Im letzten Jahrzehnt konnte man innerhalb der zeitgenössischen Kunst und Performance ein wachsendes Interesse an diesem Thema der Partitur beobachten. Wie erzeugt sie Bedeutung? Worin besteht das Verhältnis zwischen einer Partitur in der Musik und den Formen der Notation, die für die bildende Kunst kennzeichnend sind? Wofür steht eine Partitur?
Hendrik Folkerts ist Kurator der documenta 14 und betreut dort Performances und Film, sowieso Kunst in Südostasien und Australien. Am Stedelijk Museum in Amsterdam ist er Kurator für Performance, Film & Diskursive Programme. Er studierte Kunstgeschichte an der Universität Amsterdam und ist spezialisiert auf zeitgenössische Kunst.
Barbara Schäfer: documenta 14 - Gedanken zur Kunst. Heute mit einem Gespräch mit Hendrik Folkerts.
Hendrik Folkerts ist Kurator der documenta 14 und betreut dort Performances und Film sowie Kunst in Südostasien und Australien. Der in Friesland geborene Kunsthistoriker studierte an der Universität Amsterdam und ist spezialisiert auf zeitgenössische Kunst. Am Stedelijk Museum in Amsterdam war er bis 2015 Kurator für Performance, Film & Diskursive Programme, anschließend Curator in Residence an der Nanyang University Singapur. Im documenta 14-Magazin South as a State of Mind erschien sein Essay Der Partitur nach. Notation, Verkörperung und liveness.
Zitator:
"Zur Annäherung an eine Definition: Die Partitur [score] ist ein Notationsapparat, der das Material einer Disziplin - Musik, Tanz und Performance, aber auch Architektur, Linguistik, Mathematik und Physik - und ihre Wissenssystematik mit einer Sprache verbindet, die eine Beschreibung, Übertragung und Bezeichnung produziert, um in jeder gewünschten Form gelesen, aufgeführt oder ausgeführt werden zu können. Im letzten Jahrzehnt konnte man innerhalb der zeitgenössischen Kunst und Performance ein wachsendes Interesse an diesem Thema der Partitur beobachten. Wie erzeugt sie Bedeutung? Worin besteht das Verhältnis zwischen einer Partitur in der Musik und den Formen der Notation, die für die bildende Kunst kennzeichnend sind? Wofür steht eine Partitur? Auf welche Weise vermag sie den lebendigen Augenblick zur Aufführung zu bringen? Und ist es möglich, die Chronologie, in die ein solches Verhältnis traditionell eingebettet ist und der zufolge die Partitur dem Live-Moment vorausgeht, umzukehren?"
Hendrik Folkerts, Der Partitur nach
Die Partitur in der Bildenden Kunst
Schäfer: Partituren sind allgemein bekannt aus der Musik. Seit wann beobachten Sie ein gesteigertes Interesse an Partituren in der Bildenden Kunst?
Hendrik Folkerts: Um einen Schritt zurückzugehen: Ich denke, es war Wittgenstein, der in der Philosophie sich Gedanken machte zum Verhältnis von Sprache und dem Visuellen. Ich glaube, das hat das Denken vieler Künstler inspiriert seit den ‘50er‑Jahren, der Nachkriegszeit, das Verhältnis zu hinterfragen von dem, was du liest, und dem, was du siehst, dem was du hörst und dem was du performst/darstellst. Also wenn wir Bach oder Beethoven nehmen, große Komponisten, sie hatten eine musikalische Sprache in ihren Partituren, die in einer direkten Verbindung zu dem stand, was man hörte. Also eine Note bedeutete genau diesen Klang, dieses Volumen. Und in den 1950ern begannen Künstler dieses Verhältnis zu hinterfragen. Es wurde eine größere philosophische Bewegung, die von den ‘50ern in die ‘60er, ‘70er bis in die 1980er‑Jahre reicht. Philosophen wie Roland Barthes untersuchten, geprägt von dem Strukturalisten de Saussurre, das Wort und seine Bedeutung bzw. das Wort und das damit Gesehene zu untersuchen.
