Anja Buchmann: Herr Gassmann, warum der Titel "Europe, She Loves"? Hat für Sie Europa etwas Weibliches - wie immer Sie das definieren - oder geht es einfach um die Bedeutung der Frauen im Film?
Jan Gassmann: Ja, es war ein bisschen so eine selbsterfüllende Prophezeiung, also es war ein Titel, den hatte ich wirklich ganz von Anfang an, und es ging dann schon eher von der Sagengestalt aus am Anfang. Da dachte ich mir, okay, Europa ist für mich eigentlich ein weiblicher Kontinent. Und je mehr wir dann gedreht haben, haben wir einfach gemerkt, in diesen Krisensituationen ist es eher die Frau, die da irgendwie sich bewegt, die wirklich auch irgendwie vorwärts macht und nach einer Zukunft sucht, während eben der Mann so paralysiert ist. Deswegen ist der Titel auch am Ende geblieben, "Europe, She Loves", und das war ein Titel, den man auch in Ländern verstanden hat, wo die Leute nur wenig Englisch gesprochen haben. Das hat mir eigentlich gefallen.
Buchmann: Wie ist die Idee zum Film entstanden?
Gassmann: Ja, das ist immer so. Man sucht nach Themen und es gibt Themen, die immer wieder zurückkommen. Und die Paarbeziehung im Dokumentarfilm, das war etwas, was mich echt interessiert hat. Und gleichzeitig war ich in diesem Moment auch beschäftigt mit Europa. Und so kamen die beiden Dinge zusammen. Und ich glaube auch, mich hat es interessiert, in einem Dokumentarfilm auch ein bisschen vom Thema wegzugehen auch ins Innere, in die Gefühle rein und dann war die Idee geboren zu diesem Film.
"Städte finden, die auch eine Geschichte mitbringen"
Buchmann: Die Städte Tallin, Sevilla, Dublin und Thessaloniki standen wohl auch schon zu Beginn fest. Warum diese Orte?
Gassmann: Ja, am Anfang habe ich schon darüber nachgedacht, sollte ich jetzt vielleicht in Rom oder Berlin drehen oder so, aber mich hat es eben interessiert ein bisschen wegzugehen von dem klaren Fokus auf die Hauptstädte, sondern an die Ränder zu gehen und dort aber auch Städte zu finden, die auch eine Geschichte mitbringen, die wechselhaft war. Also Thessaloniki, das zum Beispiel lange türkisch war oder Tallin, das noch immer zu 50 Prozent russischstämmige Bewohner hat - und all diese Städte bringen sowas mit und ich fand das als Kulisse irgendwie sehr spannend. Und das habe ich eigentlich auf der Landkarte entschieden. Das waren alles Städte, in denen ich noch nie war. Das war für mich irgendwie auch wichtig, einfach ein Abendteuer zu machen, loszugehen.
Buchmann: Wie haben Sie die Paare gefunden in den vier Städten?
Gassmann: Ja, das war interessant. Man denkt sich ja heutzutage kann man über E-Mail und Internet das alles so ein bisschen vorplanen und so, aber bei dem Projekt war es tatsächlich so, ich musste dahinfliegen, ich hatte meistens so ein, zwei Telefonnummern...
Buchmann:...woher hatten Sie die?
Gassmann: ...ja, das waren dann Freunde von Freunden, die irgendwie mal dort waren oder so. Aber das war dann wirklich so über das Persönliche dann, und als ich dann mit denen da saß und denen den Film erzählt habe, so nach einer halben Stunde haben die dann gesagt: Okay, ich schau mal nach in meinen Phone, das wäre noch ein Pärchen, das wäre noch ein Pärchen. Ich rufe die mal an. Und wir haben dann insgesamt fast 100 Paare eigentlich getroffen. Einerseits war es Recherche, so viele Menschen zu treffen, weil man dann doch auch ein breiteres Bild auch kriegt von der Situation der Gesellschaft in ihrem Land. Und dann aber die richtige Entscheidung: Was passiert jetzt, wenn wir zusammen weggehen oder in einer Bar sind? Wie verhalten sie sich, wie offen sind sie auch? Und das hat die Entscheidung dann definitiv vereinfacht, und wir konnten sagen: Mit den Leuten kann ich diesen Film drehen.
