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Doku-Regisseurin Lorna Tucker
"Vivienne Westwood ist noch mehr Punk als früher"

"Von Vivienne habe ich gelernt, aufsässiger zu sein", sagte Regisseurin Lorna Tucker über die britische Star-Designerin Westwood im Dlf. Bei den Dreharbeiten habe sie gemerkt, wie energisch die Punk-Vordenkerin das Label führe und für den Umweltschutz kämpfe - auch wenn die Modebranche mitnichten grün sei.

Lorna Tucker im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski | 20.12.2018
    Vivienne Westwood protestiert Backstage.
    Vivienne Westwood ist immer noch eine Aktivistin. Vivienne Westwood (Marta Lamovsek)
    Adalbert Siniawski: Lorna Tucker. Mitte der 60er-Jahre traf Viviennne Westwood Malcolm McLaren, den Manager der New York Dolls und der Sex Pistols. Sie wurden ein Paar und eröffneten eine Mode-Boutique in London mit dem Namen "Let It Rock". Sie mischten Punk-Musik und Mode mit der "Do-it-yourself"-Attitüde. Man sagt ja, dass es beim Punk um Haltung geht. Wie verkörpert Westwood diese Haltung?
    Lorna Tucker: Ich denke, dass Vivienne Westwood heute sogar noch mehr Punk ist als früher. Wenn man sieht, was sie und Malcom mit "Let It Rock", der Mode und den Bands, die sie unterstützt haben, angestoßen haben – dann ist das wirklich wichtig. Sie haben ähnliche Zeiten wie wir heute erlebt: eine Regierung, der man nicht vertrauen kann, große Finanzkrisen, eine Bevölkerung, die angelogen wurde. Damals gab es eine große Wut, und Punk war als Ventil perfekt dafür. Vivienne hat das entscheidend mit angestoßen, indem sie dem Ganzen einen Look, eine Ästhetik gegeben hat. Aber was sie heute als ältere Frau macht, ist weit mehr Punk. Den Händlern und Einkäufern ihres Modelabels zu sagen: "Kauft meine Sachen nicht, weil sie mir nicht gefallen." Sieben Tage die Woche als 77-Jährige zu arbeiten, um ihre Firma nachhaltiger zu machen: Das ist Punk. Es bedeutet, dem System den Mittelfinger zu zeigen.
    Siniawski: Ihre Designs hatten immer eine Botschaft. Westwood und McLaren wollten das System kritisieren. Das "Destroy"-Shirt zum Beispiel war aus weißem Musselin mit einem großen roten Hakenkreuz, einem umgedrehten Kirchenkreuz und einer Textpassagge vom Song "Antichrist" von den Sex Pistols. Auf der einen Seite wollten Westwood und McLaren das System bekämpfen, auf der anderen Seite war es die beste PR für sie, oder?
    Regisseurin Lorna Tucker: Der Film über Westwood kostete die Freundschaft zu der Modedesignerin.
    Regisseurin Lorna Tucker: Der Film über Westwood kostete die Freundschaft zu der Modedesignerin. (picture alliance / AP / Invision / Taylor Jewell)
    Tucker: Absolut. Sie haben versucht, zu schockieren. Sie waren keine Nazis, sie hatten nichts gegen Religion. Sie versuchten nur, die provokanteste und anstößigste Kleidung herzustellen, die sie machen konnten.
    Siniawski: Ihre Sachen werden heute in Museen wie dem Victoria & Albert in London ausgestellt. Im Film sehen wir, wie eine der Mitarbeiterin das "Destroy"-Shirt nur mit Satin-Handschuhen anfasst – was schon grotesk ist. Westwood selbst sagt: "Wir wollten das Establishment bekämpfen, das System zerstören - aber eigentlich haben wir immer Werbung dafür gemacht." Für die Freiheit in einem demokratischen System. Wie geht sie damit um?
    Tucker: Ich weiß es nicht. Und dazu ist Vievienne eine Dame, was widersprüchlich ist. Sie führt eine Modefirma. Die Mode-Industrie aber ist eine der Industrien, die zu den zerstörerischten auf dem Planeten gehört. Aber sie versucht wirklich daran etwas zu ändern.
    Siniawski: In der Tat, eine widersprüchliche Frau. Vivienne Westwood ist immer noch eine Aktivistin. Sie unterstützt Proteste gegen den Klimawandel. Aber auf der anderen Seite ist sie Teil einer Industrie, die Luftverschmutzung verursacht. Das Label verkauft etwa Plastikschuhe. Und wieder ist Sie ein Teil des Systems, das sie eigentlich bekämpfen möchte, oder?
