Alfred Döblin war einer der produktivsten und innovativsten deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sein Werk hat überwältigende Dimensionen. Er war Schriftsteller und Arzt, Jude und Katholik - und ein Mann, der sich am liebsten zwischen alle Stühle setzte. Berühmt ist vor allem "Berlin Alexanderplatz", einer der maßgeblichen Großstadtromane der Moderne, der beste in deutscher Sprache. Kaum zu glauben deshalb, dass es bis jetzt keine angemessene Döblin-Biographie gab. Kein Universitätsgermanist fühlte sich für die Lücke zuständig. Jetzt hat sich der Kulturjournalist Wilfried F. Schoeller der aufwendigen Vermittlungsarbeit angenommen. Mit dem schönen Nebeneffekt, dass die neunhundert Seiten dieser überfälligsten aller Schriftstellerbiographien sehr lesbar geworden sind.
Der Erzrivale, Antipode und heimliche Maßstab Döblins war der drei Jahre ältere Thomas Mann. Bei dem findet man, was man bei Döblin nicht findet: die Klassikeranmutung zu Lebzeiten, die stimmige Architektur eines Gesamtwerks, das noch heute ein geistiges Zuhause sein kann, weltanschaulich hochwertig möbliert. Döblin hat für solche kulinarische Rezeption zu viele Turbulenzen produziert. Er lebte in improvisierten geistigen Gehäusen, oft windschief und instabil. Er liebte es, sich selbst den Boden wegzuziehen - ein "Verwerfungsclown", so Schoeller, der seine Auffassungen ständig revidierte. Für eine Biographie ist dieses rastlose Leben mit seinen Wendungen und Schicksalsschlägen eine großartige Vorlage.
Döblin besteht nicht auf Lösungen, vielmehr auf Experimenten - eine selbstbewusste Unsicherheit. Sie hält ihn in Gang, trägt ihn über die Lebenskatastrophen hinweg. Wer diesen Stoff besichtigt, wird instand gesetzt, ihre ungeheuerliche Dramatik zu verstehen: das Trauma der Vaterflucht, das ihn lebenslang begleitet; die familiäre Verachtung von Literatur, gegen die sich der angehende Literat schützen muss; eine abgebrochene wissenschaftliche Karriere; eine von Anfang an unglückliche Ehe und dazu ein jahrzehntelang anhaltendes Liebesverhältnis, das immer wieder abgewürgt wird im Bestreben, nicht die Eheflucht des Vaters zu wiederholen; die Sorgen um fünf Söhne; der gewöhnliche und dann mörderische Antisemitismus, die Schrecken der Fluchten, der Selbstmord eines Sohnes in französischer Uniform; die Verschollenheit im amerikanischen Exil; die deprimierenden Erfahrungen in Adenauers Nachkriegsdeutschland; der Fluch der Krankheiten, mehr als drei Jahre am Ende die Matratzengruft in Spitälern und Sanatorien. Man muss das alles ausbreiten, um zu ermessen, aus welchem Dunkel sein Werk strahlt.
1878 wurde Alfred Döblin in Stettin geboren; der Vater betrieb ein Schneideratelier. Zuhause merkte man vom Judentum nicht viel. "Draußen begegnete mir der Antisemitismus wie selbstverständlich", schrieb Döblin. Die gründliche Erschütterung der patriarchalischen Ordnung war das alles überschattende Erlebnis seiner Kindheit: Der Vater ließ die Mutter und die fünf Kinder im Stich und wanderte mit einer Geliebten nach Amerika aus. Armut und Sorge beherrschten Döblins Kindheit und Jugend, die ab 1888 in Berlin stattfand - die Mutter fand dort Hilfe bei ihren Brüdern.
Als Freischüler kam er auf ein Gymnasium in Berlin-Friedrichshain. Während er die wilhelminische Pädagogik lustlos über sich ergehen ließ, entwickelte er Enthusiasmus bei der Lektüre von Kleist und Hölderlin, bald auch Nietzsche und Dostojewski. Nach dem Abitur warf er sich auf die Medizin, jenes Fach, das seinen Wahrheits- und Wirklichkeitshunger am ehesten befriedigen konnte und ein radikal entidealisiertes Menschenbild versprach. Seine Doktorarbeit schrieb er über Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose: trunksuchtbedingte Ausfälle werden mit Phantasie-Material überblendet. Solche "Konfabulationen" kennzeichnen auch die Figuren seiner frühen Erzählungen, die grotesken Gaukeleien der Einbildungskraft unterliegen und viele Obsessionen oder Tics produzieren. 1905 begann Döblin als Assistenzarzt in psychiatrischen Kliniken zu arbeiten; der Menschendarsteller schulte sich in der Arbeit mit den Kranken, entwickelte anhand der physiognomischen Auffälligkeiten sein Repertoire des gestischen Erzählens. "Man lerne von der Psychiatrie", forderte er im Berliner Programm von 1913 - und meinte damit gerade nicht das herkömmliche Psychologisieren und Ergründen von Motiven im realistischen Roman. Kein Spekulieren über das Innenleben, sondern die beinahe naturwissenschaftliche Beschränkung auf das Notieren von Abläufen und Gebärden. Döblin wurde zum Mitbegründer des Expressionismus - über den er bald schon spottete: "Das Vieh ist erst zehn Jahre alt und hat schon Epigonen in zwanzigster Generation." Im Ersten Weltkriegs diente er als Militärarzt hinter der Westfront.
