Kaum ein Aktenstück gibt der Nachwelt von den ungeheuerlichen Vorgängen im Osten Europas am Ende des Zweiten Weltkriegs authentische Kunde; die Opfer dieser Katastrophe haben keine amtlichen Berichte verfasst und keinen Dienstweg einhalten können. Sie würden für die Nachwelt stumm, wenn ihnen nicht Gelegenheit geboten würde, ihre Erlebnisse aus dem Gedächtnis niederzuschreiben oder sie zu Protokoll zu geben.
Eine Feststellung, die noch heute gilt, und die doch schon vor 50 Jahren getroffen wurde. Sie stand am Anfang einer Sammlung von Augenzeugenberichten, die zu den ersten großen zeithistorischen Projekten der jungen Bundesrepublik zählte: Die ersten drei Bände haben die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze zum Thema, die übrigen die Vertreibung aus der Tschechoslowakei sowie das Schicksal der Deutschen in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Da dieser über 8.000 Seiten umfassenden Dokumentation Erinnerungen zugrunde lagen, die zu diesem Zeitpunkt erst einige Monate oder höchstens wenige Jahre zurückreichten, waren die beteiligten Historiker hinsichtlich der Verlässlichkeit dieser Quellen zuversichtlich:
Mögen sich Einzelbezüge im Erinnerungsbild verwischt haben, das Wesentliche ging nicht verloren; dazu hatten sich die Erlebnisse in ihrer Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit zu stark eingeprägt. Und eben diese Erfahrung rechtfertigte nach den ersten Versuchen ein Unternehmen, das auf die Sammlung nachträglich verfasster Erinnerungsberichte gerichtet war.
Und so machte sich die Historiker-Kommission ans Werk, das immense Konvolut an Erinnerungen in eine systematische Ordnung zu bringen. Dazu unterteilten sie die einzelnen Bände nach den Herkunftsgebieten der Flüchtlinge und stellten den entsprechenden Augenzeugenberichten jeweils eine ausführliche Einleitung voran, die für die notwendige Kontextualisierung sorgt und den spezifischen Charakter des Gesamtvorganges "Vertreibung" verdeutlicht.
So setzen die ersten Berichte im Sommer 1944 ein, als die deutschen Ostprovinzen nach Beginn der sowjetischen Großoffensive erstmals von den Kampfhandlungen betroffen wurden. Die Flucht vor der Roten Armee wurde plötzlich ein Thema, auch wenn vor allem die NS-Parteiführer lange nichts von einer Evakuierung wissen wollten. So erinnerte sich der damalige Bürgermeister der ostpreußischen Stadt Insterburg:
Der Gauleiter erklärte immer wieder, nicht nur die Wehrmacht, sondern vor allem die jetzt von ihm aufgebotenen Männer würden sich im heimatlichen Boden festkrallen, und kein Feind würde weiter in die Provinz eindringen können.
Es kam bekanntlich anders, auch in Insterburg. - Viele Flüchtlingstrecks erreichten ihr eigentliches Ziel nicht, sondern wurden von der Roten Armee eingeholt. Die entsprechenden Augenzeugenberichte sind Legion, in ihrer Gesamtheit bilden sie eine Dokumentation des Schreckens, eine nahezu unerträgliche Lektüre immer wieder ähnlich erlebter Tragödien: Die ständige Angst, die Übergriffe durch Rotarmisten, die Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde. Später kamen Verhaftungen hinzu, Zwangsarbeit oder die Verschleppung in die Sowjetunion.
