Marina Schweizer: Als heutiger Gast hier bei uns im Berliner Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks Thomas de Maizière, ehemaliger Bundesinnen- und damit auch ehemaliger Bundessportminister, Abgeordneter im Deutschen Bundestag und Anfang Dezember ernannt zum Chef der Ethikkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes. Genau diese Ethikkommission hatte am vergangenen Montag ihre konstituierende Sitzung, und uns interessiert, was die Aufgaben dieser Kommission sind – was hat sie für Ziele, was schwebt dem Chef selbst vor. Herzlich willkommen, Thomas de Maizière!
Thomas de Maizière: Guten Abend allerseits, und ich freue mich auf das Gespräch.
Schweizer: Herr de Maizière, der Sport ist ja für viele Menschen in Deutschland, vielleicht sogar in der ganzen Welt, ein Ort der Emotionen, ein Ort des Hobbys, vielleicht die schönste Nebensache der Welt. War das für Sie auch so eine persönliche Motivation, dass Sie dem Sport jetzt in dieser Rolle verbunden bleiben?
de Maizière: Ja, schon als Kind habe ich sehr früh angefangen, Zeitung zu lesen und als Kind immer als Erstes den Sportteil, und seitdem bin ich eigentlich sportbegeistert und bin sehr gerne als Bundesinnenminister und Sportminister gewesen und bin bei vielen Veranstaltungen gewesen, hab mit vielen Sportlerinnen und Sportlern geredet, war bei einigen Olympischen Spielen. Deswegen habe ich eben sehr gerne nach meinem Ausscheiden die Anfrage positiv beantwortet, ob ich nicht eine ehrenamtliche Funktion beim DOSB übernehme. Und Vorsitzender der Ethikkommission ist jetzt eine solche Aufgabe. Nebenbei bin ich noch im Kuratorium der Deutschen Sporthilfe.
"Wir wollen mit der Athletenvereinigung sprechen"
Schweizer: Jetzt ist es so, dass Sie am vergangenen Montag diese erste Sitzung hatten mit den Mitgliedern dieser Kommission, insgesamt vier Stück. Was haben Sie sich für einen Auftrag gegeben?
de Maizière: Vielleicht noch ein Wort zu den anderen Mitgliedern: Ich bin der Vorsitzende, und wir haben mit Hansjörg Geiger einen herausragenden Juristen, der auch Staatssekretär im Justizministerium war und hat mal Stasivorwürfe im Zusammenhang mit dem DDR-Sport untersucht und genießt darüber, glaube ich, auch ein hohes Ansehen.
Schweizer: Für den DOSB untersucht, müssen wir dazusagen.
de Maizière: So ist es. Aber das war mir jetzt auch sehr juristisch und verkopft und so und weit weg vom praktischen Sport, und dann habe ich darum gebeten, ob es nicht noch Menschen gibt, die näher am Sport dran sind als Spitzensportler. Und dann hat sich die Mitgliederversammlung entschieden, Kati Wilhelm zu wählen, die eine herausragende Sportlerin ist und den Wintersport repräsentiert, und Betty Heidler, die den Sommersport, die Leichtathletik repräsentiert. Wir haben uns am letzten Montag zum ersten Mal getroffen, haben uns ein bisschen unser Leben erzählt – das gehört, glaube ich, auch dazu. Wir haben die Papiere, die es gibt, uns angeguckt – auf die kommen wir vielleicht gleich noch zu sprechen, den Ethikcode und was es da gibt.