Der Großepiker ist die Entgegnung auf das Großereignis des Krieges. In "Berlin Alexanderplatz" wird Franz Biberkopfs Kriegsneurose von den Stellungskämpfen in Arras hergeleitet, Edward Allison im Roman "Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende" ist das Opfer eines Luftangriffs japanischer Kamikaze-Piloten. ... Die gültige Antwort auf den erlebten Krieg ist der zweibändige "Wallenstein", der nur angeblich in einer historischen Epoche spielt... Döblin umriss die Titelfigur in einem Brief als modernen Industriekapitän des Todes... Dazwischen wimmeln die Figuren, Lemuren der Gewalt, der Beutegier, des Lebensfiebers, überschlagen sich Episoden, die von der Wiederholung des Schreckens und der Lust an ihm künden. Keine durchgehende Fabel lagert die Figuren an einen sinnstiftenden Ablauf. Die Achse des historischen Verstehens ist mit künstlerischem Vorsatz gebrochen. Der Roman ist eine Art Schreckenskino mit grellen, einander jagenden Szenen...
Als nächstes erschien "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine", Döblins erster Berlin-Roman, der von der grotesken Rivalität zweier Großindustrieller erzählt. Wochenlang hatte der Autor in den Werken der Berliner AEG recherchiert. Reportage-Stil liegt ihm allerdings fern. Von den Figuren bleibt nur ein Ensemble naturalistisch protokollierter Grimassen: depersonifiziertes Personal eines "enigmatischen Romangebildes", in das "tausend Fäden Aberwitz gewirkt sind", schreibt Schoeller. Brecht liebte das Buch.
Schoeller folgt Döblin bewundernd in die große "Vielseitigkeitsprüfung" der zwanziger Jahre: Er schrieb ein umfangreiches Werk nach dem anderen und verfasste unter dem Pseudonym "Linke Poot" politische Glossen, in denen er mit der verratenen Revolution haderte, bei deren Niederschlagung in Berlin-Lichtenberg im März 1919 seine Schwester Meta ums Leben gekommen war. Um sein Budget aufzubessern ließ er, der vom Theater wenig hielt, sich von der Breslauer Zeitung als Theaterkritiker engagieren - seine Texte, so eigenwillig wie spritzig, ergeben ein Panorama der Inflationszeit, als eine Theaterkarte eine halbe Milliarde kostete. Außerdem entwickelte er kulturpolitische Aktivitäten, führte Rundfunkdebatten, betrieb naturwissenschaftliche Studien, versenkte sich in Buddhismus und mystische Lehren. Aufgestört durch die Pogrome im Berliner Scheunenviertel 1923, begann er sich erstmals mit dem Judentum auseinanderzusetzen. Vor allem aber schuftete der Vater vieler Söhne als Armenarzt im Berliner Osten. Allein im Jahr 1925 absolvierte er 2000 Hausbesuche.
Die Praxis lag in der Frankfurter Allee 340, Hochparterre, Bezirk Friedrichshain, wo er auch wohnte. Er behandelte vor allem Proletarier, auch wenn er Privatpatienten nahm. Die Umgebung hatte nichts Repräsentatives, wie der Sohn Claude berichtete: "Unter unserer Wohnung waren ein Frisör und ein Kohlengeschäft. Sprech- und Wartezimmer waren nach vorne gelegen." Döblin hielt seine Sprechstunde meistens zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags ab. Peter Bamm erinnert sich an einen Besuch bei ihm: "Das Sprechzimmer quoll über vor Büchern, Dokumenten, Manuskripten und medizinischen Fachzeitschriften." Döblin betrieb den ärztlichen Beruf nicht einfach nebenher, um Geld zu verdienen. Er verstand seine Praxis auch als Sozialstation. Die Kassenärzte seien "als leise Puffer zwischen den jedem bekannten gesellschaftlichen Gewalten eingefügt". Für ihn war der Kassenarzt Sozialarbeiter, Seelenmasseur, Wegweiser, aber auch grauer Soldat in einer stillen Armee.
Nur einmal, im Wirtschaftskrisenherbst 1929, hatte Döblin breitenwirksamen Erfolg mit "Berlin, Alexanderplatz". Und wurde dann doch gleich wieder in den Schatten gestellt von seinem ewigen Rivalen. Zum Bestseller der Saison wurden die "Buddenbrooks", die sich nach Thomas Manns Nobelpreis in nur sechs Wochen 700.000 Mal verkauften.
Dass der Roman zum großen Wurf wurde, hat viele Gründe. Einer besteht darin, dass Döblin seine poetologischen Auffassungen modifizierte: Er entdeckte das Ich und den Einzelmenschen, worauf für ihn lange ein modernistisches Tabu gelegen hatte. So hat dieses Buch einen richtigen Helden: den dröhnenden, verblendeten, gleichermaßen zu Warmherzigkeit wie cholerischer Brutalität neigenden Franz Biberkopf, der sich nach vier Jahren Haft geschworen hat, anständig zu bleiben. Zwar wird die "Hure Babylon" beschworen - aber die Stadt ist gerade kein dämonischer Moloch wie noch bei Georg Heym. Der Roman ist ein vibrierender Lobgesang auf die technisierte Metropole, ihr Tempo, ihre Dynamik, ihre wendigen, gewitzten Menschen.
