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Doktor Bruno Sachs

Doktor Bruno Sachs ist Landarzt. Landarzt in irgendeinem Nest in der französischen Provinz, wo die Anforderungen an einen Arzt hoch, die Bezahlung schlecht und die Arbeitszeit ununterbrochen ist Da muß man Moral haben. Dr.Bruno Sachs hat sie. Und sein Autor, der ehemalige Arzt Martin Winckler, ein in Algerien geborener Mittdreißiger, hat sie offenbar auch. Er hat seinen Beruf vor einigen Jahren zwar an den Nagel gehängt, seine Berufung aber nicht. Martin Winckler schreibt seither Romane, um den Menschen zu helfen, sein zweiter, "Doktor Bruno Sachs", war in Frankreich ein Riesenerfolg. 500.000 Mal ging die Geschichte vom Landarzt über die Ladentheke, sie hat den Leserpreis des Senders "France Inter" gewonnen und sie wurde erfolgreich verfilmt. Jetzt kann man diese Art literarischer Doku-Soap auch in Deutsch lesen.

Oliver Seppelfricke |
    Eine Besonderheit dieses 600-Seiten-Romans ist es, daß hier kein Erzähler das Geschehen vorträgt, auch nicht Doktor Bruno Sachs selbst in der Ich-Form, sondern daß es seine Patienten sind, die die Ereignisse vortragen.Sie schildem das Erlebte aus ihrer Perspektive, reden als unzählige Ich-Erzähler in einem wahrhaft vielstimmigen Roman, und reden den Doktor dabei innerlich vertraut mit "Du" an.

    Der Text klingt oft nicht sehr aufregend, eher banal, aber genau darin liegt das Geheimnis dieses Romans. Denn Martin Winckter läßt seinen Doktor Bruno Sachs mit Menschen zu tun haben, die so sind wie wir: Keineswegs einfach, sondern voller Abgründe. (Da ist die alte Oma, die dreimal die Woche kommt oder anruft, weniger um sich behandeln zu lassen als vielmehr, um aber ihre Wehwehchen zu klagen; da ist die junge Frau, die endlich schwanger geworden ist und nun doch abtreiben will, und da ist neben dem jungen Mann, der sich blutig kratzt, der alte Pensionär, der jeden Monat vorbeikommt zum Wiegen und Blutdruckmessen, weit es die Kasse zahlt. Sie alle behandelt Doktor Bruno Sachs, getreu seiner Maxime, daß man Menschen behandeln muß, wenn man Krankheiten heilen will. Und so hört er, der kein Halbgott in Weiß, sondem ein Mensch ist, in seinem Sprechzimmer ausgiebig Familiendramen, Eheschicksale und Lebensgeschichten, die uns Lesern deshalb zu Herzen gehen, weit sie so wahr sind. Wie die vom Leukämiekranken, dessen Frau gerade jetzt wieder mit ihm schlafen will, oder die vom Kehlkopfkrebskranken, dem nichts anderes übrig bleibt, als beim Buddelschiffbauen langsam auf den Tod zu warten. Sie alle bringt uns dieser scheinbar einfache Roman auf eine ganz tiefe Weise nahe, indem er konsequent auf der Oberfläche der Handlungen bleibt und, jede Psychologie vermeidend, nur das "Was" nicht das "Warum" beschreibt.

    Über neun Monate hinweg begleiten wir Doktor Bruno Sachs in seiner Praxis. Wo sich alsbald auch eine junge Frau einfinden wird, die zu seiner Geliebten wird, eine Liebesgeschichte, die eines der vielen Seitenstücke zu den Patientengeschichten bildet. Arzt zu sein ist eine Krankheit, sagt Bruno Sachs, der Streßqeplagte, und beginnt daher seine eigene Therapie: das Schreiben. Er schreibt in seine Tagebuch oder ins Notizheft Überlegungen und Bemerkungen, die, ausgehend von seinen Berufserfahrungen, kompositorisch zwischen die Patientenbesuche gestreut sind und die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Bruno Sachs beklagt Kinder, die von ihren Eltern in Heimen abgestellt werden, drückt seine Wut aus über Menschen, die ohne jeden Versuch, ihr (vor allem psychisches) Leid zu verstehen, dieses nahtlos an die nächste Generation weitergehen. Oder er beschreibt seine kritische Sicht des modernen Lebens. An solcher Stelle wird die scheinbar leichte Arztgeschichte auf ihren tieferen Kein offengelegt.

    "Doktor Bruno Sachs" ist eine schonungs1ose, manchmal grausame Fibel der menschlichen Befindlichkeiten. Die so dargestellt werden, wie sie sind: unverstellt, ungeschönt, sachlich nüchtem, und die gerade deshalb so mitreißend, verstörend und beunruhigend sind. Poesie scheint hier vor allem in den Köpfen und Herzen der Leser auf, wenn sie aus den Mosaiksteinchen der 113 Kapitel sich langsam ein Bild zusammensetzen- ein Bild von den behandelten Personen, vor allem aber ein Bild von Doktor Bruno Sachs selbst. Nicht ganz wie in einem Puzzle fügen sich hier Teilchen und Teilchen zwar zusammen, lassen aber doch eine Leerstelle. In der uns die vielen Persönlichkeiten zwar vertraut, aber letztendlich doch unverständlich bleiben. Eben individuelle Persönlichkeiten. "Doktor Bruno Sachs" ist so ein Buch über die menschlichen Beziehungen geworden (auch über die zwischen Leser und Text), ein Buch, das wahrer ist und wirklicher als jede TV-Doku-Soap!