Und so gab es Künstler, die in den Bereichen von Musik, Sound, Performance arbeiteten, die Visuelles und dessen Bedeutung auseinandernahmen. Und das führte zu frühen künstlerischen Experimenten, die meisten in Amerika, Vorboten der konzeptuellen Kunst (Concept Art). Da entstanden visuelle Partituren, die keine natürliche Verbindung zu dem haben, was du bei der Performance hörst, offen für Interpretation. Also eröffnete sich ein ganzes Feld, mit ganz vielen Variationen, sicher abhängig vom jeweiligen Künstler, wie er oder sie visualisiert oder sprachlich festhält, was performt werden sollte.
Wir könnten dafür mal ein paar Beispiele nennen:
Auf der documenta zeigen wir zum Beispiel Partituren von Cornelius Cardew, die schönste ist das Scratch Orchestra. Das war ein Orchester für Laien Ende der '60er, Anfang '70er‑Jahre, für musikalische Amateur-Performer. Alle Ensemblemitglieder waren gleichberechtigt an der Aufführung beteiligt, ohne festen Leiter oder Dirigenten. Cardew brachte sie zusammen, um mit ihnen Musik und Partitur sozusagen improvisiert und demokratisch anzuordnen. Die Partitur entwickelte sich zu einem Teil der Performance. Und das war schon ein radikal anderes Verhältnis zwischen Partitur und Performance als das herkömmliche.
Ein anderer Name in unserer documenta‑Ausstellung ist Katalin Ladik, eine serbische Künstlerin, eine Dichterin, die sich in den 1970ern der Performance zuwandte und nach Ungarn ging. Sprache und Körper sind ihre Mittel. In Ungarn lernte sie die Konzeptkunst und die Visual Arts dieser Zeit kennen. Und sie begann mit Zeichnungen, Collagen Partituren für ihre Kunstwerke anzufertigen. Sie hat eine sehr besondere, eine erstaunliche Stimme. Sie performte ihre Kunstwerke, jedes davon hat einen sehr eigenen Sound, auch jede Partitur. Es ist eine extrem physische Erfahrung, weil ihre Stimme hoch und ‘runter geht, sich im Raum ausdehnt. Also: drei Medien, ihre Sprache, ihr Körper, auch ihre Bilder eröffneten in den ‘70ern etwas in einem Projekt, was bis heute gültig ist. Auch ein wundervolles Beispiel dafür, dass eine solche Partitur vollkommen offen für Interpretationen bleiben kann: Die Künstlerin liest es sehr spezifisch, aber Sie würden das ganz anders lesen.
Die Körperlichkeit in der Partitur
Schäfer: Wenn wir nochmal zur Musikavantgarde der ‘50er- bis ‘70er-Jahre zurückkehren, zu der Idee einer anderen Art der Notation als Partitur eines musikalischen Werkes, zu Stockhausen, John Cage, Robert Ashley, Yoko Ono, um nur einige dieser Bewegung zu nennen, über Cornelius Cardew haben wir gerade gesprochen, so können wir sehen: Ihren Ausgang nahm diese Bewegung durchaus in der Musik. Kann man denn sagen, dass es eine neue Bewegung ungefähr der letzten zehn Jahre gibt, in der Partituren als Teil einer Bildenden Kunst neu bewertet werden?
Folkerts: Was ich sehen kann bei jungen Künstlern, die 20, 30, 40 Jahre alt sind, manchmal auch schon 50, dass eine Partitur und der Akt der Performance gar nicht mehr so fixiert sind. Manchmal sind die Partituren dieser Arbeiten auch ihre Dokumentation. Da sprechen wir von Videos und Fotos unter anderem, von etwas, das als Form existiert, durch die man lesen, sehen, erfassen kann, wie die Performance sich ereignet hat. Es ist interessant, wie Künstler vom Moment der Performance schon einen nächsten performativen Auftritt anordnen. Und damit schafft der Moment der Performance schon eine neue, andere Partitur.
