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Dlf-Sportgespräch zur Mitbestimmung von Athleten
„Der Wert der Athleten muss anerkannt werden“

Athletenkommissionen streben nach mehr Unabhängigkeit von den Verbänden und kämpfen für mehr Rechte, insbesondere nach dem Doping-Skandal in Russland. Dieser habe die Athletengemeinschaft aufgerüttelt, sagte die kanadische Skilangläuferin Beckie Scott im Dlf-Sportgespräch. Doch wohin steuern die Athleten?

Beckie Scott, Emma Terho und Moritz Geisreiter im Gespräch mit Marina Schweizer |
Die israelische Delegation beim Einmarsch zur Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro
Aufstand oder Gehorsam? Wohin steuern die Athleten? (Picture Alliance / EPA / Valdrin Xhemaj)
Marina Schweizer: Heute mit einer Gesprächsrunde, die ich am Rande der sportpolitischen Konferenz "Play the Game" in Colorado führen konnte. Dort habe ich mit drei Athletenvertreterinnen sprechen können, die in ganz unterschiedlichen Organisationen als Klassensprecher gewählt sind. Athleten weltweit organisieren sich. Athletenkommissionen streben nach mehr Unabhängigkeit von den Verbänden und kämpfen für mehr Rechte – in einigen Ländern haben Athleten einer strengen IOC Regel erwirkt, dass sie im für sie wertvollen Zeitraum um Olympische Spiele auch Geld mit Sponsoren verdienen können. Das ist nur ein Beispiel.
"Aufstand oder Gehorsam? Wohin steuern die Athleten?" Das besprechen wir mit:
Emma Terho, ehemalige finnische Eishockeynationalspielerin und heute Teil der Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees. Mit Beckie Scott, kanadische Olympiasiegerin im Skilanglauf und scheidende Vorsitzende der Athletenkommission der Welt-Anti-Doping-Agentur und Moritz Geisreiter, ehemaliger Eisschnellläufer und Präsidiumsmitglied der unabhängigen Interessenvertretung Athleten Deutschland.
Russischer Dopingskandal führte zu Aufschrei
Thank you everybody for being here. Die Konferenz trug den Titel: Die aufsteigende Macht der Athleten. Lassen Sie uns das doch gleich zu Beginn mal aufgreifen: Beckie Scott, wo haben Sie konkret einen Machtzuwachs für Athletinnen und Athleten wahrgenommen - oder haben Sie das überhaupt?
Beckie Scott: Danke für die Einladung zum Gespräch. Ich glaube schon, dass die Macht der Athleten zunimmt. Das haben wir insbesondere in den vergangenen beiden Jahren sehen können. Und wahrscheinlich war das einschneidendste Ereignis der russische Dopingskandal. Da gab es so einen Aufstand und einen Aufschrei aus dem Kreis der Athleten über die Art, wie damit umgegangen wurde. Das war die gute Seite daran. Dass es die Athletengemeinschaft aufgerüttelt hat. Sie haben angefangen, sich einzusetzen und auf ihre Rechte hinzuweisen. Und jetzt sehen wir alle möglichen neuen Kommissionen und Komitees, die sich aus dieser Bewegung heraus gegründet haben. Sie haben eine lautere Stimme und sie bekommen dafür Anerkennung.
Schweizer: Moritz Geisreiter, dem Vernehmen nach gab es genau ab dieser Russland-Entscheidung auch das Bestreben in der deutschen Athletenkommission nach mehr Unabhängigkeit vom Deutschen Olympischen Sportbund. Wie ist das jetzt in Deutschland - haben Sie das Gefühl, dass damit jetzt mehr Macht einhergeht?