"Eindrucksvoll zart ist dieser Prolet Biberkopf angefasst", schreibt Schoeller.
Aber Biberkopf spricht nicht die Sprache des klassenbewussten Arbeiters, und der unorthodoxe Linke Döblin wurde zum Lieblingsfeind der linientreuen Marxisten. Eine der heftigsten Literaturfehden der Weimarer Republik folgte - die noch Auswirkungen bis ins Jahr 1978 hatte, als Klaus Schröter in seiner dogmatischen Rowohlt-Monografie die alten Vorwürfe aus der "Linkskurve" erneuerte. Döblin aber hatte bereits 1927 prophetisch die Übel des Staatssozialismus formuliert: "der schroffe Zentralismus, die Wissenschaftsgläubigkeit, der Militarismus, die ökonomische Verengung der Gedanken...". Auf der anderen Seite polemisierte er gegen die völkischen Schriftsteller, diese "Herren vom allzu platten Lande". Am Tag nach dem Reichstagsbrand ging er ins Exil. Illusionen über eine Rückkehr machte er sich nicht: Das Schlimmste an Hitler sei, dass er den Deutschen "wie angegossen" passe. Seine Kontakte zu französischen Diplomatenkreisen erwiesen sich in den folgenden Jahren als hilfreich. Im Juni 1940 aber musste er vor der anrückenden Wehrmacht aus Paris flüchten - eine verstörende Irrfahrt folgte, Tage, die er als die "schwärzesten" seines Lebens bezeichnete. Auf der Suche nach seinen Angehörigen im Provinzstädtchens Mende gestrandet, vertiefte er sich in der dortigen Kathedrale in das Leidensbild des gekreuzigten Christus.
Der Schritt zum Christentum wurde ihm von wechselndem Publikum niemals verziehen. Die Vorbehalte sind bis heute nicht geschwunden, sie haben eine eigene Tradition der Ablehnung gegenüber dem Spätwerk begründet, und die zwei großen, unter dem Einfluss des Christentums entstandenen Romane, "November 1918" und der "Hamlet", befanden sich, was ihre Wirkung betrifft, jahrzehntelang wie unter einem schwarzen Schatten... Die Konversion in Hollywood hatte für seine Umgebung den Skandal einer Person, die man nicht sein durfte. Man durfte - wenigstens im Buch - alles andere sein: Wang-lun in China, Wallenstein in der Geschichte, Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin, abgefallener Jude überall, bekennender Sozialist, Renegat... Aber Christ? Das nicht. Das Christentum Döblins gilt den Deutern wechselnd als Dementi der Vernunft, als Wendung ins Reaktionäre, als Nachlassen der geistigen Spannkraft, als Verrat an der Kunst, als Widerruf der Modernität - jedenfalls unverzeihlich.
Im Juni 1940 ereignete sich eine weitere Familientragödie. Döblins Sohn Wolfgang, ein hochbegabter Mathematiker und Soldat in der französischen Armee, beging Selbstmord, um der Gefangennahme durch die Deutschen zu entgehen. Die Eltern erfuhren vom Tod des verlorenen Sohns erst 1945. Döblin produzierte unterdessen unermüdlich weiter: "Hacke ich nicht täglich meine fünfzehn, zwanzig Schreibseiten herunter, ist mir nicht wohl", schrieb er. Es war ein Rausch des Produzierens, der bezwingend über ihn kam und dem er nur in eiliger Mitschrift folgen konnte. Dieses Tempo erzeugte, wenn es gut lief, eine Prosa von einzigartiger Dynamik und Gegenwärtigkeit.
Im kalifornischen Exil sollte er als Lohnschreiber in Hollywood für den späteren Blockbuster "Mrs. Miniver" probeweise ein Script liefern, und der Auftraggeber staunte nicht schlecht, als Döblin bereits nach zwei Tagen mit einem fertigen Text von 40 Seiten anrückte. Nach Ablauf des Kontraktjahrs musste Döblin seine Wohnung aufgeben; mit seiner Frau Erna bezog er zwei Räume mit Second-hand-Möbeln, und bald waren sie auf Wohltätigkeitsorganisationen und Hilfskomitees angewiesen. Die psychischen Belastungen entluden sich 1942 in einer schweren Herzattacke. Anders als Thomas Mann zögerte Döblin nach dem Krieg dann keinen Augenblick, zurückzukehren nach Deutschland. Er wollte heraus aus der Isolation. Als französischer Kulturoffizier sollte er an der "Umerziehung" der Deutschen mitwirken.
