Der Rennrollstuhlfahrer Alhassane Baldé bewegt sich bei den Europameisterschaften über 5.000 Meter kraftvoll durch den Berliner Jahn-Sportpark. Wegen eines Arztfehlers ist er seit der Geburt querschnittsgelähmt. Nach seinem Wettkampf blickt er hoch zur Tribüne. Da sitzt sein leiblicher Vater aus Guinea, den er 15 Jahre lang nicht mehr gesehen hat. Und da sind Onkel und Tante, die ihn in Düsseldorf aufgenommen und großgezogen haben, seitdem er fünf Jahre alt war.
"Die Ärzte in Düsseldorf haben halt gesehen, dass ich diese hohe Lähmung habe", sagt Baldé. "Und dass ich aufgrund der hygienischen Bedingungen vor Ort keine Chancen gehabt hätte. Ich hatte alles kaputt, was man kaputt haben kann. Ich hatte keinen Rollstuhl da vor Ort, ich hätte nicht in den Kindergarten, in die Schule gehen können."
Rennrollstuhl seit frühester Jugend
Als Junge entdeckte Baldé auf einer Messe einen Minirennrollstuhl und wollte unbedingt damit fahren. Er entwickelte sich zum besten deutschen Rennrollstuhlfahrer, sammelte Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften, nahm seit 2004 an drei Paralympics teil. Baldé ist einer von wenigen deutschen Paralympiern mit Einwanderergeschichte. Er verdeutlicht, dass es neben der Behinderung ganz andere Herausforderungen geben kann.
Gesellschaftlich geächtet in Guinea
Baldé wirft einen Blick in sein Geburtsland Guinea: "Wenn man behindert ist, wird man auch erst mal versteckt. Und gehört nicht zur Gesellschaft dazu. Und diese Einschränkung muss man erst mal überwinden. Um dann zu sagen: Okay, es gibt auch Möglichkeiten. Das sind halt die riesigen Hürden, wovor man steht, wenn man in diesen Ländern den Behindertensport reinbringen möchte."
Weltweit leben mehr als eine Milliarde Menschen mit einer Behinderung, 80 Prozent in Entwicklungsländern. Doch auch in Industriestaaten herrscht oftmals Unwissen über Pflege und Förderung.
Doppelt- und Mehrfachdiskriminierung
In Deutschland haben etliche zugewanderte Gastarbeiter ab den 1960er-Jahren durch ihre schwere Tätigkeit eine Behinderung davon getragen. Oft zogen sie sich ins Private zurück. Und gerade in Familien mit formal geringer Bildung schämen sich Eltern mitunter für ihre geistig behinderten Kinder. So ist der Eindruck der Pädagogin Rubia Abu-Hashim. Sie arbeitet in der Interkulturellen Beratungsstelle der Lebenshilfe mit Sitz in Neukölln: "Eigentlich kann man ja von vielen Gruppen sprechen, so eine Doppelt- und Mehrfachdiskriminierung erfahren diese Menschen. Selber denken sie schon: Wir haben jetzt einen Menschen mit Beeinträchtigung, da sind wir selber schuld, haben wir ein schlechtes Gewissen. Ursprünglich sind das eher kulturelle Hintergründe und weniger die religiösen. Weil viele immer denken: Im Islam wird zum Beispiel eine Behinderung als Schande angesehen. Wird's nicht. Auch nicht als Prüfung Gottes. Haben wir aber auch: Gläubige Menschen, die sagen, das ist eine Prüfung."
Rubia Abu-Hashim und ihre Kollegen haben seit 2012 rund 4000 Menschen aus neunzig Nationen beraten. Es geht ihnen um gesellschaftliche Teilhabe, in Bildung, Beruf, Kultur. Und auch der Sport kann eine Rolle spielen. Noch sind Migranten in den paralympischen Trainingsgruppen stark unterrepräsentiert. Den Ursachen dafür möchte auch Özcan Mutlu nachgehen. Der ehemalige Bundestags-Abgeordnete der Grünen ist neuer Präsident der Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbandes in Berlin:
"Ich habe schon Kontakt aufgenommen zum Beispiel zum Türkischen Bund Berlin Brandenburg. Das ist eine der größten türkischen Organisationen, aber daneben gibt es etliche weitere Vereine aus dem Migrantenspektrum. Nicht nur Sport, sondern die soziale Arbeit leisten, Beratungsarbeit leisten. Und ich will auch gezielt auf die zugehen. Ich will nicht warten, dass die zu mir kommen. Und hoffe, dass dadurch mehr sensibilisiert wird und mehr Angebote wahrgenommen werden."
Orientierungsfiguren sind wichtig
Für diese Arbeit wünscht sich Özcan Mutlu Orientierungsfiguren. So wie Weitspringer Heinrich Popow, geboren in Kasachstan. Wie Sprinter Ali Lacin, dessen Großeltern aus der Türkei kamen. Oder Alhassane Baldé. Der 32-Jährige schickte vor einigen Jahren Rollstühle an Kinder in sein Geburtsland Guinea:
"Aber als wir dann ein Jahr später gefragt haben, ob sie den Rollstuhl auch nutzen, dann haben wir mitgeteilt bekommen, der Rollstuhl steht in der Ecke. Weil ein Rollstuhl zeigt, dass du reich bist. Und dann kann man nicht mehr betteln."
Alhassane Baldé möchte seine Laufbahn bei den Paralympics 2020 in Tokio vollenden. Er möchte sich dann eventuell stärker in der Entwicklungshilfe engagieren. Auf einem Feld, das im paralympischen Sport erst am Anfang steht.