Diese Dokumentensammlung ist für sich genommen eine historische Quelle von ungeheurer Bedeutung, weshalb ihr erneutes Erscheinen im Prinzip zu begrüßen ist. Allerdings sind Erinnerungen für eine seriöse Beschreibung vergangener Geschehnisse immer auf eine kommentierende Einordnung angewiesen. Und die ist im vorliegenden Falle ein halbes Jahrhundert alt, so dass Sprache und Geist der 50er Jahre herrscht. Das ist stellenweise schwer erträglich, etwa bei der Analyse des Phänomens der Massenvergewaltigungen, das die Herausgeber gerne als etwas Uneuropäisches verstanden haben wollten:
Es lässt sich erkennen, dass hinter den Vergewaltigungen eine Verhaltensweise und Mentalität stand, die für europäische Begriffe fremd und abstoßen wirkt. [...] Die Tatsache, dass sowjetische Soldaten asiatischer Herkunft sich dabei durch besondere Maßlosigkeit und Wildheit hervortaten, bestätigt, dass gewisse Züge asiatischer Mentalität wesentlich zu jenen Ausschreitungen beigetragen haben.
Niemand würde heute zu einer solchen rassistischen Erklärung greifen. Vielmehr hat die historische Forschung längst gezeigt, dass es – auch wenn die Übergriffe der Roten Armee dabei herausragen – sowohl durch Truppen der Achsenmächte wie der alliierten Armeen zu Vergewaltigungen in fast allen involvierten Ländern kam. Aber dies erfährt der Leser mangels Überarbeitung der erläuternden Texte nicht. Und somit auch nicht die eigentümliche Geschichte von Theodor Schieder, damals federführender Herausgeber dieser Dokumentation. Erst einige Jahre nach seinem Tod 1984 wurde bekannt, dass Schieder – später einer der renommiertesten Historiker der Bundesrepublik – schon im so genannten "Dritten Reich" mit Bevölkerungspolitik beschäftigt war, genauer: mit deutschen Vertreibungsphantasien. Unter anderem hatte er 1939 in einem Geheimgutachten für die erwünschte Ansiedlung deutscher Kolonisten im besetzten Osten die Deportation mehrerer hunderttausend Polen vorgeschlagen. Auch vor dem Hintergrund dieses Wissens ist die unveränderte Wiederauflage der achtbändigen Dokumentation diskussionswürdig. Es mag ja verlockend gewesen sein, sie auf den gerade boomenden Markt für Vertreibungsliteratur zu werfen. Dass aber auf jede Form aktualisierender Kommentierung verzichtet wurde, das ist nicht akzeptabel.
Tillmann Bendikowski besprach die: "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" in acht Bänden, in Kassette erschienen im Deutschen Taschenbuch-Verlag in München zu einem Gesamtpreis von 98,- Euro.
Eine Feststellung, die noch heute gilt, und die doch schon vor 50 Jahren getroffen wurde. Sie stand am Anfang einer Sammlung von Augenzeugenberichten, die zu den ersten großen zeithistorischen Projekten der jungen Bundesrepublik zählte: Die ersten drei Bände haben die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze zum Thema, die übrigen die Vertreibung aus der Tschechoslowakei sowie das Schicksal der Deutschen in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Da dieser über 8.000 Seiten umfassenden Dokumentation Erinnerungen zugrunde lagen, die zu diesem Zeitpunkt erst einige Monate oder höchstens wenige Jahre zurückreichten, waren die beteiligten Historiker hinsichtlich der Verlässlichkeit dieser Quellen zuversichtlich:
Mögen sich Einzelbezüge im Erinnerungsbild verwischt haben, das Wesentliche ging nicht verloren; dazu hatten sich die Erlebnisse in ihrer Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit zu stark eingeprägt. Und eben diese Erfahrung rechtfertigte nach den ersten Versuchen ein Unternehmen, das auf die Sammlung nachträglich verfasster Erinnerungsberichte gerichtet war.
Und so machte sich die Historiker-Kommission ans Werk, das immense Konvolut an Erinnerungen in eine systematische Ordnung zu bringen. Dazu unterteilten sie die einzelnen Bände nach den Herkunftsgebieten der Flüchtlinge und stellten den entsprechenden Augenzeugenberichten jeweils eine ausführliche Einleitung voran, die für die notwendige Kontextualisierung sorgt und den spezifischen Charakter des Gesamtvorganges "Vertreibung" verdeutlicht.