Ich denke, all das, diese Arbeiten junger Künstler, würde es nicht geben, hätte es nicht die offenen Partituren der bereits genannten Künstler seit den 1950ern, 60ern, 70ern gegeben. Seitdem ist eine Menge passiert. Die Sprache, mit der Partituren entstehen, hat sich verändert: Bild, Musik. Partituren sind nicht ausschließlich eine materielle, körperliche Angelegenheit. Ich meine, im Tanz ist es hauptsächlich eine praktische Anweisung, man lernt damit ein Stück, in dem man auf die Bilder von Körperhaltungen schaut. Das versucht man zu spiegeln. Da wird etwas buchstäblich verkörpert. Aber die Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg begannen, eine andere Lesart einzuführen. Sogar eine andere Interpretation und Machart. Mich interessiert insbesondere an der Entwicklung der letzten zehn Jahre, wie sehr Partituren körperlich geworden sind, tatsächlich mit dem Körper arbeiten, den Körper involvieren.
Es hat auch mit dem Verschwinden, in gewissem Sinne mit der Immaterialität in der Kunst zu tun. Ganz besonders in einer Zeit, in der Choreographie und Bildende Kunst sich mehr und mehr vermischen. Das kann man in der documenta‑Ausstellung bei vielen Kunstwerken sehen, dass die Partitur als eine Sache zum Lesen und zum Performen, einfach auch nur dein eigener Körper sein kann. Indem du etwas verkörperst und der Körper wird zum Archiv dessen und die Partitur das Wissen, das du darüber weitergibst.
Dies ist eines der Elemente um die es mir geht, das Scratch Orchestra ist immer noch ein gutes Beispiel dafür, dass ein Künstler nicht unbedingt ein Dirigent, ein Regisseur sein muss, sondern einer, der eine Gruppe von Menschen zusammenbringt, der mit einer Partitur die Idee einbringt für das, was gleich passieren wird. Das ist also nochmal ein Beispiel dafür, dass eine Partitur nicht einfach eine Instruktion ist. Sondern eher ein Weg, der begangen werden kann, ein modus operandi.
Partitur als Denkraum
Zitator: "Die Partitur als 'Ursprung' zu verstehen, heißt im Dunkeln zu tappen; erhellender ist es, einen Blick auf ihr Verhältnis zu Zeitlichkeit und Chronologie zu werfen. Im traditionellen musikwissenschaftlichen Sinn geht die Partitur dem Ereignis voraus, ist also sein Vorläufer und Wegbereiter. Jede Live-Aufführung kann auf eine Partitur als eine Art 'Kernmaterial' zurückgeführt werden, in der zukünftige Aufführungen und folglich auch Zeitlichkeit latent angelegt sind. Zusätzlich kann eine Partitur aus einer Live-Wiederholung entstehen oder ihr zumindest angepasst werden. Wenn auch im Sinne der Repräsentation hochgradig instabil, so verfügt die Partitur trotzdem über einen dokumentarischen Aspekt, und sie wird im Gegenzug zu einer Vorschau auf zukünftige Aufführungen - was die komplexen und vielfältigen zeitlichen Abfolgen, die sie heraufbeschwört, nur noch vergrößert."
Hendrik Folkerts, Der Partitur nach
Folkerts: Wir haben über 160 Künstler eingeladen, an dieser riesigen Ausstellung documenta 14 in zwei Städten teilzunehmen. Und dort Partituren auszustellen, die sich als Denkraum sehen, ist natürlich eine schöne Sache, weil es den Menschen, die die Arena betreten, die in diesem Falle Athen und Kassel heißt, nichts vorgibt. Das führt vielleicht zu Freiheit, Chaos, Widerspenstigkeiten, aber am Ende auch zu Leben!
In einer Kunstwelt, die mehr und mehr reguliert und kontrolliert ist, so sehe ich es jedenfalls von meinem bescheidenen Standpunkt aus, gibt es immer mehr Vorgaben, was wie warum sein sollte. Die documenta ist aus meiner Sicht die Gelegenheit, all das aus den Angeln zu heben oder von einem radikal anderen Standpunkt aus zu betrachten.