Wir haben eine Verfahrensordnung besprochen, denn wenn es Vorwürfe gibt und wir die zu untersuchen haben, dann muss es ja auch ein förmliches Verfahren geben: Wer wird unterrichtet, wer darf was wissen, wer darf nichts wissen, wie kommen Empfehlungen zustande und all das. Und wir haben uns einen Plan gemacht. Wir wollen bei der nächsten Sitzung diese Verfahrensordnung verabschieden, wir wollen mit dem Ombudsmann reden, den es gibt. Wir wollen mal mit der Athletenvereinigung sprechen, den Sprechern – da gab es ja auch den ein oder anderen Vorwurf oder Hinweis –, und so werden wir arbeiten. Unsere Hauptarbeit wird darin bestehen, dass wir Hinweisen nachgehen, die uns gegeben werden, mit Namen oder anonym über den Ombudsmann oder direkt an uns. Die Hinweise können dann so gegeben werden, dass sie auch wirklich nur wir bekommen und nicht irgendwer im Vorstand oder Präsidium in der Geschäftsstelle oder sonst irgendwer, der damit vielleicht hausieren geht.
Schweizer: Das wäre jetzt ein Unterschied zu dem, was bisher verfasst ist. Es gibt ja Good-Governance-Regeln sozusagen beim Deutschen Olympischen Sportbund, die gelten auch schon eine ganze Weile. Es gab ja auch einen Good-Governance-Beauftragten – Sie sind jetzt als Ethikchef sozusagen der Nachfolger. Das bedeutet, dass Sie jetzt diese Regularien, die es da gab, auch noch mal ein Stück weit überarbeiten, und das wird dann Ihre Verfahrensordnung sein.
de Maizière: Zunächst will ich noch mal sagen, dass es eigentlich traurig ist, dass man so was alles braucht, denn an sich ergeben sich die Regeln guter Verbandsführung – was ja Good Governance auf Deutsch heißt – oder auch, wie man miteinander umgeht, wie man sich anständig verhält. An sich ist das eine Frage des gesundes Menschenverstandes. Aber es hat eben viele Verfehlungen gegeben, nicht nur in großen Sportorganisationen, sondern in Kirchen, in Unternehmen, in der Politik, und deswegen ist es, glaube ich, gut, dass man sich Regeln gibt und dass es Menschen, Kommissionen gibt, die die Einhaltung dieser Regeln überwachen. Aber – deswegen habe ich das gesagt – ohne dass es einen Korpsgeist, einen Teamgeist oder ein Bewusstsein dafür gibt, dass man sich anständig verhält, ohne dieses Bewusstsein helfen auch die besten Regeln nichts.
Nun hat der DOSB sich diese Regeln gegeben, und zwar besser als viele andere Organisationen. In der Politik haben viele Organisationen diese Regeln nicht, in den Unternehmen erst nach und nach. Zum Beispiel gibt es ein Interessenregister. Die Mitglieder des Präsidiums und Vorstandes müssen auflisten, ob es irgendeine Tätigkeit gibt oder gab, wo es eine Interessenkollision mit ihrer Arbeit gibt. Es gibt Regeln über die Annahme von Geschenken, über die Reisetätigkeit. Es gibt Regeln über Integrität, über Transparenz. Es gibt einen Ethikcode. Die Papierlage, wie ich das bei meiner Rede beim Neujahrsempfang gesagt habe, ist vorbildlich, wirklich gut, und das verdient Respekt. Aber: Papier ist geduldig, und das muss gelebt werden. Und ein Teil dieser Papier ist neu, und nicht alle Landesverbände oder Spitzenverbände des DOSB haben diese Regeln. Unsere Aufgabe ist es nun, diese Regeln mit Leben zu erfüllen, sodass sie auch gelebt werden.