Ein leidiges Kapitel aus diesen frühen Nachkriegsjahren: Döblin in Uniform. Viele Zeitgenossen waren befremdet, dass er bei passenden, noch mehr bei unpassenden Gelegenheiten in der Kluft eines französischen Offiziers auftrat. Die Verkleidung des Pazifisten im Gewand des militärischen Siegers führte zu Getuschel, Befremdung, Unverständnis... Er hat die Uniform des Landes, das ihm 1936 die Staatsbürgerschaft gewährte und bei Kriegsanfang ein Amt anbot, mit Stolz getragen... Ein wichtiges psychologisches Motiv, die französische Uniform auch bei falschen Anlässen zu tragen, bestand für Döblin im Verlust des Sohnes Wolfgang. Dessen Tod hat er zwar nicht verheimlicht, aber die Umstände hielt er gegenüber Dritten zurück: Er bestand darauf, dass Wolfgang als Soldat gefallen sei. Ihm gegenüber fühlte er sich in tiefer Schuld. Er hatte ihm zeitlebens die kalte Schulter gezeigt, und nachträglich erwies sich die Wehrfähigkeit der beiden Söhne Klaus und Wolfgang, die den Eltern zur französischen Staatsbürgerschaft mit verholfen hatte, wie ein Opfer, das sie für das Überleben der Eltern gebracht hatten.
Im Dienst der Besatzungsmacht entfaltete Döblin bald rege kulturpolitische Aktivitäten. Er forderte die Unterdrückung kriegsverherrlichender Werke - aber das einzige Buch, das er als Zensor verbot, stammte von ihm selbst: der kriegerische "Wallenstein", der ihm selbst nicht mehr geheuer war.
Bald zog er ein bitteres Resümee seiner Rückkehr: "Und als ich wiederkam - da kam ich nicht wieder." Anfang der 50er-Jahre hatte er schließlich den Eindruck, er werde geradezu boykottiert. Hat man das große Comeback von Benn, Brecht oder Thomas Mann in Nachkriegsdeutschland vor Augen, wird seine Enttäuschung verständlich. Anders als Brecht oder Benn taugte er freilich nicht als weltanschauliche Leitfigur, als Mann eines zeitgemäßen Habitus. Mit all den unberechenbaren weltanschaulichen Wechselsprüngen, die er in den Jahrzehnten vollzogen hatte, war Döblin nicht kompatibel für Gruppierungen, in denen geistiger Fraktionszwang herrschte. Wenn der letzte Band seiner zweittausendseitigen Tetralogie "November 1918" Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu Romanhelden macht, halb dokumentarisch und halb fabuliert, so ist das bis heute irritierend: "zwei kommunistische Revolutionshelden, von einem christlich gewordenen Juden als Opfer mit unverkennbarer Sympathie gemustert". Zwar waren die meisten seiner Exilwerke bald nach seiner Rückkehr publiziert worden; sie hatten aber nicht das erhoffte Echo gefunden.
Die Honorarabrechnung vom 15. Februar 1954 über sechs Druckwerke fiel vernichtend aus: "Der unsterbliche Mensch" - 22 Exemplare. "Der Oberst und der Dichter" - "nur Remittendenstücke". "Unsere Sorge, der Mensch" - "eine Abrechnung entfällt". "Verratenes Volk" - 9 Exemplare. "Heimkehr der Fronttruppen" - "nur Remittendenstücke", 33 Exemplare von "Karl und Rosa"... Auch die Korrespondenz mit dem Keppler Verlag zeigte diese deprimierende Bilanz. Auf der Frankfurter Buchmesse 1950 waren Döblins Bücher nicht ausgestellt worden. Der Autor beschwerte sich und erhielt von Keppler die unverblümte Antwort, dass Bücher mit holzhaltigem Papier nicht mehr zu verkaufen seien. Von Neuauflagen sprach er nicht... Die Halbjahresabrechnung 1950 wies ein Guthaben von 8,25 DM aus.
Mit viel Empathie beschreibt Schoeller die letzten Jahre des Siechtums. Döblin, ein geschlagener Hiob, schwer an Parkinson erkrankt, von seiner Wirkungslosigkeit enttäuscht, ging noch einmal ins Exil nach Paris. Gelegentlich konnte er sich aber immer noch aufraffen, etwa zu kleinen Änderungen seines Schmerzensbuchs "Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende", das endlich 1956 in der DDR erschien. Er überarbeitete den christlichen Schluss - und Schoeller sieht darin mehr als ein Zugeständnis, nämlich ein "Verblassen der Frömmigkeit" am Ende des Lebens.
Die Biographie verfügt souverän über die Materialmassen, die in kurze Kapitel portioniert werden. Bisweilen hätte man dem Buch etwas mehr erzählerische Zugkraft gewünscht. Es gilt allerdings zu bedenken, dass Döblin bis in die Zeit der Emigration kein autobiografisch arbeitender Autor war. Im Roman "Pardon wird nicht gegeben" hat er seine Kindheit und Jugend verarbeitet; seiner Langzeit-Geliebten und Muse Yolla Niclas hat er viele versteckte literarische Denkmäler errichtet. Davon abgesehen misstraute er als geschulter Psychiater Selbstauskünften schon aus Prinzip: Meist seien sie verbogen und falsch. "Eine wirkliche Autobiographie ist deshalb nicht möglich", meinte er einmal - und macht es einer "wirklichen" Biographie mit solcher Verweigerung nicht leicht. Als Biograph, der sich an die Fakten hält, weicht Schoeller deshalb öfter auf eine andere Überlieferungsspur aus: Viel und zuverlässig ist von Kulturpolitik die Rede, von Döblins Interventionen im Literaturbetrieb. Diese große Biographie, die Lese-Lust auf die Romane und Erzählungen Döblins macht, wird lange ein Standardwerk bleiben.