Also war es für uns sehr wichtig, das komplexe Partituren-Denken seit den 1950ern bis heute zu übertragen in die Praxis des Ausstellungsmachens an sich. Wie würde das überhaupt aussehen? Es gibt ein schönes Beispiel: Die 1923 geborene Malerin Sedje Hémon begann als Musikerin und Performerin. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie das nicht weiter machen und begann, Bilder zu malen, die wie Partituren gelesen werden können. Mit viel Bewegung, viel Leben darin. Und eben gerade entdeckt eine Gruppe junger Künstler, Partituren als Malerei zu begreifen. Einige der Werke von Sedje Hémon sind in Athen im Odeion, und in Kassel zeigen wir einige in der documenta‑Halle. Und mehr von diesen komplexen Formen sieht man in einer Installation der New Yorker Künstlerin Maria Hassabi, schwer mit Sprache zu erläutern, man muss es sehen und hören. Ihr zentraler Performance-Ort ist eine Tanzbühne, verteilt auf einen riesigen Raum, so dass man Licht, Körper und choreographische Linien so weit auseinander gezogen sieht, dass es sich wie ein Theaterstück ansehen lässt, das auseinander gerissen wurde. Das lässt sich lesen wie die Elemente einer Partitur. Die Besucher performen selbst, indem sie die Installation betreten. Maria Hassabi ist eine Künstlerin der Generation, die Partituren radikal neu interpretieren.
Das Theatrale in der Bildenden Kunst
Schäfer: Vor kurzem, im Mai 2017, hat Chris Dercon in Berlin sein Programm als designierter Leiter der Volksbühne Berlin vorgestellt und er sagte auf der Pressekonferenz, er sei irritiert, dass immer mehr Medien, auch die Bildende Kunst, unter anderem das Theater imitierten. In Bezug auf Alexander Kluge nannte er das Phänomen "In‑Between", - die Zukunft gehöre der "In-Betweenness". Hendrik Folkerts, aus Ihrer Sicht als Kunst-Kurator, braucht Bildende Kunst heute diese unterschiedlichen Zugänge?
Folkerts: Ich denke zunächst, dass es ein Fehler ist anzunehmen, dass das Theater eine singuläre Form ist. Theaterhaftigkeit ist an sich nichts Schlechtes. Theater hat sich als Raum und als Disziplin in den unterschiedlichsten Formen entwickelt. Und die Künstler der Bildenden Kunst, in dem Bereich, in dem ich arbeite, kommen heute aus so unterschiedlichen Disziplinen, sie arbeiten mit so unterschiedlichen Formen, dass ihre Werke auch unterschiedliche Anteile haben, ein Teil hat theatrale Wurzeln, ein anderer ist für eine Galerie gedacht. Das wird es sein, was Chris Dercon mit dem "In‑Between" gemeint haben könnte, Künstler mäandern und transferieren zwischen dem, was wir als fixe Räume und Disziplinen annehmen. Sicher, Museen und Theater geben gewisse Konditionen vor, aber das heißt nicht, dass diese sich nicht auch wandeln können. Wichtig ist nur, das möchte ich unterstreichen, dass wir nicht unterschlagen, woher die jeweiligen Einflüsse kommen.
Partitur im digitalen Raum
Schäfer: Das gleiche ist jetzt gerade auf der Venedig-Biennale im Deutschen Pavillon zu erleben. Anne Imhofs Kunstwerk "Faust" macht genau das, worüber wir hier sprechen. "Faust" ist eine Performance, ein performatives Kunstwerk, das den Deutschen Pavillon bespielt. Anne Imhof nennt es Kunst und sie kommt von der Malerei. Ich habe mich angesichts dessen nach der Partitur gefragt: Die Künstlerin und ihre Akteure, ihre Performer steuern das Kunstwerk, die Performance über das Smart Phone. Wie könnte man dazu eine Partitur denken?
