Alarm, ein Boot kentert auf stürmischer See. Die Küstenwache rückt aus, sucht aber vergeblich nach den Ertrinkenden.
Ein Festival, das der Flüchtlingskrise einen Schwerpunkt setzt, kommt an einem solchen Szenario nicht vorbei. Der bewegende Wettbewerbsbeitrag "Lampedusa im Winter" wirkte im Hinblick auf das jüngste Drama an der griechischen Insel Lesbos wenige Stunden nach der Filmpremiere sogar aktueller als man wahrhaben möchte. Zugleich erzählt er aber von einer Realität, die in den Nachrichten kaum vorkommt. Die altersschwache Fähre fällt aus, die Versorgung bricht zusammen, die EU lässt die Inselbewohner im Stich. Dass deren Zorn sich trotzdem nicht gegen die Flüchtlinge richtet, hat auch den Filmemacher Jakob Brossmann überrascht:
"Als Österreicher erwartet man ja fast so etwas wie eine rassistische Reaktion auf Flüchtlinge. Und wenn man dann hingeht, sich mit diesen Menschen und ihrem Leben befasst, dann entdeckt man, das Problem kommt gar nicht von außen. Das Problem kommt aus dem Zentrum Europas, wo Entscheidungen getroffen werden, die ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse von Individuen die Lebensrealität aus dem Gleichgewicht bringen und sogar gefährden. Wenn man da aber nicht hinschaut, sondern immer wieder die gleichen Bilder wie durch einen Tunnelblick auf die ankommenden Menschen richtet, könnte man tatsächlich glauben, wir würden überrannt."
Menschen als Individuen
Fremdenfeindlichkeit zu überwinden, ist ein großes Anliegen vieler Filmemacher. Am besten gelingt es denjenigen, die davon absehen, dem Zuschauer subjektive Sichtweisen aufzudrücken, weiß Leena Pasanen, die neue Festivalleiterin des Dok Leipzig. Es komme vielmehr darauf an, Menschen einmal als Individuen aus der Nähe zu zeigen, sagt die Finnin:
"Wenn Sie eine Person längere Zeit begleiten, verstehen Sie leichter, warum sie bestimmte Entscheidungen getroffen hat. Sie müssen einfach sehen, wo diese Menschen herkommen, was sie empfinden, was das Leben für sie bedeutet."
Einige Dokumentarfilmer kamen nur unter großen Schwierigkeiten an die Asylsuchenden heran. Mit viel Geduld und Zähigkeit gelang es der Griechin Marianna Economou beispielsweise, eine Drehgenehmigung für ein Gefängnis zu erwirken. So konnte sie Kontakt zu zwei jugendlichen Flüchtlingen aufnehmen, die sich vor Gericht als potenzielle Schlepper werden verantworten müssen. So wie sich die Regisseurin allerdings mit blindem Vertrauen auf die Seite ihrer Protagonisten schlägt, ist das filmische Ergebnis extrem subjektiv.
Die jungen Männer können nicht beweisen, dass sie Menschen nur unter Androhung von Gewalt illegal über die Grenze geführt haben, ihre unschuldigen Kinderaugen belegen nicht die angebliche Hartherzigkeit der Justizbeamten.
Filmisches Ergebnis extrem subjektiv
Emotionale Manipulation, nachgestellte Szenen und animierte Elemente fließen indes zunehmend in den Dokumentarfilm ein. Das Genre hat sich über viele Jahre facettenreich entwickelt, sagt die Festivalleiterin Pasanen:
"Wenn Sie die Entwicklung unter den kreativen Dokumentarfilmern generell beobachten, werden sie bemerken, dass Animationen für das Erzählen von Geschichten immer bedeutsamer werden. Auch reine Animationsfilme behandeln zunehmend die gleichen Themen wie Dokumentarfilme."
In filmkünstlerischer Hinsicht überragten den Wettbewerb in Leipzig die jüngsten Werke der vielfach ausgezeichneten Russen Alexander Sokurov und Sergei Loznitsa. Von starker Seite präsentierte sich aber auch der deutsche Autorenfilm. In dem Beitrag "Cafe Waldluft" prallen in geradezu kurioser Weise Kulturen aufeinander, seit aus einem traditionsreichen Hotel in Berchtesgaden eine Unterkunft für Asylanten geworden ist. Der Tourismus ist seither rückläufig, Stammtischgespräche bleiben nicht aus, aber darin erschöpft sich dieser komplexe Film keineswegs. Interessant wird es vielmehr da, wo sich verunsicherte Einheimische unerwartet ein Herz fassen und mit den Asylbewerbern vorsichtig in einen Dialog treten.
Komplexe Lebensgeschichten
Wie sehr sich eine Person über einen längeren Zeitraum verändern kann, dokumentiert in verblüffender Weise auch Andreas Voigts Langzeitbeobachtung "Alles andere zeigt die Zeit".
"Es sind sehr komplexe Lebensgeschichten und –Schicksale, einfach auch schon deswegen, weil wir die seit den Wendejahren oder seit dem Mauerfall begleiten, und das war eine Zeit, wo sich unser aller Leben sehr, sehr verändert hat, wo das Unterste nach oben kam und sich jeder neu zurechtfinden musste in einem neuen System."
Wie sich ein ehemaliges Punkmädchen aus einem ostdeutschen Industriegebiet eines Tages im Schwabenland in einer bürgerlichen Existenz als Unternehmerin einrichtet, belegt den staunenswerten erfolgreichen Prozess einer gesellschaftlichen Integration. Insofern ist dieser Film ein wunderbares Geschenk für ein Festival mit einem hohen gesellschaftspolitischen Anspruch.