Wilfried F. Schoeller: Döblin. Eine Biographie.
Hanser Verlag, München 2011, 911 Seiten, 34,90 Euro
Der Erzrivale, Antipode und heimliche Maßstab Döblins war der drei Jahre ältere Thomas Mann. Bei dem findet man, was man bei Döblin nicht findet: die Klassikeranmutung zu Lebzeiten, die stimmige Architektur eines Gesamtwerks, das noch heute ein geistiges Zuhause sein kann, weltanschaulich hochwertig möbliert. Döblin hat für solche kulinarische Rezeption zu viele Turbulenzen produziert. Er lebte in improvisierten geistigen Gehäusen, oft windschief und instabil. Er liebte es, sich selbst den Boden wegzuziehen - ein "Verwerfungsclown", so Schoeller, der seine Auffassungen ständig revidierte. Für eine Biographie ist dieses rastlose Leben mit seinen Wendungen und Schicksalsschlägen eine großartige Vorlage.
Döblin besteht nicht auf Lösungen, vielmehr auf Experimenten - eine selbstbewusste Unsicherheit. Sie hält ihn in Gang, trägt ihn über die Lebenskatastrophen hinweg. Wer diesen Stoff besichtigt, wird instand gesetzt, ihre ungeheuerliche Dramatik zu verstehen: das Trauma der Vaterflucht, das ihn lebenslang begleitet; die familiäre Verachtung von Literatur, gegen die sich der angehende Literat schützen muss; eine abgebrochene wissenschaftliche Karriere; eine von Anfang an unglückliche Ehe und dazu ein jahrzehntelang anhaltendes Liebesverhältnis, das immer wieder abgewürgt wird im Bestreben, nicht die Eheflucht des Vaters zu wiederholen; die Sorgen um fünf Söhne; der gewöhnliche und dann mörderische Antisemitismus, die Schrecken der Fluchten, der Selbstmord eines Sohnes in französischer Uniform; die Verschollenheit im amerikanischen Exil; die deprimierenden Erfahrungen in Adenauers Nachkriegsdeutschland; der Fluch der Krankheiten, mehr als drei Jahre am Ende die Matratzengruft in Spitälern und Sanatorien. Man muss das alles ausbreiten, um zu ermessen, aus welchem Dunkel sein Werk strahlt.
1878 wurde Alfred Döblin in Stettin geboren; der Vater betrieb ein Schneideratelier. Zuhause merkte man vom Judentum nicht viel. "Draußen begegnete mir der Antisemitismus wie selbstverständlich", schrieb Döblin. Die gründliche Erschütterung der patriarchalischen Ordnung war das alles überschattende Erlebnis seiner Kindheit: Der Vater ließ die Mutter und die fünf Kinder im Stich und wanderte mit einer Geliebten nach Amerika aus. Armut und Sorge beherrschten Döblins Kindheit und Jugend, die ab 1888 in Berlin stattfand - die Mutter fand dort Hilfe bei ihren Brüdern.
Als Freischüler kam er auf ein Gymnasium in Berlin-Friedrichshain. Während er die wilhelminische Pädagogik lustlos über sich ergehen ließ, entwickelte er Enthusiasmus bei der Lektüre von Kleist und Hölderlin, bald auch Nietzsche und Dostojewski. Nach dem Abitur warf er sich auf die Medizin, jenes Fach, das seinen Wahrheits- und Wirklichkeitshunger am ehesten befriedigen konnte und ein radikal entidealisiertes Menschenbild versprach. Seine Doktorarbeit schrieb er über Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose: trunksuchtbedingte Ausfälle werden mit Phantasie-Material überblendet. Solche "Konfabulationen" kennzeichnen auch die Figuren seiner frühen Erzählungen, die grotesken Gaukeleien der Einbildungskraft unterliegen und viele Obsessionen oder Tics produzieren. 1905 begann Döblin als Assistenzarzt in psychiatrischen Kliniken zu arbeiten; der Menschendarsteller schulte sich in der Arbeit mit den Kranken, entwickelte anhand der physiognomischen Auffälligkeiten sein Repertoire des gestischen Erzählens. "Man lerne von der Psychiatrie", forderte er im Berliner Programm von 1913 - und meinte damit gerade nicht das herkömmliche Psychologisieren und Ergründen von Motiven im realistischen Roman. Kein Spekulieren über das Innenleben, sondern die beinahe naturwissenschaftliche Beschränkung auf das Notieren von Abläufen und Gebärden. Döblin wurde zum Mitbegründer des Expressionismus - über den er bald schon spottete: "Das Vieh ist erst zehn Jahre alt und hat schon Epigonen in zwanzigster Generation." Im Ersten Weltkriegs diente er als Militärarzt hinter der Westfront.