Geisreiter: Das ist ein guter Punkt. Ich glaube, wir sind in Deutschland genau in diese Phase eingetreten: eine neue Art der Athletenvertretung. Wir haben Athleten Deutschland Ende 2017 gegründet, also ungefähr vor zwei Jahren. Der unabhängige Verein besteht also erst seit zwei Jahren. Das macht einen großen Unterschied für uns und auch die Athleten in Deutschland ganz generell. Aber das ist nicht nur in Deutschland so. Wir sitzen jetzt hier zusammen und sprechen über die Möglichkeiten und das Gefühl, wie es ist, dass jetzt die Athleten überall ihre Stimme erheben und das treibt uns in Deutschland natürlich auch an. Der russische Dopingskandal war auch für uns eine Initialzündung. Und wir sind in Deutschland jetzt in der Situation, dass in der Athletenkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes genau die gleichen Leute sitzen, wie im unabhängigen Verein Athleten Deutschland. Und jetzt haben wir die Möglichkeit, viel freier zu agieren als früher. Und das öffnet viele Türen für uns, wenn es darum geht, dass wir uns weiterentwickeln. Wir freuen uns, dass wir uns hier mit anderen Athletengruppen treffen und diskutieren und das alles vorantreiben können.
"Dinge verändern sich nicht über Nacht"
Schweizer: Emma Terho, Sie sind ja in der IOC-Athletenkommission. Da war der russische Dopingskandal ein großes, sehr kontroverses Thema. Das IOC gibt ja vor, man wolle Athleten ins Zentrum der Entscheidungsfindung stellen. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Dinge nach der Russland-Entscheidung verändert haben?
Terho: Ja, also erst einmal muss ich den anderen beiden zustimmen: Athleten kümmern sich inzwischen mehr um Probleme, die sie betreffen. Und das ist eine sehr gute Sache, weil die Athleten ja den Sport machen und sie sind die Haupt-Interessensgruppe. Die Tatsache, dass sie ihre Meinung sagen, ist sehr positiv. Natürlich verändern sich die Dinge nicht über Nacht. Und klar, der Russland-Fall war etwas, das sehr viele Athleten berührt. Aber sogar schon davor gab es Schritte im IOC, bei denen die Athleten in der Organisation daran gearbeitet haben, mehr Positionen und Macht zu bekommen. Das hat natürlich schon angefangen, als die Athletenkommission gegründet wurde, aber natürlich will man kontinuierlich daran arbeiten, dass Athleten im Sport mehr Einfluss haben.
Schweizer: Wenn wir über Einfluss im IOC sprechen - als Erklärung für die Zuhörer: Athleten haben nur eine einzige Stimme im Vorstand. Eine Stimme für alle Athletinnen und Athleten in der Welt. Würden Sie sagen, dass Sie mit der Geschwindigkeit der Veränderungen im IOC zugunsten der Athletenrechte zufrieden sind?
Terho: Ich glaube, der Schlüssel ist, dass in allen IOC-Arbeitsgruppen ein Athletenvertreter sitzt. Das bedeutet, dass Athleten bei der Entscheidungsfindung mitreden können - schon lange bevor es in den Vorstand geht. 15 IOC-Mitglieder sind Athleten - das sind genau so viele wie Vertreter von den internationalen Sportverbänden. Es hat Initiativen gegeben, die wir angeschoben haben, wie ein Karriere-Plus-Programm für Athleten und gerade setzen wir uns auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit von Athleten ein. Und dann gibt es noch das Beispiel der Neuvergabe von Medaillen - da können Athleten unter verschiedenen Möglichkeiten auswählen, welche Art von Medaillenzeremonie sie bekommen wollen. Die wird vom IOC bezahlt. Es gibt noch viel zu tun, aber ich glaube, es gab einige positive Schritte. Und ich denke auch, es gibt Platz für verschiedenartige Athletengruppierungen.
Beckie Scott berichtet von Eskalation in der WADA
Schweizer: Beckie Scott hat ihre ganz eigene Erfahrung mit der Athletenvertretung - auch der Athletenstimme im IOC. Können Sie das erläutern: Wann gab es Zeiten, als Sie nicht öffentlich sagen konnten, was Sie wollten?