"Die Leute haben gesehen, wir meinen es wirklich ernst"
Buchmann: Gab es denn Vorgaben an die Paare, wie sie sein sollten? Zum Beispiel prekäre Arbeitssituationen, zum Teil aber trotzdem gute Ausbildung oder bestimmte Art von Problemen habend?
Gassmann: Ganz am Anfang war ich viel thematischer unterwegs. Ich habe mir gedacht, ach, ich brauche einen Hafenarbeiter, ich brauche irgendwie jemanden, der ein Haus besetzt. Und ich habe diese Leute auch alle getroffen. Aber am Ende war es dann eine persönliche Entscheidung, ein Bauchgefühl. Und das sind doch Leute, die eigentlich innerhalb ihrer Gesellschaft schon immer noch zur Mittelschicht gehören, aber trotzdem ohne wirkliche Perspektive sind. Da kamen dann eher zufällig auch Gemeinsamkeiten heraus, aber eben auch, weil diese Masse dieser Menschen so groß ist.
Buchmann: Wie viel Zeit haben Sie mit den Paaren dann verbracht? Ich denke, es braucht ja auch eine Zeit, bis sie sich an die Kamera gewöhnen - zumal sie ja bei sehr, sehr privaten, intimen Szenen gefilmt wurden.
Gassmann: Wir sind losgefahren mit dem Auto aus der Schweiz, und dann waren wir immer vor Ort eigentlich zehn Tage. Ich glaube man kennt das so, wenn man reist - dann bringt man so ein bisschen so was mit, so ein Weltenbummler-Feeling. Und das hatten wir, weil wir hatten irgendwie das Gefühl, jetzt haben wir schon so viele Gefahren überlebt. Und wir kamen dann dort an und die Leute haben gesehen: Wir meinen es wirklich ernst. Deswegen ging es eigentlich immer relativ schnell, wie sie sich vor der Kamera entspannt haben.
Buchmann: Also dieses Weltenbummler-Feeling hat auch mit dazu beigetragen, dass sie wirklich so nah rangekommen sind? Es ist ja wirklich nicht selbstverständlich, dass sich Paare sogar beim Sex filmen lassen.
"Für mich war es kein Voyeurismus, sondern vielmehr ein gemeinsames Arbeiten"
Gassmann: Ja, ich denke das war dann irgendwie die Konsequenz davon, dass man sagt, das ist ein Film über eine Paarbeziehung. Ich muss aber dazu sagen, dass für mich der Sex in diesem Film - nicht wie jetzt bei einem Spielfilm - sozusagen der Höhepunkt oder die Climax ist von einer Szene oder von einer Liebe, sondern für mich war das eher etwas Alltägliches, das ich aber nicht weglassen wollte in einem Film. Und ich finde die Gesten, die Sprache der Körper sozusagen, finde ich auch sehr interessant, weil ich nicht immer nur auf dem Level bleiben wollte, dass die beiden miteinander diskutieren.
Buchmann: Also ich fühlte mich direkt - also nicht nur bei den Sexszenen, das sind sicherlich nicht die Höhepunkte des Filmes - ich fühlte mich beim Sehen regelrecht als Voyeurin. Können Sie das nachvollziehen, oder ist das etwas, was Sie vielleicht auch intendiert haben?
Gassmann: Das kann ich eigentlich nicht unbedingt nachvollziehen, weil ich denke: Voyeurismus wäre für mich, wenn ich die ausstellen würde, aber da rede ich jetzt natürlich aus der Regisseursperspektive. Und für mich ist es vielmehr ein gemeinsames Arbeiten gewesen. Ich glaube, das Privileg, dass man ihnen so nah kommen kann und so nah zuschauen kann, das ist etwas, was eigentlich eher ein Geschenk ist, dass sie uns als Team gegeben haben und dann im Endeffekt eigentlich auch dem Filmzuschauer.