Der Großepiker ist die Entgegnung auf das Großereignis des Krieges. In "Berlin Alexanderplatz" wird Franz Biberkopfs Kriegsneurose von den Stellungskämpfen in Arras hergeleitet, Edward Allison im Roman "Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende" ist das Opfer eines Luftangriffs japanischer Kamikaze-Piloten. ... Die gültige Antwort auf den erlebten Krieg ist der zweibändige "Wallenstein", der nur angeblich in einer historischen Epoche spielt... Döblin umriss die Titelfigur in einem Brief als modernen Industriekapitän des Todes... Dazwischen wimmeln die Figuren, Lemuren der Gewalt, der Beutegier, des Lebensfiebers, überschlagen sich Episoden, die von der Wiederholung des Schreckens und der Lust an ihm künden. Keine durchgehende Fabel lagert die Figuren an einen sinnstiftenden Ablauf. Die Achse des historischen Verstehens ist mit künstlerischem Vorsatz gebrochen. Der Roman ist eine Art Schreckenskino mit grellen, einander jagenden Szenen...
Als nächstes erschien "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine", Döblins erster Berlin-Roman, der von der grotesken Rivalität zweier Großindustrieller erzählt. Wochenlang hatte der Autor in den Werken der Berliner AEG recherchiert. Reportage-Stil liegt ihm allerdings fern. Von den Figuren bleibt nur ein Ensemble naturalistisch protokollierter Grimassen: depersonifiziertes Personal eines "enigmatischen Romangebildes", in das "tausend Fäden Aberwitz gewirkt sind", schreibt Schoeller. Brecht liebte das Buch.
Schoeller folgt Döblin bewundernd in die große "Vielseitigkeitsprüfung" der zwanziger Jahre: Er schrieb ein umfangreiches Werk nach dem anderen und verfasste unter dem Pseudonym "Linke Poot" politische Glossen, in denen er mit der verratenen Revolution haderte, bei deren Niederschlagung in Berlin-Lichtenberg im März 1919 seine Schwester Meta ums Leben gekommen war. Um sein Budget aufzubessern ließ er, der vom Theater wenig hielt, sich von der Breslauer Zeitung als Theaterkritiker engagieren - seine Texte, so eigenwillig wie spritzig, ergeben ein Panorama der Inflationszeit, als eine Theaterkarte eine halbe Milliarde kostete. Außerdem entwickelte er kulturpolitische Aktivitäten, führte Rundfunkdebatten, betrieb naturwissenschaftliche Studien, versenkte sich in Buddhismus und mystische Lehren. Aufgestört durch die Pogrome im Berliner Scheunenviertel 1923, begann er sich erstmals mit dem Judentum auseinanderzusetzen. Vor allem aber schuftete der Vater vieler Söhne als Armenarzt im Berliner Osten. Allein im Jahr 1925 absolvierte er 2000 Hausbesuche.
Die Praxis lag in der Frankfurter Allee 340, Hochparterre, Bezirk Friedrichshain, wo er auch wohnte. Er behandelte vor allem Proletarier, auch wenn er Privatpatienten nahm. Die Umgebung hatte nichts Repräsentatives, wie der Sohn Claude berichtete: "Unter unserer Wohnung waren ein Frisör und ein Kohlengeschäft. Sprech- und Wartezimmer waren nach vorne gelegen." Döblin hielt seine Sprechstunde meistens zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags ab. Peter Bamm erinnert sich an einen Besuch bei ihm: "Das Sprechzimmer quoll über vor Büchern, Dokumenten, Manuskripten und medizinischen Fachzeitschriften." Döblin betrieb den ärztlichen Beruf nicht einfach nebenher, um Geld zu verdienen. Er verstand seine Praxis auch als Sozialstation. Die Kassenärzte seien "als leise Puffer zwischen den jedem bekannten gesellschaftlichen Gewalten eingefügt". Für ihn war der Kassenarzt Sozialarbeiter, Seelenmasseur, Wegweiser, aber auch grauer Soldat in einer stillen Armee.
Nur einmal, im Wirtschaftskrisenherbst 1929, hatte Döblin breitenwirksamen Erfolg mit "Berlin, Alexanderplatz". Und wurde dann doch gleich wieder in den Schatten gestellt von seinem ewigen Rivalen. Zum Bestseller der Saison wurden die "Buddenbrooks", die sich nach Thomas Manns Nobelpreis in nur sechs Wochen 700.000 Mal verkauften.
Dass der Roman zum großen Wurf wurde, hat viele Gründe. Einer besteht darin, dass Döblin seine poetologischen Auffassungen modifizierte: Er entdeckte das Ich und den Einzelmenschen, worauf für ihn lange ein modernistisches Tabu gelegen hatte. So hat dieses Buch einen richtigen Helden: den dröhnenden, verblendeten, gleichermaßen zu Warmherzigkeit wie cholerischer Brutalität neigenden Franz Biberkopf, der sich nach vier Jahren Haft geschworen hat, anständig zu bleiben. Zwar wird die "Hure Babylon" beschworen - aber die Stadt ist gerade kein dämonischer Moloch wie noch bei Georg Heym. Der Roman ist ein vibrierender Lobgesang auf die technisierte Metropole, ihr Tempo, ihre Dynamik, ihre wendigen, gewitzten Menschen.
"Eindrucksvoll zart ist dieser Prolet Biberkopf angefasst", schreibt Schoeller.
