Dirk Müller: Wenn ein Sportler siebenmal hintereinander die Tour de France gewinnt, ist er währenddessen bereits eine Legende: die härteste sportliche Leistung, drei Wochen Tortur, Qualen, Extrembelastung. Lance Armstrong hatte diesen Legendenstatus längst inne, trotz aller Kritik, die es immer schon gegen den Amerikaner gegeben hat.
Spätestens seit gestern ist das alles anders, ist das Imperium Lance Armstrong implodiert, zusammengefallen, demontiert. Jetzt ist er der professionellste Doper und damit auch der professionellste Betrüger in der Geschichte des Radsports, vielleicht in der Geschichte des Sports überhaupt, jedenfalls soweit wir davon wissen. Der so umstrittene Weltradsportverband UCI in Genf hat alle Titel des Texaners annulliert, die Sponsoren waren bereits vorher von ihm abgefallen, die früheren Teamkollegen sowieso. – Am Telefon in Berlin ist nun der Sportphilosoph Gunter Gebauer. Guten Morgen.
Gunter Gebauer: Guten Morgen, Herr Müller.
Müller: Herr Gebauer, würden Sie ihm zumindest ein gelbes Trikot als Andenken im Vitrinenschrank lassen?
Gebauer: Nein, auf keinen Fall! Aber ich würde ihn auch nicht jetzt als den größten Doper aller Zeiten bezeichnen, als den größten Skandal. Ich glaube, das ist gewaltig übertrieben.
Müller: Warum?
Gebauer: Es hat ein systemisches Doping gegeben in Nationen, in ganzen Ländern. Wir kennen das aus der UdSSR, wir kennen das aus der DDR und aus anderen Ostblockländern, es hat auch ein anderes Doping gegeben, eher auf privater Basis, das auch in westlichen Ländern inklusive der Bundesrepublik stattgefunden hat. Es findet jetzt etwas sehr Einfaches statt: Man hat den Sündenbock gefunden und jetzt findet so eine Teufelsaustreibung statt. Er wird mit allem Übel, was man überhaupt nur finden kann, behängt. Man streitet auch sogar ab, dass er ein großer Sportler war, was er zweifellos war - ich glaube, daran muss man gar nicht zweifeln -, und jagt ihn aus dem Tempel.
Müller: Aber für Sie ist das klar, er ist nicht der Einzige? Hat er Pech gehabt, weil er so erfolgreich war?
Gebauer: Nein. Er hat überhaupt kein Pech gehabt, sondern er hat ja regelrecht ein Imperium aufgebaut. Er ist ja so eine Art General gewesen, oder ein Tyrann, der ein ganzes Peleton der Tour de France unter sein Kommando genommen hat, und wer da ausgeschert hat, wurde rüde, rücksichtslos, teilweise von ihm, dem Chef, selber zur Rechenschaft gezogen, in den Straßengraben gefahren, abgedrängt, rausgeschmissen und so weiter. Also es trifft schon irgendwie den Richtigen. Nur eins darf man nicht vergessen: Es ist ein einziger Fall, und dieser Fall ist aufgerollt worden von der US-Dopingagentur, nationalen Dopingagentur, und das betrifft jetzt nur einen einzigen amerikanischen Sportler. Die amerikanische Dopingagentur hat einige Mittel zur Verfügung, die andere Antidopingagenturen nicht zur Verfügung haben. Die haben eine ganz enge Verquickung mit dem Rechtssystem. Lance Armstrong hätte zum Beispiel Einspruch erheben können. Hätte er das getan, wäre er vor Gericht gegangen, wäre unter Zeugen, wäre unter Eid vernommen worden. Und wenn er einen Meineid geschworen hätte, was er natürlich getan hätte in einem solchen Fall, dann wäre er ins Gefängnis gekommen.
Müller: Also wenn er der Sündenbock ist, dann haben alle anderen, umgekehrt jetzt gefragt, Glück gehabt?
