Hier hast Du sie, herzlichen Glückwunsch. So können nun die Fans den Sportler beglückwünschen und es erinnert alle erneut an das Dopingproblem. Das ist nicht schön, aber wir können uns ja nicht davor verstecken. Also sehe ich es lieber, dass ein Athlet auf das Podium tritt, wenn er die Goldmedaille wirklich gewonnen hat, und seine Nationalhymne hören kann. Für mich ist das der einzig richtige Weg.
Erfolg oder Misserfolg von Trainern und Sportlern nicht an Medaillen festmachen
Friebe: Kann man diesen Augenblick zurückbringen?
Warner: Nein, natürlich nicht. Man kann nie genau diesen Moment zurückbringen, aber man kann einen neuen Augenblick erschaffen. Es ist ein schönerer Moment, als wenn man die Post öffnet und eine Goldmedaille findet. Hier haben sie die Chance, vor 60.000 Zuschauern aufs Treppchen zu steigen und sich beklatschen zu lassen. Es wird nicht so sein, wie es damals gewesen wäre, aber es ist besser als gar nichts.
Friebe: Zu Beginn unseres Gesprächs erzählten Sie von dem Vermächtnis, dass die Olympischen Spielen 2012 hinterlassen haben. Nun hat die Mail on Sunday letzte Woche einen Bericht veröffentlicht, demnach die Spiele von London die wohl schmutzigsten aller Zeiten waren. Wird das Vermächtnis von 2012 dadurch erheblich beschädigt?
Warner: Nein, also… ja, die Erinnerung an 2012 wäre natürlicher glanzvoller, hätte es diese Dopingenthüllungen nicht gegeben. Aber das ist die Herausforderung, der sich die Leichtathletik stellen muss – und andere Sportarten genauso. Wir waren an dem Punkt, an dem die Doper den Testern überlegen waren. Wir mussten an den Punkt kommen, an dem die Tester diesen Umstand beenden konnten. Es ist ein Wettrüsten zwischen den beiden Seiten.
Friebe: Zum Abschluss des Gesprächs will ich noch einmal auf Medaillen zu sprechen kommen. Wenn Die WM vorbei ist, werden wir den Medaillenspiegel anschauen und daran ablesen können, welches Land am erfolgreichsten war. Ist das in Anbetracht der Dopingproblematik nicht etwas, von dem wir uns verabschieden sollten?
Warner: Nein, ich finde, der Medaillenspiegel macht Spaß, die Leute lieben ihn, sie reden darüber. Trainer werden verflucht, wenn Medaillen verpasst werden. Wenn Medaillen gewonnen werden, fühlen sie Nationalstolz. Ich denke, in der Leichtathletik ist dieser Ländervergleich bei einer WM sehr wichtig, viel wichtiger als etwa bei einem Diamond-League-Meeting, wo die Athleten in ihren eigenen Leibchen an den Start gehen...
Friebe:...aber Sie sind kein großer Anhänger vom Medaillenzählen?
Warner: Nein, bin ich nicht. Man sollte es unterlassen, den Erfolg oder Misserfolg von einzelnen Trainern oder Sportlern einzig an Medaillengewinnen festzumachen, aber dennoch sollte man sich die Medaillenanzahl anschauen. Die Beurteilung sollte ganzheitlich erfolgen: Kommt der Sport voran? Gibt das Team sein bestes? Macht es alles aus seinen Möglichkeiten? Gibt es allen Teammitgliedern eine Chance, seinen Beitrag zu leisten? All diese Dinge muss eine Mannschaft beachten – und es muss Medaillen gewinnen. Man sollte sie also zählen, aber man sollte nicht alle Entscheidungen nur im Hinblick auf den Medaillenspiegel fällen. Das wäre ein Fehler. Einige Leute bewerten nur diesen einen Parameter, aber ich denke, man sollte noch mehr in die Beurteilung einfließen lassen. Aber die Fans kann man nicht davon abhalten, die Medaillen zu zählen. Würde man die Zahlen nicht selbst veröffentlichen, würden die Leute von sich aus anfangen zu zählen. Es gehört dazu, denn es ist ein Sport, in dem man für sein Land antritt. Und das ist doch eine der größte Freuden: Man wird auserwählt, um für sein Land anzutreten, für Deutschland, Großbritannien, die USA. Das sollte man nicht abschaffen.
"Wir dürfen Athleten nicht wie eine Ware behandeln"
Friebe: Sie sagen das ja vermutlich auch vor dem Hintergrund der großen Debatten, die es in Großbritannien derzeit gibt bezüglich der Wohlfahrt von Athleten, speziell jungen Sportlern. Passt das zusammen, das Wohlergehen von Athleten und Medaillen - der Druck, leisten zu müssen?
Warner: Es ist ein Problem hierzulande, so wie vermutlich auch in anderen Ländern. Und ich sorge mich, ob in allen Sportarten wirklich immer ethisch korrekt nach Medaillen gestrebt wird. Wir müssen sicherstellen, dass man sich jederzeit um die Athleten kümmert, auch nach ihrer Karriere. Wir dürfen sie nicht wie eine Ware behandeln. Sie sind keine Ware, sondern Menschen, die dieselbe Aufmerksamkeit, Betreuung und korrekte Behandlung verdient haben, die wir uns in jeder Lebensphase wünschen. Sie unterscheiden sich durch ihr Athletendasein, weil ihre Leistung öffentlich und messbar ist, aber ansonsten sind sie wie wir. Wir sollten das jederzeit anerkennen.
Friebe: Um das abzuschließen: Braucht es ein spezielles Wohlfahrtprogramm, um gegen Missbrauch vorgehen zu können? Und sollte das bei jedem Sportfördersystem eine Rolle spielen?
Warner: Ja, so sollte es sein. Das ist in meinen Augen absolut richtig. Und der Fördergeber UK Sport hat dies auch erkannt und die Beträge erhöht. Aber das sollte auch Bestandteil davon sein, was der britische Leichtathletikverband tut, was der deutsche Verband tut oder auch die internationalen Verbände. Definitiv.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.