Ein zentraler Ausstellungsort der documenta 14 liegt jenseits einer mehrspurigen vielbefahrenen Straße. Wie eine Schneise trennt sie die Innenstadt von einem Viertel, das sich Nordstadt nennt, aber südlich geprägt ist: Hier gibt es türkische Bäckereien und Dönerbuden, syrische Restaurants und Büros für Geldtransfers, Shishabars und Wettbüros. Und mittendrin einen riesigen brutalistischen Betonbau aus den 70er-Jahren: Die sogenannte "Neue Hauptpost".
"Das Gebäude war und ist ein Ort der Arbeit", sagt Kurator Hendrik Folkerts.
"Deshalb schafft es eine ideale Situation, um über Spuren der Vergangenheit zu sprechen und darüber, wie sich unser Verhältnis zur Arbeit im Laufe der Zeit verändert hat."
"Jugoslawien existiert"
"Seductive Exacting Realism" heißt eine mehrteilige Installation und Performance in der 4. Etage, dort, wo einmal die Kantine der Hauptpost war. Die serbische Künstlerin Irena Haiduk zeigt dort unter anderem Produkte einer von ihr gegründeten Firma, die sie nach historischem Vorbild "YugoExport" nennt.
"'YugoExport' kopiert einen jugoslawischen Textilhersteller und Waffenexporteur, gegründet 1953. In den 90er-Jahren verfiel die Firma mit dem Bosnienkrieg und dem allgemeinen Niedergang der Wirtschaft."
Irena Haiduk ließ nun von ehemaligen "YugoExport"-Arbeiterinnen "Yugoform" produzieren – ein langes schlichtes Kleid, außerdem Borosana-Schuhe, knöchelhoch geschnürte Gesundheitsschuhe, die früher die Arbeiterinnen in Jugoslawien trugen. Auf der documenta spazieren nun junge Frauen kerzengerade mit Büchern auf dem Kopf und in "Yugoform"-Kleidern und orthopädischen Borosana-Schuhen über einen schwarzen Laufsteg. Die Künstlerin nennt diese "yugoformierten", komisch ernsten Grazien eine "Armee der schönen Frauen"... Jugoslawien-Nostalgie sei aber nicht im Spiel.
"Ich glaube, dass Jugoslawien nach wie vor existiert. Weil ´Yugoexport` damals Waffen für die jugoslawische Armee produzierte, und in Europa kursiert immer noch eine große Menge dieser Waffen – sie werden bei Terrorangriffen benutzt."
24 Künstlerinnen und Künstler in der "Neuen Neuen Galerie"
Arbeiten von insgesamt 24 Künstlerinnen und Künstlern sind in der "Neuen Neuen Galerie" zu sehen. Der Amerikaner Dan Peterman hat aus Eisenstaub recycelte Eisenbarren in weiße Säcke gefüllt und zu einer Installation arrangiert, die mit der Formensprache der amerikanischen Minimal Art spielt. Und die palästinensische Fotografin Ahlam Shibli hat sich besonders intensiv mit der Situation der Menschen beschäftigt, die rund um die alte neue Hauptpost in der Kasseler Nordstadt leben. Unter dem Titel "Heimat" forscht sie in einer Serie von rund 50 Fotografien danach, wie zwei unterschiedliche Gruppen von Menschen in Kassel und Nordhessen heimisch wurden:
"One is the Heimatvertriebenen and the second group ist the Gastarbeiter."
Über mehrere Monate hinweg portraitierte Ahlam Shibli verschiedene Generationen und Orte beider Gruppen – zu Hause mit der Familie, beim Vertriebenentreffen oder im Vereinsheim des türkischen Fußballklubs, Friedhöfe, Kirchen oder das 2012 eingeweihte Mahnmal für Halit Yozgat, ein Kasseler Mordopfer des NSU. Schmerz und Trauer sind spürbar auf den Bildern, aber auch die Kraft, in Kassel nach dem Zweiten Weltkrieg so etwas wie "Heimat" kreiert zu haben. Ziemlich unpathetisch arbeitet die Palästinenserin Ahlam Shibli da an einem Verständnis der deutschen Gegenwart, das tiefer reicht als Nachrichten, Dokumentationen oder soziologische Studien. Fotokunst, für die sich der documenta-Ausflug in die Kasseler Nordstadt gelohnt hat.