Scott: Meine Erfahrung kommt natürlich mehr aus der WADA als aus dem IOC. Ich denke, eine der angeborenen Beschränkungen von Organisationen mit einer eigenen Athletenkommission ist die Unfähigkeit, mit abweichenden Meinungen umzugehen. Als zum Beispiel die Athletenkommission in der WADA eine andere Position zum Umgang mit dem Fall Russland einnahm als die WADA-Führung, da gab es eine unglaublich große Spannung zwischen der Athletenkommission und dem Führungspersonal. Das ist eskaliert und das hat sich auch offen gesagt nicht gelöst. Das hat mich zum Nachdenken über Athletenkommissionen gebracht. Darüber, wie eingeschränkt sie sind, wenn sie innerhalb der Organisation angesiedelt sind. Also, wenn ich mir zum Beispiel "Athleten Deutschland" ansehe und die Art und Weise, wie sie sich unabhängig gemacht haben, dann denke ich: Wenn die Organisation nicht wirklich engagiert ist und gewillt, Athleten und ihrer Sicht zuzuhören – dann funktioniert es nicht.
Beckie Scott, Vorsitzende der Athletenkommission der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA, spricht am 5. Juni 2018 auf einer Pressekonferenz im Anschluss an das erste Global Athlete Forum in Calgary, Alberta.
Beckie Scott auf dem Global Athlete Forum in Calgary (The Canadian Press / AP Photo / Jeff McIntosh)
Weil sobald Sie eine Konfliktsituation oder Meinungsverschiedenheit haben, muss man damit umgehen. Entweder Sie sind außerhalb der Organisation, sagen Ihre Meinung und bringen das so zu Gehör oder Sie müssen in einen konstruktiven Prozess in der Organisation eingebunden sein. Aber es einfach auszuschalten, das funktioniert nicht.
Schweizer: Um es also zusammenzufassen: Sie würden sagen, dass sich die IOC und WADA Athletenkommissionen im besten Fall lossagen sollten und unabhängig werden sollten?
Scott: Nicht unbedingt. Ich glaube schon, dass Athletenkommissionen innerhalb einer Organisation einen Platz haben. Ich glaube, dadurch kann eine Organisation aufgewertet werden - aber die Organisation muss diesen Wert erkennen. Sie muss eine Athletenkommission als einen Gewinn betrachten und als einen Körper, der die Auftraggeber repräsentiert. Ohne Athleten gibt es keinen Sport und auch keine Sportorganisationen. Es muss also eine verankerte Anerkennung geben, dass das das Menschen sind, die im besten Interesse und im Auftrag der Menschen agieren, für die die Organisationen erschaffen wurden. Und ich glaube, es gibt wirklich Platz für alle möglichen Arten von Athletenstimmen und unterschiedliche Gruppen und Vertretungen. Ich glaube, es gibt einen Ort für die Athleten in der Organisation, so lange die Offenheit und der Wille da ist, es auch einmal zu akzeptieren, wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt.
Schweizer: Moritz Geisreiter, Athleten Deutschland hat sich ja losgesagt und hat die Athletenkommission im DOSB. Lassen Sie uns mal ein plastisches Beispiel herausnehmen. Athleten Deutschland hat sich dafür eingesetzt, dass die Regel 40 der Olympischen Charta zugunsten der Athleten gelockert wird. Eine Regel, die die Werberechte der Athleten während Olympischer Spiele einschränkt. Hätten Sie sich genauso offen äußern können, wenn Sie eine Athletenkommission allein innerhalb des DOSB gewesen wären, ohne den unabhängigen Verein?
Neuer Verein sorgt laut Geisreiter für mehr Freiheit in der Meinungsäußerung
Geisreiter: Ich glaube, wir hätten uns nicht so offen und klar äußern können, wenn wir nur die Athletenkommission innerhalb des Verbandes gehabt hätten. In dieser Situation konnten wir unsere Meinung frei sagen. Aber die Schritte, die davor gegangen wurden und die ja aus wirklich gefühlten Einschränkungen heraus entstanden sind, weil wir Teil des DOSB waren, haben ja zur Gründung des Vereins geführt. Aber jetzt ergibt es sehr viel Sinn, dass wir unsere Gedanken zur Regel 40 des IOC äußern, im Namen des Vereins Athleten Deutschland. Das spiegelt unser Selbstverständnis als unabhängiger Verein wider.
