Musik: Anton Bruckner, 9. Sinfonie, Scherzo
Das Scherzo aus der 9. Sinfonie von Anton Bruckner durchdringt die Basilika in Sankt Florian. Die erhabenen Mauern des barocken Kirchenbaus korrespondieren mit den Fortissimo-Klängen in der Musik. Es bildet den Ausgangspunkt einer filmischen Reise, die sich mit der Biografie Bruckners ebenso akribisch beschäftigt wie mit seinem Werk. Chronologisch zeichnet Regisseur und Drehbuchautor Reiner Moritz die Lebensstationen des 1824 in Ansfelden geborenen Oberösterreichers nach. Von Sankt Florian, wo Bruckner als Chorknabe seine Jugend verlebte und nach seinem Tod unter der Orgel begraben wurde, über Linz, wo er als Organist wirkte, bis nach Wien, wo er seine Sinfonien schrieb und starb.
Anschauliche Erklärungen
Was die Persönlichkeit des Komponisten und die Besonderheiten seiner Handschrift ausmachte, erschließt sich überwiegend aus den Aussagen der vor der Kamera versammelten Experten und Musiker. Anschaulich demonstriert etwa der heutige Linzer Domorganist Bernhard Prammer am Beispiel des Finalsatzes aus der 5. Sinfonie, wie Bruckner den Orgelklang in seine Sinfonik einbrachte.
Prammer im Film: "Es ist dieses berühmte Thema mit den Bläsern, die er im Fortissimo spielen lässt, um anschließend den Violinen einen sehr leisen und leichten Part als Antwort zu geben. Auf der Orgel kann man das sehr gut mit Trompeten-, mit Zungenregistern spielen, und im Anschluss die Antwort quasi als Streicherimitation. [Musikalisches Beispiel wird gespielt] und in der Sinfonie klingt das so: [Musikalisches Beispiel wird gespielt]."
Im Fokus: Bruckners Ringen um Anerkennung als Komponist
Dank solcher grundlegenden, anschaulichen Ausführungen eignet sich der Film "Anton Bruckner - Das verkannte Genie" für den Kenner gleichermaßen wie für den Einsteiger. In den Fokus seines Films rückt Reiner Moritz aber Bruckners Ringen um Anerkennung als Komponist. Es drückt sich an den zahlreichen Umarbeitungen seiner Sinfonien aus, die in unterschiedliche Fassungen mündeten, erläutert die Bruckner-Biografin Elisabeth Meier am Beispiel der Dritten:
Meier im Film: "Nach der ersten Niederschrift gibt es nicht weniger als vier Umarbeitungswellen. Bruckner hat sich entschlossen, selbst zu dirigieren. Das Publikum hat in Scharen und teilweise lachend den Saal verlassen, nur die engsten Getreuen haben ausgeharrt. Aber ein Verleger, Theodor Rettig, hat angeboten, das Werk in Verlag zu nehmen."
Die Rezeption von Bruckners Sinfonik greift der Film auch über zeitgenössische Rezensionen auf, vorgetragen von dem Schauspieler Cornelius Obonya. Ein harscher Verriss erschien beispielsweise im Februar 1883 über die 6. Sinfonie in der "Freien Neuen Presse":
Obonya: "Es ist mir persönlich immer schwer geworden, ein richtiges Verhältnis zu diesen seltsamen Kompositionen zu gewinnen, in welchen geistreiche, originelle, sogar geniale Einzelheiten mit schwer begreiflichen Gemeinplätzen, leeren und trockenen Stellen oft ohne erkennbaren Zusammenhang wechseln. Überdies zu so unerbittlicher Länge ausgedehnt, dass Spielen wie Hören der Atem auszugehen droht."
Entstehungsgeschichte und Rezeption der neun Sinfonien werden im Film beleuchtet
Sachlich fundiert, ambitioniert und kenntnisreich gibt sich der Film "Anton Bruckner - Das verkannte Genie" mit seiner Fülle an Informationen, aber auch ein bisschen überfrachtet und trocken. Die neun Sinfonien, deren Entstehungsgeschichte und Rezeption Moritz im Einzelnen beleuchtet, hätten allein schon reichlich Stoff geboten. Die Aufnahme all der Details fordert dem Zuschauer viel Konzentration ab, zumal sich nur wenige der sprechenden Köpfe auf ein lebendiges Erzählen verstehen. Aber immerhin stichhaltig arbeiten sie heraus, warum Bruckner sogar noch bis in die 90er-Jahre politisch kritisiert wurde. Zu Unrecht, sagt Elisabeth Meier.
"Adolf Hitler war Oberösterreicher - Bruckner auch. Adolf Hitler hat Wagner geliebt - Bruckner auch. In Bruckners Musik ist ein gewisses Pathos, Erhabenheit, Weite, Größe, Repräsentation, woher das kommt, das hat Hitler missverstanden. Und das haben auch die Nazi-Ideologen missverstanden. Und dazu kam, dass unter den jungen Studenten sehr viele Deutschnationale waren. Die haben Bruckner als den österreichischen Wagner auf ihren Schild gehoben und Bruckner ist, ohne dass er selber das betrieben hat, in eine ideologische Auseinandersetzung hineingeraten, hat sich auch ein bisschen vereinnahmen lassen, damit er seinem Werk zum Durchbruch verhilft."
Münchner Philharmoniker liefern die Musik für den Film
Mit Ausschnitten aus einem Bruckner-Zyklus der Münchner Philharmoniker unter ihrem amtierenden Chefdirigenten Valery Gergiev - aufgenommen in der Basilika in Sankt Florian - grundiert Filmautor Moritz seine Doku musikalisch. Seine Verbundenheit mit diesem Orchester, das er mit der Kamera in den 90er-Jahren schon einmal unter dem legendären Sergiu Celibidache begleitete, mag erklären, warum er sich auf Gergiev festlegte, statt auf einen so profilierten Bruckner-Interpreten wie Christian Thielemann.
Gergiev kommt auch mit kurzen Statements zu Bruckners Musik zu Gehör, aber weitaus tiefgründiger erscheinen die Analysen seines Kollegen Kent Nagano, der ebenfalls an dem Film mitwirkt: "Die Einbeziehung der Obertonreihe erzeuge einen Raumeffekt, der den Konzertsaal ausweite und den Eindruck erwecke, es entstehe ein Universum", sagt Nagano. Mit einer Kostprobe ist er im Film aber leider nicht zu erleben. Seine Ausführungen legen sich aus dem Off über Gergievs Interpretationen. Das irritiert und erscheint nicht ganz fair. Zudem erschließt sich nicht, warum Reiner Moritz mit Simon Rattle noch einen dritten Dirigenten mit einem einzigen knappen Statement einbringt. Immerhin eine künstlerische Qualität aber muss man dem Filmautor Reiner Moritz zugutehalten: Dass er die musikalischen Ausschnitte großzügig bemisst. Insbesondere der guten Tonqualität wegen lohnt die Dokumentation "Anton Bruckner - Das verkannte Genie" deshalb trotz seinem etwas verkopften Anstrich einen Besuch im Kino.