Gebauer: Alle anderen werden geschützt von ihren nationalen Systemen. Schauen wir doch mal in die verschiedenen Länder. Wie ist es denn, fangen wir mal mit Kasachstan an und Winokurow, der die Goldmedaille im Straßenrennen in London gewonnen hat. Er war gerade frei, nachdem er zwei Jahre Dopingsperre abgesessen hat, hat sich wieder auf den Sessel gesetzt und hat die Goldmedaille gewonnen. Wir haben andere Länder wie China, Jamaika, wir haben fantastische Sprintergebnisse, eine Insel mit acht Millionen Einwohnern, die sämtliche Sprint-Goldmedaillen, sämtliche Sprint-Medaillen überhaupt in London abgeräumt haben. Wie kommt das? Das Antidopingsystem in Jamaika funktioniert natürlich überhaupt nicht. – Wie ist es mit den australischen Schwimmern? Wie ist es mit den Blutbeuteln, die in Spanien bei Fuentes lagern? Da weigert sich die spanische Justiz, tätig zu werden, es könnte ja sein, dass da ein paar wichtige spanische Sportler dabei sind, vielleicht einige Fußballer, einige Leichtathleten sind schon aufgeflogen. Wir haben auch in Deutschland einen Skandal an der Universität Freiburg gehabt, der bis heute nicht aufgearbeitet ist, wir haben einen Blutskandal in Erfurt gehabt, der ist ebenfalls nicht aufgearbeitet, also wir brauchen gar nicht so weit wegzuschauen.
Müller: Also wir sind auch nicht besser als die anderen?
Gebauer: Na ja, nicht besser kann man so nicht sagen. Es gibt bei uns ganz ernsthafte Bemühungen, aber es gibt ebenfalls Kräfte, die dagegen arbeiten. Ich glaube, überall, wo Sport verwendet wird, um wirtschaftlichen und nationalen Interessen zu dienen – Sport ist ungeheuer wichtig geworden -, ist es extrem schwer, dagegen anzugehen. Das heißt, in den meisten Erdregionen, in den meisten Ländern besteht überhaupt nicht ein Ansatz danach, Doping zu bekämpfen.
Müller: Herr Gebauer, jetzt denken doch viele als Laien, bei den Olympischen Spielen ist sehr, sehr hart, sehr, sehr streng, sehr, sehr konsequent kontrolliert worden. Zumindest ist das so dargestellt worden und es hat auch die Berichte gegeben, es hat auch die Journalisten gegeben, die das alles beobachtet und auch kontrolliert haben. Und dann haben Sie jetzt ganz viele Beispiele gebracht von denjenigen, vermeintlich, vermutlich, die dennoch gedopt haben, alle vorher, und dann ist das nachher nicht mehr nachweisbar.
Gebauer: Das ist ja genau das Argument, das Armstrong die ganze Zeit verwendet hat: Ich bin 226 Mal kontrolliert worden, jedes Mal negativ.
Müller: Ist ja auch ein gutes Argument!
Gebauer: Ja. Aber wir sehen, was es taugt. Es taugt gar nichts. Er ist kontrolliert worden, eventuell ist zwischendurch mal eine Kontrolle verschwunden. Das liegt im System, man lässt nicht so ohne Weiteres den wichtigsten Mann im ganzen Sport auffliegen. Die Kontrollen haben nichts erbracht, also ist das überhaupt kein Argument. Das ist ja das Schlimme im Grunde genommen, was der Fall Armstrong zeigt. Die Tatsache, dass Leute kontrolliert werden, dass sie Hunderte von Malen in die Dopingprobe gehen und mit negativen Proben rauskommen, hat überhaupt nichts zu sagen. Das haben wir schon bei Marion Jones gesehen. Marion Jones ist ins Gefängnis gekommen, weil sie einen Meineid geschworen hat in den USA, auch sie ist Hunderte von Malen negativ gedopt worden, hinterher hat sich herausgestellt, sie hat die ganze Zeit gedopt, jahrzehntelang.