Schweizer: Warum sind Sie denn überhaupt drin geblieben? Um ein Ohr an den Verhandlungstischen zu haben oder was war der Gedanke dahinter?
Geisreiter: Wir kooperieren ja immer noch mit vielen Gruppen und eine davon ist der Deutsche Olympische Sportbund. Ein Repräsentant aus unserem Vereinspräsidium ist Teil des DOSB-Präsidiums und ist einfach bei normalen Diskussionen dabei. Ich bin auch in einem Gremium des DOSB. Es gibt also Zusammenarbeit auf vielen Ebenen, das wollen wir auch so beibehalten und sogar erweitern. Es geht nicht darum, etwas dicht zu machen, um etwas anderes Revolutionäres zu starten. Es hilft uns einfach, die Kooperationen, die wir bereits hatten, weiterzuführen und sie mit etwas Druck zu verbessern, weil wir jetzt eben über den DOSB hinaus wachsen können. Das macht unsere Arbeit einfach effektiver.
Schweizer: Emma Terho, hätten Sie sich innerhalb der IOC-Athletenkommission so offen zur Regel 40 äußern können?
Terho: Es hat Initiativen gegeben, bei denen es angesprochen wurde. Es wird Zeit brauchen, um das im System durchzukriegen. Es gab zum Beispiel beim IOC Athletenforum viele Diskussionen darüber.
Schweizer: Das müssen wir kurz erklären. Es gab ein Athletenforum mit Hunderten Athleten dieses Jahr, das vom IOC zum ersten Mal ausgerichtet wurde.
Interessen der Athleten im IOC werden vorsichtig ausgelotet
Terho: Genau. Ich glaube, das ist was, wo wir mit diesen Arten von Athletengruppen zusammen arbeiten müssen. Damit Athleten ihre eigenen Sponsoren nutzen können. Es ist keine Schwarz-Weiß-Entscheidung. Es wäre eine positive Sache, wenn die Regularien gelockert werden. Aber es muss sichergestellt sein, dass es gut gemacht wird, damit wir die Zukunft des Sports nicht gefährden. Wir müssen eine Balance halten zwischen Möglichkeiten für die Sportler, ohne alles völlig zu öffnen. Die Top-Sponsoren des IOC machen vieles möglich, aber es soll auch eine Bühne für junge Athleten geben, auf der sie mehr Sponsoren anlocken können. Aber ja, ich glaube, dass die Lockerung eine gute Sache ist.
Schweizer: Jetzt haben Sie das Athletenforum angesprochen. Es scheint ja, als gäbe es verschiedene Sichten auf die Verteilung der Gewinne des IOC. Ist es nicht ein Interessenkonflikt für Sie, die Sicht des IOC als Mitglied in der Athletenkommission zu vertreten und gleichzeitig die Sicht der Athleten zu vertreten? Denn vielleicht will das IOC gar nicht so viel Geld an die Athleten ausschütten?
Terho: Ich würde dem nicht zustimmen. Es ist vielleicht eine Art von Interessenkonflikt, wenn ein Athlet aus einem sehr armen Land kommt, der keine Chance auf starke Trainingsbedingungen und ähnliche Dinge hat. Denn er ist abhängig von Solidaritätsprogrammen.
