"Risikogruppen" – der Begriff ist seit ein paar Monaten eng mit Corona verknüpft. Die gleichnamige Ausstellung in Pforzheim öffnet den Blick auf weitere gesellschaftliche Gruppen, die Risiken tragen. Zum Beispiel Soldaten im Krieg, oder die Leiharbeiter*innen in den Fleischfabriken. Filme und Videoinstallationen von Yulia Lokshina sind zu sehen. Im Zentrum der Ausstellung steht ihre Dokumentation "Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit". Die hat im Januar den Max Ophüls-Preis gewonnen und könnte zeitlich passender nicht gezeigt werden. Es geht nämlich um Arbeitsbedingungen für die meist osteuropäischen Arbeitskräfte bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Drei Jahre hat sie diesen Film gedreht, der jetzt durch die Infektionszahlen in Fleischbetrieben und den damit verbundenen Fokus auf die Arbeitsbedingungen dort ungeheure Aufmerksamkeit bekommt.
Das Problem ist Teil unserer Gesellschaft
Der Film wähle eine ungewöhnlliche Erzählweise, sagt Yulia Lokshina, weil man viele Bilder, die man zum Thema erwarten würde, nicht zu sehen bekomme. Ihre Dokumentation lege einen stark strukturellen Fokus und versuche, die Problematik als Teil unserer Gesellschaft zu erzählen. Im Gespräch mit Betroffenen, mit Aktivisten und mit Schülern, die das Stück "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" von Bertolt Brecht proben.
"Das ist auch eine ästhetische Entscheidung", sagt Lokshina. Es sei aber auch nur unter strengen Auflagen möglich gewesen, im Betrieb zu drehen. Außerdem sei der Betrieb Tönnies zur Zeit stark in den Medien, ihr Filmtteam habe sich auch mit Arbeiter*innen von dort beschäftigt, aber eben auch mit anderen. "Wir wollten etwas zurücktreten", so Lokshina. "Wir wollten schon auf die Einzelschicksale und die einzelnen Betroffenen und ihre Geschichten blicken, aber daraus ein größeres Gesamtbild zusammenstecken, das wegführt von dem einen, stark fokussierten Problemspot."
Man muss genauer hinschauen
Der Umgang mit Menschen sei bei Tönnies eine Katastrophe, sagen Betroffene in Lokshinas Dokumentation. Die Aktivisten sagen, das gehe schon viel zu lange so. In drei Jahren Dreharbeiten wollte sie genauer hinschauen. Denn in dem Medien würden sich die Bilder stark wiederholen, "dann erkennt man darin nichts mehr". Die Frage sei aber: "Wie entsteht der Effekt der Unsichtbarkeit, über den immer gesprochen wird". Genau wie bei den systemrelevanten Berufen, die durch Corona eine Sichtbarkeit erfahren hätten. Sie wollte andere Bilder finden als in den Medien, um diese Menschen sichtbar zu machen.
In Rheda-Wiedenbrück würden sich die Einheimischen und die Arbeitsmigrant*innen eher selten begegnen, so Lokshina, weil die Arbeiter*innen sehr viel arbeiteten und weit weg wohnten. Es sei aber kein Geheimnis, dass es sie gibt und es komme immer darauf an, ob man bereit sei hinzuschauen und ins Gespräch zu kommen. Zum Beispiel im Krankenhaus oder im Bus. "Man braucht den Willen, sich dem zu stellen", sagt die Regisseurin, auch wenn es Aufwand bedeute.
Wir haben noch länger mit Yulia Lokshina gesprochen -
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Wenn der Justiziar der Firma Tönnies in Gegenwart von CDU-Fraktionschef Brinkhaus in ihrem Film sage, dass die Leiharbeiter*innen aber gerne bei Tönnies arbeiteten, weil sie sonst nicht so lange bleiben würden, dann mache es so eine Formulierung leicht, die Verantwortung an die Einzelnen abzuschieben. Aber nur, weil jemand keine bessere Möglichket zu arbeiten und zu leben und Anforderungen zu stellen habe, heiße das nicht, dass es okay sei, für die Person eigene Regeln aufzustellen. "Wir haben ein Rechtssystem", sagt Lokshina, und das gebe vor, dass alle die gleichen Rechte genießen sollten. "Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, erst recht in unserem europäischen Raum für das Zusammenleben und für das Arbeiten."
Die Ausstellung "Risikogruppen" mit Arbeiten von Yulia Lokshina ist vom 03. Juli bis 02. August im A.K.T. in Pforzheim zu sehen.
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