Folkerts: Ich habe diese Arbeit leider noch nicht sehen können, da ich in Kassel war, hoffe aber, es in diesem Sommer noch sehen zu können. Aber ich kenne eines ihrer Stücke, Angst, 2016 in Basel, das in gewissem Sinne vergleichbar ist. Soweit ich weiß, kommen die Instruktionen für die Performer über Whats App oder per Textnachricht. Das ist wirklich faszinierend, der digitale Raum, in diesem Fall das Mobiltelefon, wird zum instruktiven Gerät. Und das ist kein Objekt. Es wird zum Objekt in einem anderen Raum, dem digitalen. Das muss man in einem größeren Rahmen betrachten, solche Art von instruktiven Partituren wären ohne die künstlerischen Arbeiten von Yoko Ono meiner Ansicht nach gar nicht denkbar. Sie experimentierte mit solchen sprachlichen, textbasierten Anweisungen und hat diese Auffassung von Sprache in der Partitur etabliert: Wie musst du sein, wie musst du gehen, wie musst du sitzen. Ich finde es schön zu sehen, wie diese Formen sich übertragen, in Anne Imhofs Arbeiten, in andere auch. Mir ist es ganz egal, wie sie sich bezeichnen. Ich sage nochmal, man muss auf die einzelnen Arbeiten schauen: Dieser "In-Between"-Raum passiert nicht, wenn du an den Worten klebst, die es bereits gibt. Performance, Visual Art, Tanz, sie kennzeichnen alle einen bestimmten Bereich, eine Arbeitsweise, eine Disziplin, aber wenn wir wahrhaftig die Arbeiten und Experimente der Künstler verfolgen, dann müssen wir diese Begriffssprache aufgeben und eine neue Sprache finden. Auch das lerne ich aus den Künstlerpartituren: Sprache ist veränderbar, sie mutiert.
Die Beziehung von Partitur und Sprache
Schäfer: Ein kleiner Exkurs: Was ist die Beziehung von Partitur und Sprache? Die meisten Partituren, über die wir sprechen und über die Sie schreiben, sind Partituren der Zeichen.
Folkerts: Ja, auch wenn man Sprache unterschiedlich interpretieren kann, wenn es um geschriebene Sprache geht, kommen wir zurück zur Zeichentheorie, zu de Saussure und Barthes, zur Semiotik. Nehmen wir das Wort Mikrophon, wenn ich es sage, haben wir ein Bild, Sie halten eins in der Hand und wissen, wie man damit umgeht. Die Kombination der Buchstaben bezieht sich auf ein Bild und eine Bedeutung. Aber das ist eine künstliche Konstruktion, Sprache an sich ist eine Konstruktion. Mit diesem Wissen im Hintergrund kann Sprache auch etwas Visuelles oder Körperhaftes werden. Darum bestehe ich auf einen so weiten Begriff von Sprache. Ich bin da ganz beeinflusst von der Kulturanalyse von Mieke Bal. Kunst kann gelesen werden, egal ob Malerei, Performance oder ein geschriebener Text.
Die Performance braucht keine Partitur
Schäfer: Performance und Partitur, sie hängen offensichtlich zusammen. Braucht die Performance eine Partitur, um in Zukunft relevant zu sein?
Folkerts: Überhaupt nicht. Meines Wissens hatten die meisten Performances in der Bildenden Kunst seit den ‘60er-Jahren sehr selten überhaupt eine Partitur. Da ging es vielmehr darum, Räume zu kreieren für Improvisation. Es ging nicht darum, Instruktionen zum Performen zu geben. Zeitgenössische Kunst ist durch andere Bereiche, Musik, Tanz, Choreographie inspiriert worden, mit Partituren zu arbeiten. Künstler wie Valie Export, Marina Abramović und Ulay und so weiter hatten auf jeden Fall keine Partituren für ihre Performances. Da ging es mehr um direkte Aktion mit dem Körper, nicht darum, Instruktionen zu folgen. So sieht man, selbst in der performativen Kunst gibt es offensichtlich unterschiedliche Herangehensweisen. Es ist nur interessant zu sehen, wie heutige Künstler sich mit den Partituren der Kunstgeschichte auseinandersetzen. Sie kombinieren das beispielsweise mit dem Wissen aus der Kunst, die den Körper direkt einsetzt.