Emma Terho in leitender Funktion bei der finnischen Olympiamannschaft während der Olympischen Winterspiele 2018  in Pyeongchang
Emma Terho während der Olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang (Lehtikuva / dpa / Jussi Nukari)
Es muss eine Balance zu solchen Athleten auf der anderen Seite geben, die auf dem Höhepunkt der Karriere die Möglichkeit haben, auf andere Art Geld zu bekommen. Das ist vielleicht nicht mal ein Konflikt, aber das muss eben ausgewogen sein. Damit es auch Chancen gibt, Geld in den Solidaritäts-Modellen des IOC über die Nationalen Olympischen Komitees an die ärmsten oder jungen Athleten in diesen Ländern auszuschütten. Dann können diese sich hocharbeiten, bis sie eben in der Lage sind, Sponsorengelder zu generieren, wenn die Regel gelockert wird. Also: Ich glaube, das ist kein Interessenkonflikt zwischen der Organisation und den Athleten. Ich glaube, unser Job ist es, uns klar zu machen, was das Beste für die Athleten ist – auch, wenn sich das nicht mit der offiziellen Haltung des IOC deckt.
Schweizer: Ist das nicht ein grundsätzliches Problem der Repräsentation von einem Personenkreis? Es gibt also Athleten auf der ganzen Welt, die ganz unterschiedliche Standpunkte zu gewissen Themen haben. Manche von ihnen legen ihr Augenmerk stark auf Punkte wie die Regel 40, manche haben vielleicht auch ein anderes Verständnis von demokratischen Prozessen. Wird hier Repräsentation wirklich knifflig, Beckie Scott?
Scott: Wissen Sie, eine Sache, die uns immer wieder begegnet ist im Vorstand, ist die Idee, dass es einen Konsens geben müsste - unter allen Athleten. Also, alle Athleten sollten unter einem Schirm repräsentiert sein. Und wenn man mit Konsens daherkommt, dann hat man eine stärkere Position. Aber das ist ein Standard, den man unmöglich erreichen kann. Wir reden hier über Sport, weltweit, über alle kulturellen Unterschiede hinweg, verschiedene Sportarten, Gender. Konsens sollte wirklich nicht das Ideal sein. Deshalb glaube ich, wenn wir uns die Sportlandschaft mal ansehen und alle Arten der Repräsentation, die da gerade entstehen, dann muss man sagen: Es ist eine gute Sache! Es ist gut, Diversität zu haben, auch unterschiedliche Meinungen. Und wenn wir uns irgendwo treffen können, wo es Zusammenarbeit gibt und gemeinsame Positionen, dann können wir da nach vorne kommen. Und dann können wir auch mobilmachen in solchen Dingen wie der Regel 40.
Homogene Athletenmeinung utopisch
Es war der Verein "Athleten Deutschland", der diese Bewegung angeführt hat. Aber jetzt gibt es andere Athletenkommissionen in Nationalen Olympischen Komitees, die folgen. Und sie waren davon inspiriert. Dann gibt es auch Veränderung. Aber die Vorstellung, dass man da mit einer Stimme sprechen muss, dass es da diese eine Vereinigung gibt, die für alle Athleten spricht, die ist wirklich irreführend. Und die Sportgemeinschaft muss das anerkennen. Es ist unrealistisch und sogar unmöglich.
Schweizer: Aber wie realistisch ist das? Moritz Geisreiter, wenn Sie zum Beispiel eine Stimme im Vorstand haben – Sie haben die Athletenvertretung, Sie können abstimmen. Vielleicht müssen Sie keinen Konsens haben, aber am Ende müssen Sie sich ja trotzdem entscheiden, wie Sie abstimmen. Wie ist das möglich? Ist das nicht eine der Kernfragen?
Geisreiter: Wir müssen das überwinden. Ich stimme total mit Beckie überein. So lange Sie den Athleten eine Stimme geben und von ihnen erwarten, dass sie mit einer Stimme für alle sprechen können, ist das sehr schwer zu erreichen. Und es ist vielleicht noch nicht mal fair. Ich glaube, es gibt nie die totale Übereinstimmung. Also, so lange von Athleten erwartet wird, dass sie ihre Meinung über eine Stimme ausdrücken, unterdrücken Sie die Meinung auch ein bisschen. Ich will nicht sagen, dass das eine Taktik oder Technik ist, aber es ist ein Zustand, der verändert werden sollte, um Athleten ein gleichberechtigtes Mitspracherecht zu geben.
