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Doku-Drama im ZDF
Merkels Flüchtlingspolitik als TV-Event

Der September 2015 gilt als einer der entscheidenden Momente in der Kanzlerschaft Angela Merkels – damals ließ sie hunderttausende Geflüchtete ins Land. Das ZDF hat aus der Geschichte nun ein Doku-Drama gemacht - das aber unter seinen Möglichkeiten bleibt.

Von Michael Meyer |
Stunden der Entscheidung - Angela Merkel und die Flüchtlinge
Heike Reichenwallner als Angela Merkel im Film "Stunden der Entscheidung: Angela Merkel und die Flüchtlinge" (ZDF und Hans-Joachim Pfeiffer)
Nachrichtensprecherin: "Ungarn setzt im Umgang mit den Flüchtlingen nach wie vor auf eine harte Linie."
Ein Morgen wie jeder andere in Berlin: In einer nachgespielten Szene trinkt Angela Tee in ihrer Dienstwohnung und macht sich auf den Weg ins Kanzleramt. Doch schon seit Wochen schwelt eine Krise um Flüchtlinge, die sich aus dem Nahen Osten nach Europa machen. Immer mehr werden es, und das hat ganz konkrete Folgen: Das Doku-Drama verdichtet die Ereignisse und wechselt hin und her zwischen Interviewpassagen, Berichten von damals und Spielszenen.
Auf Fernsehbildern von 2015 sieht man: Auf dem Budapester Hauptbahnhof Keleti herrschten chaotische Zustände in der Hitze des Spätsommers, wie sich der damalige "taz"-Journalist Martin Kaul erinnert:
"Ich hörte Geschrei. Überall waren Menschen auf dem Boden, Kinder, Leute, die so ein bisschen vor sich hinvegetierten, es roch nach Schweiß. Und eine der ersten, was ich gesehen hatte, war, dass Leute sich um Wasser und Brot und Dinge schubsten, prügelten. Das war eine Szenerie, die ich so nie in Europa erwartet hätte."
Ein zentraler Irrtum
Merkel hatte die schwierige Situation zwar auf dem Schirm, hoffte aber, dass sich die humanitäre Krise in Budapest noch mittels Verhandlungen lösen ließe – etwa durch die Hilfe anderer europäischer Staaten. Das war der zentrale Irrtum, wie sich herausstellen sollte, so sagt es der politische Analyst Gerald Knaus im ZDF-Film. Auf dem Bahnhof der ungarischen Hauptstadt kursierten unter den vielen Menschen schnell zahlreiche Gerüchte, erzählt der Journalist Martin Kaul: Deutschland würde die Flüchtlinge aufnehmen, oder aber sie würden in Ungarn interniert.
Einer jener Flüchtenden, der die Initiative ergriff und sich mit anderen zu Fuß auf den Weg nach Deutschland machte, ist Mohammed Zatareih. In einer Spielszene sieht man, wie er zusammen mit einem Freund beschloss, sich zu Fuß aufzumachen:
"Wir könnten laufen."
"Wohin? Nach Deutschland?"
"Oder erstmal nach Österreich, wieso nicht?"
"Das ist doch Wahnsinn. Überall Polizei, die schnappen uns, Fingerabdrücke und dann ab ins Lager."
Ein Problem des Films ist, trotz minutiöser Nachzeichnung der Telefonate, Ereignisse und Gespräche, dass er überhaupt keine zweite Ebene anbietet. Was Merkel wirklich bewegt hatte, die Grenzen zu öffnen, welche Emotionen sie trieben, lässt das Doku-Drama weitgehend im Dunkeln. War es die Begegnung mit einem palästinensischen Flüchtlingsmädchen ein paar Monate zuvor? Merkels Gespräche mit Flüchtenden, die bereits in Deutschland waren? Sicher wäre eine Antwort darauf eine Spekulation gewesen, aber immerhin eine interessante. Diese Frage wurde offenbar keinem der Interviewpartner gestellt. Ganz sicher ein Manko des Doku-Dramas.
Hölzern wirkende Spielszenen
Ein weiteres Problem des Films: Die gestelzt und hölzern wirkenden Spielszenen. Merkel-Darstellerin Heike Reichenwallner wirkt deutlich älter, als Merkel damals war, und nicht nur das: Die Kanzlerin kommt zuweilen ungelenk und auch ein wenig plump daher, Politik wird hier ganz stark vereinfacht, etwa wenn sie mit Außenminister Steinmeier telefoniert:
"Angela!"
"Guten Abend, Frank! Ich rufe wegen Ungarn an."
"Ja, das dachte ich mir… schwierige Situation."
"Schwierig ja, aber eindeutig: Wir können Österreich nicht alleine lassen. Ich habe gerade mit Faymann telefoniert. Es ist natürlich selbstverständlich, dass wir Österreich helfen, das ist alternativlos."
Doch hätte Angela Merkel anders entscheiden können? Die Alternative wäre wohl ein gewaltsames Eingreifen gewesen, eine Maßnahme, die niemand hätte wollen können. Am Ende entschied Merkel - so zeigt es der Film in einer Spielszene - ganz allein. Merkels Assistentin Beate Baumann warnt sie noch: Sie, Merkel, sei hierbei nun ganz auf sich gestellt.
Am Schluss lässt der Film nochmal minutenlang Fernsehbilder Revue passieren, wie Merkel sich vor und nach der Flüchtlingskrise verhielt, wie ihr bei öffentlichen Veranstaltungen Hass entgegenschlug.
Solide aber unambitioniert
Doch auch die Aneinanderreihung dieser Bilder sind nur ein halbherziger Versuch, die Öffnung der Grenzen über Nacht zu erklären. Was bewegte Merkel wirklich – mit dieser Frage lässt der Film die Zuschauer allein. "Stunden der Entscheidung: Angela Merkel und die Flüchtlinge" ist daher eher ein Doku-Drama geworden, das solide aber unambitioniert die Ereignisse des Septembers 2015 porträtiert. Einordnung und Analyse liefern Regisseur Christian Twente und sein Drehbuchautoren Sandra Stöckmann und Marc Brost nur am Rande. Vielleicht ist es vier Jahre nach der Krise noch zu früh für einen solchen Film.