So setzen die ersten Berichte im Sommer 1944 ein, als die deutschen Ostprovinzen nach Beginn der sowjetischen Großoffensive erstmals von den Kampfhandlungen betroffen wurden. Die Flucht vor der Roten Armee wurde plötzlich ein Thema, auch wenn vor allem die NS-Parteiführer lange nichts von einer Evakuierung wissen wollten. So erinnerte sich der damalige Bürgermeister der ostpreußischen Stadt Insterburg:
Der Gauleiter erklärte immer wieder, nicht nur die Wehrmacht, sondern vor allem die jetzt von ihm aufgebotenen Männer würden sich im heimatlichen Boden festkrallen, und kein Feind würde weiter in die Provinz eindringen können.
Es kam bekanntlich anders, auch in Insterburg. - Viele Flüchtlingstrecks erreichten ihr eigentliches Ziel nicht, sondern wurden von der Roten Armee eingeholt. Die entsprechenden Augenzeugenberichte sind Legion, in ihrer Gesamtheit bilden sie eine Dokumentation des Schreckens, eine nahezu unerträgliche Lektüre immer wieder ähnlich erlebter Tragödien: Die ständige Angst, die Übergriffe durch Rotarmisten, die Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde. Später kamen Verhaftungen hinzu, Zwangsarbeit oder die Verschleppung in die Sowjetunion.
Diese Dokumentensammlung ist für sich genommen eine historische Quelle von ungeheurer Bedeutung, weshalb ihr erneutes Erscheinen im Prinzip zu begrüßen ist. Allerdings sind Erinnerungen für eine seriöse Beschreibung vergangener Geschehnisse immer auf eine kommentierende Einordnung angewiesen. Und die ist im vorliegenden Falle ein halbes Jahrhundert alt, so dass Sprache und Geist der 50er Jahre herrscht. Das ist stellenweise schwer erträglich, etwa bei der Analyse des Phänomens der Massenvergewaltigungen, das die Herausgeber gerne als etwas Uneuropäisches verstanden haben wollten:
Es lässt sich erkennen, dass hinter den Vergewaltigungen eine Verhaltensweise und Mentalität stand, die für europäische Begriffe fremd und abstoßen wirkt. [...] Die Tatsache, dass sowjetische Soldaten asiatischer Herkunft sich dabei durch besondere Maßlosigkeit und Wildheit hervortaten, bestätigt, dass gewisse Züge asiatischer Mentalität wesentlich zu jenen Ausschreitungen beigetragen haben.
Niemand würde heute zu einer solchen rassistischen Erklärung greifen. Vielmehr hat die historische Forschung längst gezeigt, dass es – auch wenn die Übergriffe der Roten Armee dabei herausragen – sowohl durch Truppen der Achsenmächte wie der alliierten Armeen zu Vergewaltigungen in fast allen involvierten Ländern kam. Aber dies erfährt der Leser mangels Überarbeitung der erläuternden Texte nicht. Und somit auch nicht die eigentümliche Geschichte von Theodor Schieder, damals federführender Herausgeber dieser Dokumentation. Erst einige Jahre nach seinem Tod 1984 wurde bekannt, dass Schieder – später einer der renommiertesten Historiker der Bundesrepublik – schon im so genannten "Dritten Reich" mit Bevölkerungspolitik beschäftigt war, genauer: mit deutschen Vertreibungsphantasien. Unter anderem hatte er 1939 in einem Geheimgutachten für die erwünschte Ansiedlung deutscher Kolonisten im besetzten Osten die Deportation mehrerer hunderttausend Polen vorgeschlagen. Auch vor dem Hintergrund dieses Wissens ist die unveränderte Wiederauflage der achtbändigen Dokumentation diskussionswürdig. Es mag ja verlockend gewesen sein, sie auf den gerade boomenden Markt für Vertreibungsliteratur zu werfen. Dass aber auf jede Form aktualisierender Kommentierung verzichtet wurde, das ist nicht akzeptabel.
Tillmann Bendikowski besprach die: "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" in acht Bänden, in Kassette erschienen im Deutschen Taschenbuch-Verlag in München zu einem Gesamtpreis von 98,- Euro.