Buchmann: Politik spielt eine Rolle in Ihrem Film und auch wieder nicht. Er ist natürlich sehr privat, aber zum Beginn des Filmes gibt es zum Beispiel so einen EU-Werbeeinspieler, es gibt Radio- und TV-Ausschnitte zu den Themen EU, Arbeitslosigkeit, es gibt Proteste in Griechenland, wo ein Paar auch mit dabei ist, Putin-Äußerungen im estnischen TV und so weiter. Welche Bedeutung hat Politik in Ihrem eigentlich sehr intimen, privaten Film?
"Mir war es ein Anliegen, die Politik und das Private mehr miteinander zu verschachteln"
Gassmann: Ich finde Politik sehr wichtig, weil ich glaube, dass man heutzutage sehr stark unterteilt zwischen Politik und Privatem. Und ich glaube, dass die persönlichen Aktionen, auch das Verhalten im Privaten eigentlich sehr wichtig ist - im Endeffekt für die Gesellschaft. Ich habe mal ein Buch gelesen von Kurt Vonnegut und der sagt dort: Es gibt die "Nation Of Two", das ist er und seine Frau. Und ich fand das sehr interessant, innerhalb dieser Konstruktion zu denken und zu sagen: Okay, wie funktioniert denn so eine Nation Of Two? Vielleicht, was sich da sozusagen ganz im Kleinen, in der kleinsten Gruppe spiegelt, lässt sich vielleicht auch was rauslesen auf dem Markolevel. Und ich denke durchaus, dass es da Parallelen gibt. Und das zusammenzubringen und auch nicht einfach zu sagen, die Politik ist weit weg von mir und mein privates Leben, sozusagen das Individuelle, das ist das wichtige. Das ist etwas, was mir ein Anliegen war, die beiden Dinge mehr miteinander zu verschachteln, aber auch mit dem Bewusstsein, dass wir das bei uns sehr selten machen. Also es gibt ja auch im Film Momente, wo man sehr im Radio drin ist, in diesen Nachrichten, und dann wird es einfach abgeschnitten und abgecuttet und man ist wieder weg von dieser Welt. Man entzieht sich der auch ständig.
Buchmann: Also diese Nation Of Two, die Sie gerade zitiert haben, die repräsentiert für Sie auch durchaus allgemeine politische Zustände in der EU. Könnte man zum Beispiel sagen - so wirkte es ein bisschen auf mich -, dass Sie vielleicht auch ein bisschen zeigen wollten, dass die EU genauso verloren und zukunftsunsicher ist wie die Paare?
Gassmann: Naja, ich denke, ich bin in den Jetzt-Zustand reingegangen. Aber ich glaube, die EU ist bestimmt ein Staatenkonstrukt, das sich auch neu erfinden muss und auch eine gewisse Vision wiederfinden muss.
"Wir sind eine Generation, die ohne große Utopien existiert"
Buchmann: So, wie sich auch die Paare neu erfinden müssen letztendlich.
Gassmann: Genau, die müssen eine Zukunft finden. Und ich glaube, wir sind eine Generation, die ohne große Utopien existiert. Also ich denke, da gab es andere Zeiten, wo man doch irgendwelchen Utopien oder Idealen nachgeeifert hat - und uns fehlt ein bisschen eine Perspektive. Und das, finde ich, ist eigentlich schon etwas, was sich auch auf die EU übertragen lässt. Dass man das Ganze nicht einfach nur noch als Bürokratie wahrnimmt, sondern auch als einen Gedanken, der ein bisschen darüber hinausgeht, dass ja eigentlich die EU ursprünglich auch wirklich ein Konstrukt für den Frieden war. Und jetzt nimmt man es eigentlich nur noch als bürokratische Welt wahr, die mehr Probleme verursacht, als dass sie irgendwie eine Lösung offeriert.
Buchmann: Jan Gassmann, Regisseur des Dokumentarfilms "Europe, She Loves", der übermorgen in die Kinos kommt. Herzlichen Dank, Herr Gassmann, für das Corso-Gespräch.
Gassmann: Dankeschön.
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