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Dokumentarfilmer in der Türkei
"Zensur ist gang und gäbe"

Unter den tausenden 2016 entlassenen Staatsbediensteten in der Türkei ist die 34-jährige Ärztin Yasemin Demirci. Ihre Schwester, die preisgekrönte Regisseurin Nejla Demirci, will den Fall als Film aufarbeiten. Doch die Behörden torpedieren die Dreharbeiten.

Von Kristina Karasu |
    Der türkische Präsident Erdogan spricht in Ankara.
    Nach dem Putschversuch im Juli 2016 ließ Präsident Erdogan per Dekret 115.000 Staatsbedienstete ohne Angabe von Gründen entlassen (AFP / Adem Altan )
    "Berührt unsere Ärztin nicht!", rufen Hunderte aufgebrachte Senioren vor dem staatlichen Krankenhaus des türkischen Urlaubsortes Bodrum. Einige Tage zuvor, am 14. Juli 2017, wurde ihre Kardiologin Yasemin Demirci per Dekret entlassen. Ohne Nennung von Gründen, möglicherweise weil sie in einer Gewerkschaft aktiv ist. Ihre Schwester und Filmemacherin Nejla Demirci ist nach Bodrum gekommen, um Beistand zu leisten - und ist entsetzt, wie sie ihre sonst so lebensfrohe Schwester antrifft:
    "Sie wollte immer Kardiologin werden. Wie sehr sie das menschliche Herz liebt, das habe ich bei ihrer Entlassung begriffen. Ihr Behandlungszimmer nicht mehr betreten zu dürfen, war für sie und auch für ihre Patienten ein großes Trauma."
    "Die Entlassung war für sie wie ein bürgerlicher Tod"
    Ärztin und Patienten beschließen, gegen die Entlassung anzukämpfen. Die Ärztekammer bittet die Regisseurin Nejla Demirci, darüber einen Dokumentarfilm zu drehen, das Thema öffentlich zu machen. Denn seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 und der anschließenden Ausrufung des Ausnahmezustandes wurden über 115.000 türkische Staatsbedienstete per Dekret entlassen, darunter Richter, Polizisten, Krankenschwestern und Lehrer. Die meisten ohne Nennung von Gründen, ohne Gerichtsprozess. Anfangs wurde das von vielen Türken als Maßnahme gegen Putschisten gutgeheißen.
    Doch schnell entwickelte es sich zum Mittel Ankaras, kritische Menschen jeder Art aus dem Staatsdienst zu werfen. Wer sich für diese Menschen einsetzt, wird von Regierung und Propaganda-Medien als Terrorhelfer diffamiert. So tauchen die Massenentlassungen in den türkischen Medien allenfalls als Zahlen auf, aber über die persönlichen Schicksale schweigt man. Die will Regisseurin Nejla Demirci nun ans Licht bringen:
    "Yasemin vereinsamte, die Entlassung war für sie wie ein bürgerlicher Tod. Das ist ja auch das Ziel der Entlassungen. Die Strafe ist erstens eine ökonomische, zweitens wird die Person diskreditiert und drittens bringt es den bürgerlichen Tod. So haben viele Menschen Selbstmord begangen, nachdem sie entlassen wurden."
    Von der Polizei bedroht
    Wer das dokumentiert, bekommt die Staatsmacht zu spüren: Die Dreharbeiten zu Demircis Film werden vom ersten Tag an behindert. Polizisten der Anti-Terror-Einheit beschlagnahmen dutzende Male die Kamera, nehmen Team und Charaktere immer wieder fest, bedrohen sie. Schließlich verbietet die Polizei die Dreharbeiten am 18. Januar endgültig, droht mit Haftbefehl. Die Filmemacherin sieht das als neue Eskalationsstufe:
    "Ich persönlich wollte nie aufhören. Denn dieses Thema muss dokumentiert, an die Öffentlichkeit gebracht werden. Doch der Kommissar der Anti-Terror-Einheit drohte mir zuletzt wutgeladen, dass ich auf jeden Fall bald in große Schwierigkeiten kommen werde - egal ob ich weiterfilme oder nicht."
    Repressalien sind für Nejla Demirci nicht neu. Vor einem Jahr gewann sie den Preis für den besten Dokumentarfilm des Staatsfernsehens TRT für ihre Doku "Confrontation" - ein Film über Frauen mit Brustkrebs, ein unpolitisches Thema. Doch als sie bei der Preisverleihung auf der Bühne eine vermeintlich kritische Rede halten wollte, schnitt man ihr das Wort ab.
    "Zensur ist gang und gäbe"
    Hofiert wird in der Türkei nur, wer regierungskonforme Dokus dreht, etwa über prächtige Moscheen oder osmanische Sultane. Alle anderen werden behindert, betont die Regisseurin:
    "Es gibt keine finanzielle Unterstützung, keine Fonds für kritische Dokumentarfilme. Und wenn man es trotz aller Schwierigkeiten schafft, einen Film zu produzieren, dann kann man ihn nirgendwo zeigen. Die Zensur von dokumentarischen Kinofilmen ist seit ein paar Jahren gang und gäbe."
    Trotzdem ist Regisseurin Demirci fest entschlossen, ihren Film über die Massenentlassungen zu Ende zu bringen. Als wolle man sie darin bestärken, protestieren in der Nähe des Istanbuler Cafés, in dem das Interview stattfindet, links orientierte Gewerkschaftler gegen ihre Entlassung. Unter ihnen Lehrer, Ärzte und Büroangestellte. Eindringlich bitten sie um eine Unterschrift. Einige Passanten nicken ihnen aufmunternd zu, doch die meisten hasten vorbei. Das Schicksal der Entlassenen bleibt ein blinder Fleck in der türkischen Gesellschaft.