Aber nochmal zu Ihrer Frage zurück: Wiederholung war ein wichtiger Faktor für Künstler, die mit dem Körper arbeiteten. Das sieht man besonders in der frühen Performancekunst von Abramović, dass der Akt der Wiederholung einer Handlung oder einer Geste bis zur Erschöpfung oder zur Unkenntlichkeit viel wichtiger war als die Aufrufe selbst: "Heb‘ die Hand", "Bürste deine Haare". Es ging nicht darum, das 500 Mal zu lesen, sondern darum, es zu tun. Die Kunstgeschichte generalisiert das gern, aber Kunst ist komplex und ist von Künstler zu Künstler verschieden, da muss ich meinen eigenen kunsthistorischen Background verleugnen.
Performance und Politik
Schäfer: Performance wurde immer wieder mit Politik zusammengebracht, eine Idee der Protestbewegung aus den 1960ern und ‘70ern, aber dies scheint sich wieder zu erneuern. Ausgehend davon, was Sie auf der diesjährigen documenta zeigen, gibt es eine politische Seite der Performance-Kunst?
Folkerts: Lassen Sie mich vorneweg sagen: Sobald ein Körper beteiligt ist, ist es eine politische Sache für mich persönlich. Man kann auch sagen, die Kunst-Performances können politisch gelesen werden. Man kann die frühe Performance-Kunst als politische Kunst bezeichnen, denn häufig war mit ihr die Ansicht oder die Präsenz eines weiblichen Körpers verbunden. Viele frühe Performance-Künstler waren Frauen. Denn das war das Medium, durch das sie ihre Kunst als Künstlerin praktizieren konnten. Das muss man im Hinterkopf behalten, das wurde im späteren Kunstdiskurs stark ausgeweitet.
Jeder Körper ist ein politischer Körper. Insbesondere, wenn es ein Körper ist, der anders ist als das, was man als normal bezeichnet. Also praktisch jeder Körper auf dieser Welt, aber das ist wieder ein ganz anderes Thema. Also, gerade die Körperlichkeit, einen Körper zu definieren, als gesellschaftliches Moment oder als Teil einer politischen Landschaft, ist ein politischer Akt. Das ist meine Voraussetzung.
Das spielt eine Rolle für die jüngeren Performance-Künstler, mit denen ich arbeite. Aber man muss es differenzieren. Früher ging es mehr um die Sichtbarmachung des Körpers, heute geht es vielmehr darum, wie der Körper ausgenutzt wird, ökonomisch, pornographisch, pharmazeutisch. Um es im Extrem zu sagen: Unser Körper wird täglich attackiert von Kräften, die ihn verändern wollen, bestimmen wollen. Zum Beispiel Alexandra Bachzetsis zeigt hier auf der documenta ein Video, in dem man sieht, wie Menschen sich schminken und den Körper bemalen, und jedes Mal, wenn man hinschaut, haben sich die Körper verändert. Kontinuierliche Transformation. Das Zeigen der Körper ist ein politischer Akt. Ich glaube nicht daran, dass man für Politik mit einem Banner über die Straße laufen muss.
Schäfer: Spielt denn Versammlung eine Rolle, Kollektivität?
Folkerts: Kollektivität? … Nicht zwangsläufig. Ich spreche nicht für die gesamten Performance‑Arbeiten der documenta. Ich denke, manchmal ist es politischer oder couragierter, allein zu stehen als Teil einer großen Gruppe zu sein. Kollektivität kann ein Element sein, wenn es darum geht, zusammenzustehen oder sich etwas entgegenzustellen. Aber das definiert nicht zwangsläufig die politische Aktion.