Müller: Haben Sie den 100-Meter-Lauf von Usain Bolt denn verfolgt?
Gebauer: Ja natürlich!
Müller: Und wie haben Sie da reagiert?
Gebauer: Schlecht. Mir wurde schlecht, am meisten beim 200-Meter-Lauf. Einen 200-Meter-Lauf in einer fabelhaften Zeit zurückzulegen, wie sie bisher kaum jemals gelaufen ist, die Kollegen zu distanzieren und sich dann sofort niederzulassen, um ein bisschen Freiübungen zu machen, ist eine Herausforderung und ist eine Provokation, die eine andere Art der Provokation darstellt als die, die Lance Armstrong auch jahrzehntelang gegenüber seinen Konkurrenten gezeigt hat, also eine Pose der totalen Überlegenheit und der totalen Sicherheit.
Müller: Dann schließen Sie sozusagen in der Praxis heutzutage Weltrekorde aus?
Gebauer: Ich bin bei jedem Weltrekord skeptisch, aber man muss sortieren. Es gibt dopinganfällige Sportarten, die notorisch verseucht sind: Radsport an der Spitze, ich denke, Leichtathletik gehört inzwischen auch deutlich dazu. Aber es gibt andere Sportarten, in denen Doping entweder wenig hilft, oder wo tatsächlich noch so etwas ist wie ein Sportsmannsgeist, wo nicht gedopt wird, wo auch die Leute sich nicht dopen wollen, die darin sind. Aber man kann vielleicht sagen, alle Sportarten, in denen der Wunsch nach Heldentum – das darf man nicht vergessen: das Publikum giert ja förmlich danach -, nach ganz großen Leuten, nach ganz großen Leistungen, nach Verklärung da ist, da wird auch, glaube ich, gedopt.
Müller: Schwimmen auch?
Gebauer: Schwimmen auch. Ich glaube nicht, dass man solche Leistungen, wie wir sie in London gesehen haben, mit natürlichen Trainingsleistungen erklären kann, oder mit Genen, oder mit irgendwelchen tollen chinesischen, amerikanisch-australischen Trainingsmethoden. Nein, das leuchtet eigentlich ziemlich ein, dass das nicht mit natürlichen Dingen zugehen kann.
Müller: Und Fußball?
Gebauer: Im Fußball wird auch gedopt. Nur ist es beim Fußball nicht so offensichtlich. Erst mal wird relativ wenig kontrolliert im Fußball, zum anderen besteht so etwas wie eine Übereinkunft, dass Doping nicht sehr stark hilft, weil es eine stark koordinatorische Sportart ist. Das ist auch ein bisschen was sich in die Tasche lügen, denn Doping hat einen enormen Vorteil: Man kann, wenn man bestimmte Mittel nimmt, viel mehr trainieren. Man kann eine weitere Trainingseinheit am Tag ertragen, man hat eine viel größere Regenerationsfähigkeit und man hat eine größere Aggressivität und Freude, den Gegner niederzumachen.
Müller: Und trotzdem schalten Sie auch immer wieder das Fernsehen ein, um zu sehen, wie er läuft?
Gebauer: Ja, das tue ich und das tun alle anderen auch. Aber die Frage ist, ob das noch sehr viel Spaß bringt. Und das Dumme ist bei der ganzen Geschichte: Was wir sehen ist ein erstklassiger Sport. Jemand wie Armstrong auch ist sicher einer der allerbesten Sportler, die je im Sattel gesessen haben. Das Unangenehme ist, dass die Leistung, die er ohnehin gebracht hätte, natürlicherweise, auf eine Weise vergrößert worden ist, dass sie ins Unmenschliche geht und uns jetzt etwas vorgaukelt, was einfach nicht möglich ist. Wäre er nicht gedopt gewesen, auch Jan Ulrich und ähnliche Heroen, dann hätten sie trotzdem fantastische Leistungen erzielt, die weit über dem sind, was ein Durchschnittssportler jemals zu leisten imstande ist. Aber das wird uns eigentlich versagt, indem sozusagen eine Etage höher gegangen wird, in den Bereich der Helden und Übermenschen.