    "Nichts wird ohne Vivienne gemacht"
    Tucker: Ja, ganz bestimmt. Ich denke, das ist der Kampf, den sie mit sich selbst führt. Ich bewundere sie so sehr. Mit dem Film wollte ich meine Bewunderung ausdrücken. Ich wollte zeigen, wie hart es für sie war und wie lange sie für den Erfolg gebraucht hat. Es war kein Erfolg über Nacht. Es hatte nichts mit Geld zu tun. Aber ich wollte auch ehrlich sein und genau diese Widersprüche zeigen.
    Siniawski: Und nun nennt sie den Film "mittelmäßig". Hat Sie das verletzt?
    Tucker: Nein, hat es nicht. Ich hatte schon irgendwie die Ahnung, dass sie sich vom Projekt distanzieren würde. Es gab so viele Leute, die mir sagten: "Was immer Du auch machst, es wird ihr nicht gefallen, weil sie ihren ganz eigenen Stil hat." Mein Stil als Filmemacherin ist ruhig und beobachtend. Ich wusste, dass es für sie bei dem Film ausschließlich um ihren Aktivismus gehen sollte. Von Anfang an war mir klar, dass sie glaubte, mich irgendwann überzeugen zu können, meine Filmerzählung zu ändern – und zwar in der Weise, wie sie die Geschichte erzählen will. Gleichzeitig wusste ich, dass sie sich damit bei mir nie durchsetzen würde.
    Die britische Modedesignerin Vivienne Westwood während des Launches der Fotoausstellung "Save the Arctic" in der Londoner Waterloo Station. 
    Die britische Modedesignerin Vivienne Westwood während des Launches der Fotoausstellung "Save the Arctic" in der Londoner Waterloo Station. (picture alliance / dpa / Andy Rain)
    Siniawski: Lassen Sie uns nochmal ein bisschen in die Geschichte zurückgehen. Nachdem sich Westwood von Malcom McLaren getrennt hatte, wurden sie und ihr früherer Student Andreas Kronthaler ein Paar und auch Geschäftspartner. Sie sieht sich sogar als seine Muse. Wieviel Vivienne Westwood steckt noch in dem Label "Westwood"?
    Tucker: Da steckt noch eine Menge von ihr drin. Viele der heutigen Entwürfe beziehen sich auf frühere Designs von ihr. Vielleicht haben sie einen neuen Dreh, ein neues Material. Jedenfalls wird nichts ohne Vivienne gemacht. Sie segnet alles final ab.
    Siniawski: Und dabei ist sie sehr direkt, ehrlich und fast schon gemein. Zum Beispiel in der Art, wie sie ihre Kreativdesigner behandelt, wenn ihr etwas nicht gefällt. Westwood ist eine knallharte Chefin. Wie wichtig ist es, dass sie so resolut ist?
    Tucker: Ich mag das. Ich denke, wir könnten alle etwas davon lernen. Mich hat es zum Beispiel sehr viel direkter gemacht. Bevor ich diesen Film gemacht habe, war ich unheimlich unsicher und komplexbeladen. Ich war nie auf einer Filmschule. Ich kann nicht schreiben, ich kann nicht lesen. Trotzdem wusste ich, dass ich ein Talent dafür habe, dass Leute mir vertrauen und mir ihre Geschichte erzählen. Aber ich hatte nie eine eigene Stimme. Ich hatte immer Angst, andere zu verärgern oder das zu verlieren, was ich habe. Ich habe immer versucht, Leute glücklich zu machen. Von Vivienne habe ich gelernt, aufsässiger zu sein – ehrlicher und direkter. Das macht das Leben sehr viel weniger kompliziert. Man muss nicht gemein sein zu anderen, aber ich denke, wir können viel von Vivienne lernen.
    Das Corsogespräch mit Lorna Tucker – hören Sie hier in englischer Originalversion
    Siniawski: Die Zeitung "The Guardian" beschrieb sie als "furchtlos". Sie haben sich nicht nur mit Westwood auseinandergesetzt: In ihrem nächsten Film bringen Sie eine delikate Geschichte: nämlich ihre eigene – von einem obdachlosen Teenager, der drogenabhängig ist, bis zu Ihrer kreativen Karriere. Warum machen Sie das? Auch um, Ihre eigene Persönlichkeit zu verstehen?
    Tucker: "Bare" is kein Dokumentarfilm. Es ist ein Spielfilm. Wir casten gerade Schauspieler dafür. Es geht um meine Geschichte. Als ich 14 war, lief ich weg von Zuhause. Drogenabhängigkeit, Leben auf der Straße, destruktive Beziehungen. Das war eine dunkle Zeit in meinem Leben. Ich hatte Glück und überlebte. Aber was mir auch immer zustieß, ich hatte immer eine Mutter und einen Vater, die mich liebten und nach mir sahen. Obdachlosigkeit ist ein massives Problem in England und der Welt. Ich wollte einen persönlicheren Film machen. Aber beide Filme haben eine Gemeinsamkeit: starke weibliche Charaktere. Endlich habe ich mich stark genug gefühlt, diese Geschichte zu erzählen - und jetzt will ich es auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.