Schweizer: Sie deuten jetzt an, dass es eine Taktik der Verbände sein könnte. Weil Sie keine starke Athletenstimme haben wollen? Weil eine vereinte Stimme nicht so schlagkräftig sein kann wie ein Konsens. Verstehe ich Sie da richtig?
Geisreiter: Ich will mir gar nicht vorstellen, dass es eine Taktik ist. Weil wir gerade sehen, dass es so ein sichtbares, breites Meinungsspektrum unter Athleten gibt und Athleten übernehmen immer mehr Verantwortung, wenn es um die Entwicklungen in ihren Sportarten geht. Ich glaube, es ist einfach die aktuelle Situation und wir werden sie ohnehin überwinden. Wenn das Taktik wäre, wäre sie vorübergehend. Weil ich glaube, dass sich das verändern wird.
Der Eisschnellläufer Moritz Geisreiter, Aktivensprecher bei der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft und Mitglied der Athletenkommission beim DOSB, nach einem Rennen
Eisschnellläufer Moritz Geisreiter (dpa / Peter Kneffel)
Schweizer: Was lässt Sie da so sicher sein?
Geisreiter: Zum Beispiel die Erfahrung der Tage hier auf dieser Konferenz. Ich sehe hier so viele Leute mit Ideen im Kopf und auf den Lippen. Athleten werden mitmachen müssen, wenn es darum geht, die Sportwelt zu gestalten. Das ist eine gute Sache, aber auch eine Herausforderung. Aber das ist das, was ich hier erfahre, sehe, schmecke.
Schweizer: Dann sind wir ja schon bei der Internationalisierung. Beckie Scott und Emma Terho, Sie haben Ihre eigene Erfahrung mit Entscheidungsgremien in internationalen Sportorganisationen. Vielleicht an Sie, Beckie Scott: Es scheint gerade viele Rufe danach zu geben, dass sich diese Athletenbewegungen zusammenschließen sollen. Wenn man international noch mehr verschiedene Standpunkte unter einen Hut bringen muss, ist es die größte Herausforderung, so etwas überhaupt zu gründen? Oder geht es um die Schwierigkeit, Konsens zu finden?
Scott: Das ist eine gute Frage. Ob es wirklich in der Realität so weit kommt, ist eine andere. Verschiedenartigkeit bei Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt kann als eine Chance angesehen werden. Ich sage das jetzt von meiner Sichtweise aus dem Anti-Doping-Kampf, weil wir haben tatsächlich eine sehr diverse Athletenkommission, die Mitglieder kommen aus allen Ecken der Welt. Wir lernen dabei und finden oft Gemeinsamkeiten, auf denen wir aufbauen können. Ob wir jetzt am Ende mit einer großen internationalen Athletenvertretung dastehen - ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringt. Was aber jetzt in nationalem Rahmen und in nationalen Sportfachverbänden angefangen hat, ist sehr gut. Und wenn man da Gemeinsamkeiten findet, auf denen man aufbauen kann und eine Basis, um Dinge voranzutreiben, dann ist das wunderbar. Vielleicht ist das schon einmal eine gute Ausgangslage.
Schweizer: Sie sprachen während dieser Konferenz hier über einen Teufelskreis der Ineffektivität, der im Konstrukt Athletenkommission eingebacken ist. Können Sie sagen, was Sie damit meinten? Denn das könnte ja ein wichtiger Anknüpfungspunkt für eine internationale Bewegung sein.
Scott: Als ich das erwähnte, habe ich aus meiner Erfahrung aus der Beobachtung von Athletenkommissionen in Nationalen Olympischen Komitees und internationalen Sportverbänden gesprochen. Das sind oft nur symbolische Kommissionen. Weil sie gar nicht die Werkzeuge bekommen haben, um effektiv zu sein und bedeutsam. Und das ist nicht die Schuld der Athleten oder der Kommission, sondern der Organisation und der Struktur, in die diese Athletenkommission hineingesetzt wurde. Mit kommt es so vor, als habe sich das ein wenig verändert, aber von den Leuten in der Kommission, die die Initiative ergriffen und die Fähigkeit haben, diese Veränderungen einzuleiten. Nicht, weil die Organisation sie für den Erfolg gerüstet hätte. Und das ist schade, denn Athleten sind die Partei am Verhandlungstisch, die am wenigsten Interessenkonflikte mitbringt. Athleten sitzen da wirklich nur im Interesse des Sports und derer, die sie repräsentieren. Wenn Organisationen das erkennen, mit all dem Wert, den eine Athletenkommission für sie haben kann, dann werden sich gute Dinge entwickeln.
