Die Wirtschaftshistorikerin Dominique Manotti ist eine hellwache Beobachterin von Politik und Gesellschaft. So stutzt man als Leserin zunächst, dass ihr neuer Roman über Rassismus in der Polizei im Jahr 1973 spielt. Für dieses Thema gäbe es doch genug aktuelle Aufhänger! Doch wieder einmal hat Manotti ihr Setting klug gewählt, denn sie beschreibt nichts weniger als die Geburtsstunde des strukturellen Rassismus in Frankreich.
Eine Mordserie an Algeriern versetzt die migrantische Einwohnerschaft von Marseille in Angst. Als die Polizei keine Hinweise auf rassistische Straftaten zu erkennen vorgibt und Ermittlungen im Sande verlaufen, mobilisieren sich die vor allem nordafrikanischen Arbeiter. Ihre Streiks legen zahlreiche Betriebe lahm, was Signalwirkung auf Migranten in ganz Frankreich hat.
"Etwas mehr als ein Toter alle zwei Tage"
Die Anschlagsserie auf Algerier im Sommer und Herbst 1973 hat es tatsächlich gegeben. Am Romananfang versuchen Commissaire Théo Daquin und sein Team, sich ein Bild von der Situation in Marseille zu machen:
"Im Durchschnitt etwas mehr als ein Toter alle zwei Tage. Aber das sind die offiziellen Zahlen, die Realität sieht höchstwahrscheinlich anders aus. [...] Niemand führt Buch über die Verletzten. Wenn auf eine Gruppe Nordafrikaner geschossen wird oder auf eine Einzelperson, und man protokolliert keine Toten oder Sterbenden, vermerken die offiziellen Statistiken bloß: kein Opfer. Und wir hatten in den zwei Sommermonaten über zwanzig Schüsse auf algerische Cafés und Unterkünfte oder auf Gruppen oder einzelne Einwanderer. Noch nicht mitgerechnet die Brandanschläge auf Wohnhäuser oder Firmen. Zu diesen Anschlägen ist keine einzige Zahl veröffentlicht. Tatsächlich gab es seit der Sache in Grasse am 12. Juni hier in Marseille und Umgebung praktisch täglich gewalttätige Zwischenfälle, deren Opfer gemäß offiziellen Statistiken allesamt Nordafrikaner sind. Um genau zu sein: Bis hierher ist die überwiegende Mehrheit der Opfer algerisch. Dieser Beschuss kommt wahrscheinlich nicht von ungefähr. Der Algerienkrieg ist nicht vorbei."
Der Krieg zwischen Frankreich und Algerien war 1962 zu Ende, nicht so die daraus resultierenden Konflikte und Traumata. Im Roman und in der Wirklichkeit ist der Algerienkrieg auch bei der Marseiller Polizei nicht vorbei, denn sie vertuscht die Anschläge, verschleppt Ermittlungen, legt falsche Fährten. "Konflikte unter Glaubensbrüdern, Schlägereien, Unfälle", so lautet das gängige Erklärungsmuster.
Kein Geschichtsbuch, sondern ein packender Krimi
Damit "Marseille.73" kein Geschichtsbuch, sondern ein packender Kriminalroman wird, braucht Dominique Manotti nach diesen Einblicken in die Marseiller Gemengelage einen Plot. Und so führt sie die Familie Khider ein: Vater, drei Söhne. Der jüngste, Malek, wird vor einem Café auf offener Straße erschossen.
Ab hier könnte ein klassisches Whodunit folgen. Doch dem Team um Kommissar Daquin, das an den Tatort gerufen wird, werden die Ermittlungen schnell wieder entzogen und der Sûreté übergeben, der für Verbrechensbekämpfung zuständigen Sicherheitspolizei.
Théo Daquin, 27, aus Paris zugereist, fremdelt mit Marseille. Die miteinander konkurrierenden Polizeiapparate, die engen persönlichen Verstrickungen in allen Bereichen, das alles missfällt ihm; er hat seine Versetzung beantragt.
"Filz aus stillschweigender Duldung und Kompromissen. Wahrscheinlich überall gleich. Der typische Marseiller Stil liegt in der Komplexität der Interaktionen und dem Zynismus, mit dem jeder damit hausieren geht und darin schwelgt. Stolz darauf, Marseiller zu sein. Bilder der vergangenen Nacht, die Blutlachen, der Alte und der Bruder tief getroffen, die beiden Jungen, die sich so eifrig ihrer Erinnerungsarbeit widmen, wie werden sie alle reagieren? Die Abrechnung-im-Milieu-Version schlucken? Sich wehren? Und du, Commissaire, bist du bereits tot? Beweg dich, lebe, mache deine Arbeit."
Symbolfigur des antirassistischen Protests
Als Daquins Team von den Ermittlungen abgezogen wird, kommt von anderer Seite her Bewegung in den Fall Malek Khider. Er wird zur Symbolfigur des antirassistischen Protests, seinem Trauerzug schließen sich Hunderte Algerier an. Nicht mehr so leicht für den Richter, den Fall im Sande verlaufen zu lassen. Als ein junger Anwalt im Auftrag einer Hilfsorganisation die Familie Khider zu unterstützen beginnt und immer mehr Unregelmäßigkeiten bei den Ermittlungen aufdeckt, gerät die Polizei unter Druck.
Der Showdown kommt etwas plötzlich, und der Mörder, ein Polizist, wird gefasst. Der korrupte Polizeiapparat allerdings nimmt durch die Enthüllungen keinen Schaden. Und auch die rassistischen Anschläge sind damit nicht vorbei. In der historischen Wirklichkeit ging man lediglich zu effizienteren Methoden über: Ab Dezember 1973 häuften sich Bombenattentate auf algerische Einrichtungen.
"Marseille.73" ist nicht ganz frei von dramaturgischen Durchhängern, ein paar Straffungen und ein etwas reduzierteres Personal hätten dem Buch mehr Tempo verliehen. Aber das ist leicht zu verschmerzen in Anbetracht dessen, was der Roman leistet: Dominique Manotti beschreibt in Seziermesser-scharfen Sätzen und mit großer Nähe zu ihren Figuren den Nährboden für den heutigen islamistischen Terror: die jahrzehntelange Demütigung der Einwanderer durch die französischen Institutionen. Und "Marseille.73" handelt nicht nur von Problemen in unserem Nachbarland: Die Parallelen zu den Ermittlungspannen bei den NSU-Morden drängen sich schmerzlich auf.
Dominique Manotti: "Marseille.73"
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg, 400 Seiten, 23 Euro
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg, 400 Seiten, 23 Euro