Müller: Der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.
Gebauer: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Spätestens seit gestern ist das alles anders, ist das Imperium Lance Armstrong implodiert, zusammengefallen, demontiert. Jetzt ist er der professionellste Doper und damit auch der professionellste Betrüger in der Geschichte des Radsports, vielleicht in der Geschichte des Sports überhaupt, jedenfalls soweit wir davon wissen. Der so umstrittene Weltradsportverband UCI in Genf hat alle Titel des Texaners annulliert, die Sponsoren waren bereits vorher von ihm abgefallen, die früheren Teamkollegen sowieso. – Am Telefon in Berlin ist nun der Sportphilosoph Gunter Gebauer. Guten Morgen.
Gunter Gebauer: Guten Morgen, Herr Müller.
Müller: Herr Gebauer, würden Sie ihm zumindest ein gelbes Trikot als Andenken im Vitrinenschrank lassen?
Gebauer: Nein, auf keinen Fall! Aber ich würde ihn auch nicht jetzt als den größten Doper aller Zeiten bezeichnen, als den größten Skandal. Ich glaube, das ist gewaltig übertrieben.
Müller: Warum?
Gebauer: Es hat ein systemisches Doping gegeben in Nationen, in ganzen Ländern. Wir kennen das aus der UdSSR, wir kennen das aus der DDR und aus anderen Ostblockländern, es hat auch ein anderes Doping gegeben, eher auf privater Basis, das auch in westlichen Ländern inklusive der Bundesrepublik stattgefunden hat. Es findet jetzt etwas sehr Einfaches statt: Man hat den Sündenbock gefunden und jetzt findet so eine Teufelsaustreibung statt. Er wird mit allem Übel, was man überhaupt nur finden kann, behängt. Man streitet auch sogar ab, dass er ein großer Sportler war, was er zweifellos war - ich glaube, daran muss man gar nicht zweifeln -, und jagt ihn aus dem Tempel.
Müller: Aber für Sie ist das klar, er ist nicht der Einzige? Hat er Pech gehabt, weil er so erfolgreich war?
Gebauer: Nein. Er hat überhaupt kein Pech gehabt, sondern er hat ja regelrecht ein Imperium aufgebaut. Er ist ja so eine Art General gewesen, oder ein Tyrann, der ein ganzes Peleton der Tour de France unter sein Kommando genommen hat, und wer da ausgeschert hat, wurde rüde, rücksichtslos, teilweise von ihm, dem Chef, selber zur Rechenschaft gezogen, in den Straßengraben gefahren, abgedrängt, rausgeschmissen und so weiter. Also es trifft schon irgendwie den Richtigen. Nur eins darf man nicht vergessen: Es ist ein einziger Fall, und dieser Fall ist aufgerollt worden von der US-Dopingagentur, nationalen Dopingagentur, und das betrifft jetzt nur einen einzigen amerikanischen Sportler. Die amerikanische Dopingagentur hat einige Mittel zur Verfügung, die andere Antidopingagenturen nicht zur Verfügung haben. Die haben eine ganz enge Verquickung mit dem Rechtssystem. Lance Armstrong hätte zum Beispiel Einspruch erheben können. Hätte er das getan, wäre er vor Gericht gegangen, wäre unter Zeugen, wäre unter Eid vernommen worden. Und wenn er einen Meineid geschworen hätte, was er natürlich getan hätte in einem solchen Fall, dann wäre er ins Gefängnis gekommen.
Müller: Also wenn er der Sündenbock ist, dann haben alle anderen, umgekehrt jetzt gefragt, Glück gehabt?