Schweizer: Emma, haben Sie eine Idee, wie Athletinnen und Athleten einen besseren Hebel bekommen können – nicht nur innerhalb ihrer Organisation, auch außerhalb?
Auf regionale Besonderheiten achten
Terho: Ja, ich denke, es ist wichtig, dass bestimmte Themen, die sehr regional sind,anders angegangen werden müssen. Wenn wir jetzt zum Beispiel von westlichen Ländern ausgehen, da könnte es große Unterschiede schon zwischen den Ländern und den Sportarten geben. Aber wenn es um Hebel bei bestimmten anderen Themen geht, da brauchen wir eine weltweite Diskussion unter Athleten. Und da müssen wir von spezialisierten Athletengruppen profitieren, damit wir in einzelnen Ländern etwas verändern können. Ob es jetzt vom Athletenvertreter der WADA-Athletenkommission um Expertise in Anti-Doping-Fragen geht, oder etwas ähnliches. Es braucht ein Netzwerk, um zwischen den unterschiedlichen Athletengruppen Kontakt aufzubauen. Im IOC versuchen wir das schon hier und da.
Schweizer: Was wäre Ihr Vorschlag für mehr Hebelwirkung, Moritz Geisreiter?
Geisreiter: Bildung für junge Athleten. Ich glaube, die Athleten, die jetzt jung sind, wachsen in die Generation hinein, die wir hier jetzt erleben. Es wird immer normaler für Athleten, sich offen zu äußern. Nicht nur im Sinne einer Revolution oder von Herumschreien und böse sein. Eher in dem Sinne, dass man einen Sport mit den Organisationen neu formt. Es geht darum, dass Athleten hier herangeführt werden, indem sie das immer häufiger beobachten. Und das in Kombination mit der Entwicklung, die wir gerade sehen, ist die stärkste Hebelwirkung, die wir uns vorstellen können. Also: Wir müssen weiter in diese Richtung gehen, junge Leute werden das mit ansehen und ich glaube, sie werden uns folgen.
Schweizer: Und am Ende die Frage an Beckie Scott. Ihre Organisation, die WADA, wurde viel kritisiert für ihre Strukturen. Es sieht danach aus, als wären da ein paar Veränderungen auf dem Weg. Was wünschen Sie sich da für die Zukunft und die Hebelwirkung?
Scott: Vor allem diese Organisation mit der Hauptinteressengruppe Athleten muss sich der Idee annehmen, dass Athleten mit am Tisch sitzen und auch immer mehr mitreden und da auch eine Rolle spielen. Da sind wir noch lange nicht. Aber wenn sich die Organisation verändert, dann muss der Wert der Athletenstimme in der Führung anerkannt werden. Und bis das passiert, wird diese Spannung bestimmt noch anhalten. Aber wenn Athleten da ein Vertrauen aufbauen, dass es eine starke Vertretung gibt, die sich wirklich nur für die Athleten einsetzt, dann werden sich die Dinge verändern.
Das war das Sportgespräch mit dem Titel: "Aufstand oder Gehorsam? Wohin steuern die neuen Athletenbewegungen?" Mit dabei waren Moritz Geisreiter, Präsidiumsmitglied von Athleten Deutschland, Emma Terho, finnisches Mitglied in der IOC-Athletenkommission und die Kanadierin Beckie Scott, scheidende Vorsitzende der Athletenkommission der Welt-Anti-Doping-Agentur.
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