Halb abgerissene Ohren, blutende Platzwunden im Gesicht, bewusstlose Verlierer. Bilder aus dem Film "Fighter", einer Dokumentation über die Kampfsportart Mixed Martial Arts. Nicht alle 100 Kinobesucher können diese Szenen gut ertragen. 40 von ihnen sind keine gewöhnlichen Festivalbesucher, sie sind Jugendliche Gefängnisinsassen, die gemeinsam mit Leuten "von Draußen", wie sie sagen, einen Film ansehen.
Dass der Film gezeigt wird, hat nicht etwa die Festivalleitung des DOK Festivals entschieden, sondern eine Jury aus 6 Gefangenen. Sie haben 9 Filme vorab sehen können, aus denen sie drei für die Filmvorführungen in ihrem Gefängnis ausgesucht haben. Pablo ist Anfang 20 und erklärt, warum die Jury sich für den Film über die Mixed-Martial-Arts, kurz MMA, entschieden hat:
"Hier im Knast, wir haben auch viel mit Gewalt zu tun gehabt, oder zu tun und es ist einfach interessant, weil es gibt da auch so ein gewisses Klischee über das MMA und das wird damit eigentlich sehr gut aus dem Weg geräumt und man ist die ganze Zeit dabei und es ist einfach nur spannend zuzuschauen, wie das alles ausgeht."
Pablo meint das Klischee des aggressiven Schlägertypen, das den MMA Kämpfern anhaftet. Dabei sei es in erster Linie eine anspruchsvolle Sportart, die viel Disziplin erfordere. Im Film steht das harte Training, eine disziplinierte Lebensführung und die tiefe Freundschaft der Sportler im Vordergrund.
Mit Sport gegen die Aggression
Im Publikum sitzen auch die Filmcrew und die drei Kämpfer, die sie mit der Kamera begleitet haben. Nach der Filmvorführung gibt es eine Diskussion. Die Jugendlichen stellen Fragen an die Kämpfer. Welche Gedanken sie mit in den Kampf nehmen? Wie schwer ihre Verletzungen waren? Welche Wünsche sie noch für ihre sportliche Laufbahn haben. Einer der drei porträtierten Kämpfer im Film erklärt, wie ihm die Sportart geholfen hat, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Dass die Knast-Jury sich für einen Film über blutigen Kampfsport begeistert, das überrascht von außen kaum. Die Jugendlichen haben aber noch einen ganz anderen Film ins Programm gewählt. Eine Dokumentation über den Vorzeigekünstler der Leipziger Schule Neo Rauch. Jurymitglid Christian erklärt, warum er den Film mit ausgewählt hat:
"Auf jeden Fall, weil ich selbst so ziemlich an Kunst interessiert bin, eher Graffitikunst, aber Neo Rauch, also was der gemacht hat, das hat mich inspiriert, selber an Bildern zu malen mit Pinsel. Also ich finde es auch ein bisschen langweilig, weil er so viel erzählt dort, aber auf jeden Fall, das was er macht, finde ich schon ganz schön cool."
"Plötzlich waren wir eins"
Christian hat im Kinovorraum seine Malerei für die Besucher ausgestellt. Sein Bild sei noch nicht ganz fertig, aber zeigen wollte er es bei der Gelegenheit gerne. Im selben Raum mit Christians Kunst bleiben nach der Filmvorführung noch 10 Minuten gemeinsame Zeit. Die Jugendlichen machen Fotos mit den Protagonisten aus dem Film und auch mit den Besuchern. Ein Insasse versammelt zehn Filmstudentinnen, die unter den Besuchern sind, stellt sich zwischen sie und lässt sich fotografieren. Er ergreift die seltene Gelegenheit für ein besonderes Erinnerungsfoto. Eine der Filmstudentinnen ist Helen aus Berlin, etwa im gleichen Alter wie die Insassen. Helen gibt ehrlich zu, dass sie der Film zunächst weniger interessiert hat als die Möglichkeit, ein Gefängnis von innen zu sehen.
"Also wir sind da rein gekommen, und es war so eine Grenze, so eine ganz große, wir sind jetzt die Besucher und die sind die Gefangenen. Und dann aber haben wir den Film angefangen und dann hat sich das so aufgelöst. Dann plötzlich waren wir eins und haben den Film geguckt und wollten alle wissen, wie es weiter geht. Und danach gab es auch so eine ganz andere Stimmung, es war viel gelöster und dann war es so, dass sie wieder in ihre Zellen mussten und dann war es natürlich wieder spürbar, aber ich finde für den Moment, wo das nicht so war, hat sich das auf jeden Fall schon gelohnt."
"Man kann da einfach mal gespannt zugucken"
Das Gefängniskino, in dem die Dokumentation gezeigt wurde, zeigt etwa zwei Mal im Monat einen Film, meistens Unterhaltungsfilme. Jeder hat einen Fernseher auf der Zelle mit 12 Programmen. Insasse Pablo widmet sich ab und zu auch mal einem Dokumentarfilm, sagt er:
"Wenn man hier so Knastalltag, vom Umfeld, man verschließt sich irgendwie so. Im Einschluss, dann hat man ja Zeit mit dem Fernseher. Solche Dokumentarfilme, das sind solche Sachen, wo man sich dann einfach mal voll rein versetzen kann, man kann da einfach mal gespannt zugucken und es ist sehr informativ und es ist einfach mal was ganz anderes, als was man hier so Tag täglich erlebt."
Jeder, der einen Dokumentarfilm sieht, teilt Pablos Erlebnis. Ob "Drinnen" oder "Draußen", Dokumentarfilme geben Einblicke in eine Welt, die uns fern und unbekannt ist.