Gebauer: Alle anderen werden geschützt von ihren nationalen Systemen. Schauen wir doch mal in die verschiedenen Länder. Wie ist es denn, fangen wir mal mit Kasachstan an und Winokurow, der die Goldmedaille im Straßenrennen in London gewonnen hat. Er war gerade frei, nachdem er zwei Jahre Dopingsperre abgesessen hat, hat sich wieder auf den Sessel gesetzt und hat die Goldmedaille gewonnen. Wir haben andere Länder wie China, Jamaika, wir haben fantastische Sprintergebnisse, eine Insel mit acht Millionen Einwohnern, die sämtliche Sprint-Goldmedaillen, sämtliche Sprint-Medaillen überhaupt in London abgeräumt haben. Wie kommt das? Das Antidopingsystem in Jamaika funktioniert natürlich überhaupt nicht. – Wie ist es mit den australischen Schwimmern? Wie ist es mit den Blutbeuteln, die in Spanien bei Fuentes lagern? Da weigert sich die spanische Justiz, tätig zu werden, es könnte ja sein, dass da ein paar wichtige spanische Sportler dabei sind, vielleicht einige Fußballer, einige Leichtathleten sind schon aufgeflogen. Wir haben auch in Deutschland einen Skandal an der Universität Freiburg gehabt, der bis heute nicht aufgearbeitet ist, wir haben einen Blutskandal in Erfurt gehabt, der ist ebenfalls nicht aufgearbeitet, also wir brauchen gar nicht so weit wegzuschauen.
Müller: Also wir sind auch nicht besser als die anderen?
Gebauer: Na ja, nicht besser kann man so nicht sagen. Es gibt bei uns ganz ernsthafte Bemühungen, aber es gibt ebenfalls Kräfte, die dagegen arbeiten. Ich glaube, überall, wo Sport verwendet wird, um wirtschaftlichen und nationalen Interessen zu dienen – Sport ist ungeheuer wichtig geworden -, ist es extrem schwer, dagegen anzugehen. Das heißt, in den meisten Erdregionen, in den meisten Ländern besteht überhaupt nicht ein Ansatz danach, Doping zu bekämpfen.
Müller: Herr Gebauer, jetzt denken doch viele als Laien, bei den Olympischen Spielen ist sehr, sehr hart, sehr, sehr streng, sehr, sehr konsequent kontrolliert worden. Zumindest ist das so dargestellt worden und es hat auch die Berichte gegeben, es hat auch die Journalisten gegeben, die das alles beobachtet und auch kontrolliert haben. Und dann haben Sie jetzt ganz viele Beispiele gebracht von denjenigen, vermeintlich, vermutlich, die dennoch gedopt haben, alle vorher, und dann ist das nachher nicht mehr nachweisbar.
Gebauer: Das ist ja genau das Argument, das Armstrong die ganze Zeit verwendet hat: Ich bin 226 Mal kontrolliert worden, jedes Mal negativ.
Müller: Ist ja auch ein gutes Argument!
Gebauer: Ja. Aber wir sehen, was es taugt. Es taugt gar nichts. Er ist kontrolliert worden, eventuell ist zwischendurch mal eine Kontrolle verschwunden. Das liegt im System, man lässt nicht so ohne Weiteres den wichtigsten Mann im ganzen Sport auffliegen. Die Kontrollen haben nichts erbracht, also ist das überhaupt kein Argument. Das ist ja das Schlimme im Grunde genommen, was der Fall Armstrong zeigt. Die Tatsache, dass Leute kontrolliert werden, dass sie Hunderte von Malen in die Dopingprobe gehen und mit negativen Proben rauskommen, hat überhaupt nichts zu sagen. Das haben wir schon bei Marion Jones gesehen. Marion Jones ist ins Gefängnis gekommen, weil sie einen Meineid geschworen hat in den USA, auch sie ist Hunderte von Malen negativ gedopt worden, hinterher hat sich herausgestellt, sie hat die ganze Zeit gedopt, jahrzehntelang.
Müller: Haben Sie den 100-Meter-Lauf von Usain Bolt denn verfolgt?
Gebauer: Ja natürlich!
Müller: Und wie haben Sie da reagiert?