Um das etwas auszuführen: Eines der übergreifenden Programme der documenta heißt "Das Parlament der Körper". Das basiert auf der Idee des Versammelns, des kollektiven Seins, des kollektiven Körpers. Wann immer es ein Event gibt, einen Vortrag, einen Film, und Sie besuchen das, sind Sie schon Teil des Parlaments der Körper. Sie werden eine von Vielen. Und nur mit dieser Geste geben Sie als Besucherin ein politisches Statement ab - Sie haben die Bedingungen akzeptiert, als Sie durch die Tür geschritten sind.
Paul Preciado, Kurator dieses Events, will zeigen, dass politische Aktion schon vor dem Wählen beginnt. Denn insbesondere in Griechenland hat der Akt des Wählens gezeigt, hier muss ich meine Worte vorsichtig aussuchen, dass es nicht der erfolgreichste Weg ist, seine politische Stimme zu erheben. Auch in den USA gibt es einen Präsidenten, der behauptet, einen bestimmten Teil der Bevölkerung zu repräsentieren. Aber in Wahrheit repräsentiert er diese Menschen nicht, meiner Meinung nach, das kann ich so sagen.
Und so ist die ganze Idee der Repräsentanz, der liberalen demokratischen Repräsentanz, ich wähle dich und du machst Gesetze, denen ich folge, ich glaube, diese Idee ist auf der ganzen Welt etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Ich bin kein Politikwissenschaftler, aber für Griechenland zumindest kann ich sagen, das System schwankt.
Paul Preciado will mit dem Parlament der Körper bestätigen, du kannst dir als Individuum deiner Kraft eines politischen Körpers bewusst sein. Und vielen Werken der Performance-Kunst ist diese Kraft inne.
Schäfer: Sie eröffnen Ihren Essay "Der Partitur nach. Notation, Verkörperung und liveness" mit einem Euripides-Zitat aus den Theseus-Dramen: Wofür sprechen diese Zeilen, was sagten Sie Ihnen, als Sie sie lasen?
Folkerts: Was mir an diesem Zitat gefällt ist, dass die Buchstaben des Alphabets, oder Gebilde, sich bewegen und tanzen. Hier werden die Buchstaben des Alphabets nicht dazu verwendet, Wörter zu formen mit Bedeutung. Er sieht sie als Gebilde, Gestalten in sich selbst. Sie biegen, verdrehen und kringeln sich. Eigentlich werden sie zu Körpern. Ich denke, damit ist das ein passendes Zitat, wenn man über Partituren als Sprachen spricht. Da stecken all diese verschiedenen Interpretationen und Bedeutungen mit drin. Wenn Euripides Buchstaben als tanzende Körper beschreibt, kann es für meine Untersuchungen keinen besseren Auftakt geben.
Zitator: "Ich bin nicht bewandert in Buchstaben, aber ich will ihre Gestalt und ihr deutliches Zeugnis beschreiben:
Ein Kreis wie mit dem Zirkel gezogen,
der in der Mitte einen deutlichen Punkt hat.
Der zweite hat erstens zwei Striche,
die hält in der Mitte ein anderer Strich auseinander.
Der dritte ist wie eine geschwungene Locke.
Der vierte hat wieder einen senkrechten Strich,
an den sich drei schräg anlehnen.
Der fünfte ist nicht leicht zu beschreiben:
zwei Linien beginnen mit einem Abstand,
laufen aber beide zusammen auf einen Grundstrich.
Der letzte ist wie der dritte."
Euripides, Theseus
Absage:
documenta 14 - Gedanken zur Kunst. Hendrik Folkerts über Partituren im Gespräch mit Barbara Schäfer. Mit Daniel Berger und Bernd Reheuser. Technik: Caroline Thon.
Diese Sendung steht auch online zur Verfügung bei deutschlandfunk.de. Und am kommenden Sonntag hören Sie in Essay & Diskurs ein Gespräch mit der documenta‑Kuratorin Marina Fokidis.