Aber Biberkopf spricht nicht die Sprache des klassenbewussten Arbeiters, und der unorthodoxe Linke Döblin wurde zum Lieblingsfeind der linientreuen Marxisten. Eine der heftigsten Literaturfehden der Weimarer Republik folgte - die noch Auswirkungen bis ins Jahr 1978 hatte, als Klaus Schröter in seiner dogmatischen Rowohlt-Monografie die alten Vorwürfe aus der "Linkskurve" erneuerte. Döblin aber hatte bereits 1927 prophetisch die Übel des Staatssozialismus formuliert: "der schroffe Zentralismus, die Wissenschaftsgläubigkeit, der Militarismus, die ökonomische Verengung der Gedanken...". Auf der anderen Seite polemisierte er gegen die völkischen Schriftsteller, diese "Herren vom allzu platten Lande". Am Tag nach dem Reichstagsbrand ging er ins Exil. Illusionen über eine Rückkehr machte er sich nicht: Das Schlimmste an Hitler sei, dass er den Deutschen "wie angegossen" passe. Seine Kontakte zu französischen Diplomatenkreisen erwiesen sich in den folgenden Jahren als hilfreich. Im Juni 1940 aber musste er vor der anrückenden Wehrmacht aus Paris flüchten - eine verstörende Irrfahrt folgte, Tage, die er als die "schwärzesten" seines Lebens bezeichnete. Auf der Suche nach seinen Angehörigen im Provinzstädtchens Mende gestrandet, vertiefte er sich in der dortigen Kathedrale in das Leidensbild des gekreuzigten Christus.
Der Schritt zum Christentum wurde ihm von wechselndem Publikum niemals verziehen. Die Vorbehalte sind bis heute nicht geschwunden, sie haben eine eigene Tradition der Ablehnung gegenüber dem Spätwerk begründet, und die zwei großen, unter dem Einfluss des Christentums entstandenen Romane, "November 1918" und der "Hamlet", befanden sich, was ihre Wirkung betrifft, jahrzehntelang wie unter einem schwarzen Schatten... Die Konversion in Hollywood hatte für seine Umgebung den Skandal einer Person, die man nicht sein durfte. Man durfte - wenigstens im Buch - alles andere sein: Wang-lun in China, Wallenstein in der Geschichte, Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin, abgefallener Jude überall, bekennender Sozialist, Renegat... Aber Christ? Das nicht. Das Christentum Döblins gilt den Deutern wechselnd als Dementi der Vernunft, als Wendung ins Reaktionäre, als Nachlassen der geistigen Spannkraft, als Verrat an der Kunst, als Widerruf der Modernität - jedenfalls unverzeihlich.
Im Juni 1940 ereignete sich eine weitere Familientragödie. Döblins Sohn Wolfgang, ein hochbegabter Mathematiker und Soldat in der französischen Armee, beging Selbstmord, um der Gefangennahme durch die Deutschen zu entgehen. Die Eltern erfuhren vom Tod des verlorenen Sohns erst 1945. Döblin produzierte unterdessen unermüdlich weiter: "Hacke ich nicht täglich meine fünfzehn, zwanzig Schreibseiten herunter, ist mir nicht wohl", schrieb er. Es war ein Rausch des Produzierens, der bezwingend über ihn kam und dem er nur in eiliger Mitschrift folgen konnte. Dieses Tempo erzeugte, wenn es gut lief, eine Prosa von einzigartiger Dynamik und Gegenwärtigkeit.
Im kalifornischen Exil sollte er als Lohnschreiber in Hollywood für den späteren Blockbuster "Mrs. Miniver" probeweise ein Script liefern, und der Auftraggeber staunte nicht schlecht, als Döblin bereits nach zwei Tagen mit einem fertigen Text von 40 Seiten anrückte. Nach Ablauf des Kontraktjahrs musste Döblin seine Wohnung aufgeben; mit seiner Frau Erna bezog er zwei Räume mit Second-hand-Möbeln, und bald waren sie auf Wohltätigkeitsorganisationen und Hilfskomitees angewiesen. Die psychischen Belastungen entluden sich 1942 in einer schweren Herzattacke. Anders als Thomas Mann zögerte Döblin nach dem Krieg dann keinen Augenblick, zurückzukehren nach Deutschland. Er wollte heraus aus der Isolation. Als französischer Kulturoffizier sollte er an der "Umerziehung" der Deutschen mitwirken.
Ein leidiges Kapitel aus diesen frühen Nachkriegsjahren: Döblin in Uniform. Viele Zeitgenossen waren befremdet, dass er bei passenden, noch mehr bei unpassenden Gelegenheiten in der Kluft eines französischen Offiziers auftrat. Die Verkleidung des Pazifisten im Gewand des militärischen Siegers führte zu Getuschel, Befremdung, Unverständnis... Er hat die Uniform des Landes, das ihm 1936 die Staatsbürgerschaft gewährte und bei Kriegsanfang ein Amt anbot, mit Stolz getragen... Ein wichtiges psychologisches Motiv, die französische Uniform auch bei falschen Anlässen zu tragen, bestand für Döblin im Verlust des Sohnes Wolfgang. Dessen Tod hat er zwar nicht verheimlicht, aber die Umstände hielt er gegenüber Dritten zurück: Er bestand darauf, dass Wolfgang als Soldat gefallen sei. Ihm gegenüber fühlte er sich in tiefer Schuld. Er hatte ihm zeitlebens die kalte Schulter gezeigt, und nachträglich erwies sich die Wehrfähigkeit der beiden Söhne Klaus und Wolfgang, die den Eltern zur französischen Staatsbürgerschaft mit verholfen hatte, wie ein Opfer, das sie für das Überleben der Eltern gebracht hatten.
Im Dienst der Besatzungsmacht entfaltete Döblin bald rege kulturpolitische Aktivitäten. Er forderte die Unterdrückung kriegsverherrlichender Werke - aber das einzige Buch, das er als Zensor verbot, stammte von ihm selbst: der kriegerische "Wallenstein", der ihm selbst nicht mehr geheuer war.
Bald zog er ein bitteres Resümee seiner Rückkehr: "Und als ich wiederkam - da kam ich nicht wieder." Anfang der 50er-Jahre hatte er schließlich den Eindruck, er werde geradezu boykottiert. Hat man das große Comeback von Benn, Brecht oder Thomas Mann in Nachkriegsdeutschland vor Augen, wird seine Enttäuschung verständlich. Anders als Brecht oder Benn taugte er freilich nicht als weltanschauliche Leitfigur, als Mann eines zeitgemäßen Habitus. Mit all den unberechenbaren weltanschaulichen Wechselsprüngen, die er in den Jahrzehnten vollzogen hatte, war Döblin nicht kompatibel für Gruppierungen, in denen geistiger Fraktionszwang herrschte. Wenn der letzte Band seiner zweittausendseitigen Tetralogie "November 1918" Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu Romanhelden macht, halb dokumentarisch und halb fabuliert, so ist das bis heute irritierend: "zwei kommunistische Revolutionshelden, von einem christlich gewordenen Juden als Opfer mit unverkennbarer Sympathie gemustert". Zwar waren die meisten seiner Exilwerke bald nach seiner Rückkehr publiziert worden; sie hatten aber nicht das erhoffte Echo gefunden.
Die Honorarabrechnung vom 15. Februar 1954 über sechs Druckwerke fiel vernichtend aus: "Der unsterbliche Mensch" - 22 Exemplare. "Der Oberst und der Dichter" - "nur Remittendenstücke". "Unsere Sorge, der Mensch" - "eine Abrechnung entfällt". "Verratenes Volk" - 9 Exemplare. "Heimkehr der Fronttruppen" - "nur Remittendenstücke", 33 Exemplare von "Karl und Rosa"... Auch die Korrespondenz mit dem Keppler Verlag zeigte diese deprimierende Bilanz. Auf der Frankfurter Buchmesse 1950 waren Döblins Bücher nicht ausgestellt worden. Der Autor beschwerte sich und erhielt von Keppler die unverblümte Antwort, dass Bücher mit holzhaltigem Papier nicht mehr zu verkaufen seien. Von Neuauflagen sprach er nicht... Die Halbjahresabrechnung 1950 wies ein Guthaben von 8,25 DM aus.
Mit viel Empathie beschreibt Schoeller die letzten Jahre des Siechtums. Döblin, ein geschlagener Hiob, schwer an Parkinson erkrankt, von seiner Wirkungslosigkeit enttäuscht, ging noch einmal ins Exil nach Paris. Gelegentlich konnte er sich aber immer noch aufraffen, etwa zu kleinen Änderungen seines Schmerzensbuchs "Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende", das endlich 1956 in der DDR erschien. Er überarbeitete den christlichen Schluss - und Schoeller sieht darin mehr als ein Zugeständnis, nämlich ein "Verblassen der Frömmigkeit" am Ende des Lebens.
Die Biographie verfügt souverän über die Materialmassen, die in kurze Kapitel portioniert werden. Bisweilen hätte man dem Buch etwas mehr erzählerische Zugkraft gewünscht. Es gilt allerdings zu bedenken, dass Döblin bis in die Zeit der Emigration kein autobiografisch arbeitender Autor war. Im Roman "Pardon wird nicht gegeben" hat er seine Kindheit und Jugend verarbeitet; seiner Langzeit-Geliebten und Muse Yolla Niclas hat er viele versteckte literarische Denkmäler errichtet. Davon abgesehen misstraute er als geschulter Psychiater Selbstauskünften schon aus Prinzip: Meist seien sie verbogen und falsch. "Eine wirkliche Autobiographie ist deshalb nicht möglich", meinte er einmal - und macht es einer "wirklichen" Biographie mit solcher Verweigerung nicht leicht. Als Biograph, der sich an die Fakten hält, weicht Schoeller deshalb öfter auf eine andere Überlieferungsspur aus: Viel und zuverlässig ist von Kulturpolitik die Rede, von Döblins Interventionen im Literaturbetrieb. Diese große Biographie, die Lese-Lust auf die Romane und Erzählungen Döblins macht, wird lange ein Standardwerk bleiben.
Wilfried F. Schoeller: Döblin. Eine Biographie.
Hanser Verlag, München 2011, 911 Seiten, 34,90 Euro