Gebauer: Schlecht. Mir wurde schlecht, am meisten beim 200-Meter-Lauf. Einen 200-Meter-Lauf in einer fabelhaften Zeit zurückzulegen, wie sie bisher kaum jemals gelaufen ist, die Kollegen zu distanzieren und sich dann sofort niederzulassen, um ein bisschen Freiübungen zu machen, ist eine Herausforderung und ist eine Provokation, die eine andere Art der Provokation darstellt als die, die Lance Armstrong auch jahrzehntelang gegenüber seinen Konkurrenten gezeigt hat, also eine Pose der totalen Überlegenheit und der totalen Sicherheit.
Müller: Dann schließen Sie sozusagen in der Praxis heutzutage Weltrekorde aus?
Gebauer: Ich bin bei jedem Weltrekord skeptisch, aber man muss sortieren. Es gibt dopinganfällige Sportarten, die notorisch verseucht sind: Radsport an der Spitze, ich denke, Leichtathletik gehört inzwischen auch deutlich dazu. Aber es gibt andere Sportarten, in denen Doping entweder wenig hilft, oder wo tatsächlich noch so etwas ist wie ein Sportsmannsgeist, wo nicht gedopt wird, wo auch die Leute sich nicht dopen wollen, die darin sind. Aber man kann vielleicht sagen, alle Sportarten, in denen der Wunsch nach Heldentum – das darf man nicht vergessen: das Publikum giert ja förmlich danach -, nach ganz großen Leuten, nach ganz großen Leistungen, nach Verklärung da ist, da wird auch, glaube ich, gedopt.
Müller: Schwimmen auch?
Gebauer: Schwimmen auch. Ich glaube nicht, dass man solche Leistungen, wie wir sie in London gesehen haben, mit natürlichen Trainingsleistungen erklären kann, oder mit Genen, oder mit irgendwelchen tollen chinesischen, amerikanisch-australischen Trainingsmethoden. Nein, das leuchtet eigentlich ziemlich ein, dass das nicht mit natürlichen Dingen zugehen kann.
Müller: Und Fußball?
Gebauer: Im Fußball wird auch gedopt. Nur ist es beim Fußball nicht so offensichtlich. Erst mal wird relativ wenig kontrolliert im Fußball, zum anderen besteht so etwas wie eine Übereinkunft, dass Doping nicht sehr stark hilft, weil es eine stark koordinatorische Sportart ist. Das ist auch ein bisschen was sich in die Tasche lügen, denn Doping hat einen enormen Vorteil: Man kann, wenn man bestimmte Mittel nimmt, viel mehr trainieren. Man kann eine weitere Trainingseinheit am Tag ertragen, man hat eine viel größere Regenerationsfähigkeit und man hat eine größere Aggressivität und Freude, den Gegner niederzumachen.
Müller: Und trotzdem schalten Sie auch immer wieder das Fernsehen ein, um zu sehen, wie er läuft?
Gebauer: Ja, das tue ich und das tun alle anderen auch. Aber die Frage ist, ob das noch sehr viel Spaß bringt. Und das Dumme ist bei der ganzen Geschichte: Was wir sehen ist ein erstklassiger Sport. Jemand wie Armstrong auch ist sicher einer der allerbesten Sportler, die je im Sattel gesessen haben. Das Unangenehme ist, dass die Leistung, die er ohnehin gebracht hätte, natürlicherweise, auf eine Weise vergrößert worden ist, dass sie ins Unmenschliche geht und uns jetzt etwas vorgaukelt, was einfach nicht möglich ist. Wäre er nicht gedopt gewesen, auch Jan Ulrich und ähnliche Heroen, dann hätten sie trotzdem fantastische Leistungen erzielt, die weit über dem sind, was ein Durchschnittssportler jemals zu leisten imstande ist. Aber das wird uns eigentlich versagt, indem sozusagen eine Etage höher gegangen wird, in den Bereich der Helden und Übermenschen.
Müller: Der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.
Gebauer: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.