Schweizer: Großes Thema beim Start dieser Ethikkommission ist ja die Frage, was kann sie eigentlich qua Auftrag, die der Dachverband gibt, wirklich bewirken auch tatsächlich. Sie stehen jetzt der ermittelnden Kammer vor, es gibt – das wissen Sie auch als Jurist – auch in anderen Verbänden, zum Beispiel der FIFA, gibt es zusätzlich noch eine Recht sprechende Kammer in der Ethikkommission. Die gibt es im Deutschen Olympischen Sportbund nicht, da ist je nach Fall festgelegt, wer die Sanktionen ausspricht – der Vorstand oder das Präsidium des DOSB. Ist das auch nach dem Dafürhalten des Juristen Thomas de Maizière unabhängig genug?
de Maizière: Ich glaube, dass aus der Trennung von Ermittlung und Empfehlung einerseits und der Entscheidung andererseits eine große Stärke erwachsen kann. Nämlich wir ermitteln einen problematischen Sachverhalt, dann geben wir eine Empfehlung, und meine Empfehlung wird sein, dass wir diese Empfehlung in aller Regel öffentlich geben. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, wir empfehlen, dass jemand nicht mehr dem Präsidium des DOSB angehören kann oder dass ein bestimmter Sponsorvertrag sofort beendet werden muss oder dass eine Einrichtung geschlossen werden muss, weil es dort strukturelle Mängel, die durch Reformen nicht zu beheben sind. Stellen Sie sich mal vor, wir würden das empfehlen, und nichts würde geschehen. Das hält niemand aus.
Zu große Nähe zum Deutschen Olympischen Sportbund?
Schweizer: Was gäbe es für einen Grund, Sie nicht trotzdem unabhängig zu machen, noch zusätzlich?
de Maizière: Wir sind ja unabhängig in all dem, was wir tun…
Schweizer: Die Recht sprechende Kammer.
de Maizière: …aber wir sind ja nicht Teil der Gremien, dann müssten wir das auch irgendwie werden. Ein Gericht, ein staatliches Gericht macht auch ein Urteil, verurteilt jemand zu einer Freiheitsstrafe, aber holt nicht jemand ab zu Hause und bringt den ins Gefängnis. Die Sanktion selbst wird von anderen durchgeführt. Und deswegen glaube ich, dass aus dieser Nichteinbeziehung in diese Sanktionen – natürlich werden wir darauf achten, dass wenn wir eine Empfehlung abgeben, die auch eingehalten wird –, dass daraus eher Stärke als Schwäche entsteht. Sollten wir allerdings erleben in einem schwierigen Fall, dass unsere Empfehlung in den Wind geschlagen wird, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder treten wir da mit großem Plomm zurück, das wird auch seine Wirkung haben, oder wir gehen vor die Mitgliederversammlung und sagen, wir brauchen jetzt auch Sanktionskompetenz.
Schweizer: Sie haben also keine Bauchschmerzen, dass zum Beispiel, wenn gegen den Präsidenten ermittelt werden würde, das Präsidium die Strafe aussprechen müsste?
de Maizière: Nein, das ist dann eben so, und dann muss man die Kraft haben, das durchzusetzen. Es würde ja auch nicht besser werden, wenn wir die Sanktion selbst umsetzen würden. Aber wir fangen an, wir wollen gucken, wie das funktioniert. Wir machen das ja alle ehren- und nebenamtlich. Ich glaube, dass eine öffentliche Empfehlung eine große Wirkung hat, und wenn sie nicht befolgt wird, dann muss man weitersehen.
Schweizer: Eine öffentliche Empfehlung dann auch vom ehemaligen Bundessportminister, das wurde, als es verkündet wurde, dass Sie derjenige sind, der der Ethikkommission vorstehen soll, auch von einigen kritisch gesehen, zum Beispiel von den Oppositionellen im Bundestag-Sportausschuss. Monika Lazar von den Grünen hat beispielsweise gesagt, die Nähe zum Deutschen Olympischen Sportbund sei da dann doch sehr eng, Sie kennen den DOSB zu gut, hat sie gesagt. Als ehemaliger Sportminister, was entgegnen Sie?
de Maizière: Immerhin hat sie ja wenigstens gesagt als Oppositionspolitikerin, dass ich wohl persönlich geeignet sei, aber strukturell vielleicht zu viel Nähe da sei. Ja, das ist natürlich ein gewichtiges Argument. Interessanterweise hat in der Mitgliederversammlung niemand etwas gesagt, es gab auch keinen Gegenkandidaten, aber ich habe mir die Frage natürlich selbst gestellt. Es gibt in anderen vergleichbaren Organisationen auch eher Fremdere. Natürlich kann man den Vorsitzenden einer Strafkammer eines großen deutschen Oberlandesgerichts nehmen und einen, weiß ich nicht, noch einen klugen Juristen, und auch ein ehemaliger Sportler hat natürlich irgendwie Stallgeruch.
"Ich hab ein großes Herz für den Sport"
Schweizer: Was übrigens auch bemängelt wurde.
de Maizière: Ja. Aber ich glaube, dass Sportler*innen und jemand wie ich auch die faulen Ecken und die Versuchungen und die Gefährdungen und die persönlichen Beziehungen besser kennt als jemand, der von ganz außen kommt. Also wenn Sie zu nah dran sind, dann sind Sie nicht unabhängig genug. Wenn Sie zu weit weg sind, dann können Sie den Sachverhalt nicht beurteilen. Deswegen glaube ich, dass diese Mischung, die wir jetzt haben, richtig ist. Ich hab ein großes Herz für den Sport, ich war zuständig für den Sport, ich bin nicht mehr Minister – ist jetzt auch ein Dreivierteljahr her –, ich bin vollständig unabhängig, ich strebe nach keinem Amt, und von daher glaube ich, ist das die richtige Mischung von Nähe und Distanz. Wir müssen jetzt in unserer Arbeit dann beweisen, ob wir diese Unabhängigkeit auch zeigen.
Schweizer: Wir kennen Sie ja auch noch als den Bundesinnen- und damit auch Sportminister, der die Spitzensportreform mit ins Leben gerufen hat, die aktuelle Spitzensportreform, mit der Sie ja dann insbesondere auch den Spitzensport maßgeblich mitgeprägt haben. Können Sie sich vorstellen, an einen Punkt zu kommen, an dem Sie vielleicht gegen eigene Entscheidungen und eigene Einstellungen, eigene Initiativen vorgehen müssen, die Sie zusammen mit dem ja noch im Amt befindlichen DOSB-Präsidenten Alfons Hörmann getroffen haben?
de Maizière: Wir überprüfen ja nicht fachliche Dinge, wir sind ja nicht eine Art Oberpräsidium. Wir nominieren nicht Sportler zu Olympischen Spielen, wir sagen auch nicht, der Bundesstützpunkt ist nicht gut genug sei – das ist nicht unsere Aufgabe –, sondern wir gehen Hinweisen nach, die sich auf die Integrität, auf die Sauberkeit, auf die Anständigkeit des Sports und im Übrigen, das will ich noch hinzufügen, des Deutschen Olympischen Sportbundes beziehen. Wir sind nicht dafür da, Mängel in Fachverbänden oder Landesverbänden irgendwie zu untersuchen. Darüber haben wir auch gesprochen, ich war ja auch beim Präsidium und hab das da vorgetragen.
Manche stellen sich das so vor, sie müssen sich selber keine Mühe geben, das macht dann alles die Ethikkommission des Dachverbandes. Nein, nein, jeder muss schon vor seiner eigenen Tür kehren. Also wir sind nicht die Oberinstanz für alles, was in der Sportpolitik passiert, sondern wir wollen uns kümmern um die Sauberkeit des Sports. Von daher fürchte ich da keinerlei Interessenkonflikte. Wenn es aber doch so wäre, so ist ja klugerweise die Kommission mit vier Personen besetzt. Ich hab auch die Absicht, dass immer alle vier bei den Tagungen dabei sind, sodass wenn sich einer oder eine für befangen erklärt oder die anderen das feststellen, dann sind die anderen drei handlungsfähig. Also nehmen wir mal an, wir hätten ein Riesenproblem im Wintersport im Biathlon, dann würde ich Kati Wilhelm bitten, sich daran nicht zu beteiligen. