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Doğan Akhanlı: „Madonnas letzter Traum“
Das Versagen der Menschheit

Eine obsessive Liebe, ein tragisches Ende, eine verzweifelte Spurensuche, angesiedelt in Deutschland, Polen, der Türkei während der NS-Zeit, aber auch Jahrzehnte später: Doğan Akhanlı, ausgezeichnet mit der Goethe-Medaille 2019, erzählt in „Madonnas letzter Traum“ eine rasante Flüchtlingsgeschichte.

Doğan Akhanlı im Gespräch mit Angela Gutzeit |
Buchcover: Doğan Akhanlı: „Madonnas letzter Traum“
In Wort und Tat ein Kämpfer für den interkulturellen Dialog (Foto: imago Agendia EFE, Buchcover: Sujet Verlag)
Der 1957 in der Türkei geborene Schriftsteller Doğan Akhanlı erhält am 28. August in Weimar während eines Festaktes zusammen mit dem mongolischen Verleger und Publizisten Enkhbat Roozon und der iranischen Filmemacherin Shirin Neshat die Goethe-Medaille 2019. Mit der Auszeichnung ehrt das Goethe-Institut die Zivilcourage und den Mut der drei Preisträger, "sich mit künstlerischen und publizistischen Arbeiten gegen politische, religiöse oder gesellschaftliche Widerstände durchzusetzen.
Im Fall von Doğan Akhanlı wird hervorgehoben, der Schriftsteller würde sich mit größter Klarheit für Erinnerungskultur und Völkerverständigung zwischen Armeniern, Türken und Kurden einsetzten. Aufgrund dieses Engagements musste Akhanlı Anfang der 90er Jahre aus seinem Heimatland fliehen. Er lebt seit 1992 mit seiner Familie in Köln. 2017 versuchte das Erdogan-Regime während eines Spanien-Aufenthalts des Autors seiner habhaft zu werden und seine Auslieferung aufgrund eines nicht belegbaren Verbrechens zu erzwingen. Die Auslieferung wurde verweigert und Doğan Akhanlı konnte nach zwei Monaten nach Deutschland zurückkehren.
Die Aufarbeitung der NS-Geschichte als Vorbild
Mit der Goethe-Medaille wird nicht nur Akhanlıs Eintreten für die Rechte der Kurden geehrt. Ihrer Diskriminierung und Verfolgung in der Türkei widmete er den Roman "Die Richter des Jüngsten Gerichts", der 2007 in deutscher Sprache erschien. Im Mittelpunkt der Preisverleihung steht ein kürzlich bei uns veröffentlichter Roman des türkischen Schriftstellers aus dem Jahre 2007: "Madonnas letzter Traum". Das Interessante an diesem Buch ist, das hier der Holocaust zum Thema gemacht und deutsche Schuld mit türkischer Schuld verknüpft wird. Auf die Frage von Angela Gutzeit, was ihn als Türke dazu bewogen habe, ein jüdisches Schicksal zum Thema eines Romans zu machen, meinte Doğan Akhanlı:
"Anfang der 90er Jahre bin ich nach Deutschland gekommen als Flüchtling und mit einer Gewalterfahrung. Ich bin gefoltert worden, meine Familie, meine Freunde sind gefoltert worden. Und ich wusste nicht, wie ich mit meiner persönlichen Geschichte umgehen kann (…) Ich habe fünf Jahre gebraucht, um zu entziffern, was denn politische und was schriftstellerische Arbeit unterscheidet."
Es sei für ihn ein großes Glück gewesen, so der Autor, dass in dieser Zeit, ab Anfang der 90er Jahre eine intensive Aufarbeitung der NS-Geschichte in Deutschland eingesetzt habe. Er habe beobachten und miterleben können, wie eine Gesellschaft mit ihrer Gewaltgeschichte umgeht. Diese Aufarbeitung der Geschichte, so Akhanlı, habe ihn geprägt.
"So konnte ich überhaupt erst das Buch "Madonnas letzter Traum" schreiben.
Ein kollektives Versagen
Doğan Akhanlıs 465 Seiten starker Roman ist eine literarische Auseinandersetzung mit einem anderen Erzählwerk, mit Sabahattin Alis Novelle "Madonna im Pelzmantel", die 1943 in der Türkei erschien. Sabahattin Ali, 1907 im damaligen osmanischen Reich geboren, 1948 während seiner Flucht aus der Türkei erschossen, war Schriftsteller, Lehrer und Sozialist. Sein Buch erzählt eine Liebesgeschichte zwischen dem türkischen Übersetzer Raif Efendi und der jüdischen Musikerin Maria Puder im Berlin der 20er Jahre. Ali ließ seine Romanfigur Maria Puder bei der Geburt eines Kindes sterben. Sein nachgeborener Schriftstellerkollege Doğan Akhanlı gibt der Geschichte in seinem Roman nun eine neue Wendung, indem er die jüdische Musikerin Maria Puder in die Mühlen der Holocaust-Verfolgung geraten lässt. Sie stirbt schließlich zusammen mit 780 anderen jüdischen Flüchtlingen beim Untergang des seeuntauglichen Schiffes "Struma" vor der türkischen Küste 1942. Die türkischen Behörden hatten dem Schiff das Anlegen im Hafen verweigert. Und so erkennt Doğan Akhanlı in der Verweigerung der Hilfe für die verfolgten Juden ein kollektives Versagen.
"Es gibt Länder", so sagt der Schriftsteller im "Büchermarkt"-Gespräch, "die während des Holocaust eine positive Rolle gespielt haben. Aber am Ende hatte man das Gefühl, wenn man sich mit dem Holocaust tief beschäftigt, gibt es nur ein Versagen der Menschheit."
Ein kollektives Versagen sieht der Autor auch heute wieder in der Abweisung von Flüchtlingen an den europäischen Grenzen.
Dichtung und Wahrheit
Dieses tragische Ereignis der Abweisung durch türkische Behörden und der Versenkung der "Struma" 1942 durch einen russischen Torpedo, entspricht den historischen Tatsachen. Vieles andere in diesem Roman, wie auch die Figur der Maria Puder und des Schriftstellers, der im Roman die Novelle Alis liest und sich auf die Spuren der jüdischen Frau begibt, sind fiktiv. Wobei sich in diesem vielschichtigen Buch Doğan Akhanlıs Fiktion und Wahrheit ständig überlagern. Zum diesjährigen Motto der Preisverleihung des Goethe-Instituts, "Dichtung und Wahrheit", passt also der Roman des türkischen Autors, der mittlerweile deutscher Staatsbürger ist, sehr gut.
Zu Beginn des Gesprächs antwortete Doğan Akhanlı so auch auf die Frage, ob er sich unter diesem Motto gut aufgehoben fühle:
"Ja, sehr aufgehoben!"
Doğan Akhanlı: "Madonnas letzter Traum"
aus dem Türkischen von Recai Hallaç
Sujet Verlag, Bremen. 465 Seiten, 24.80 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassung wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.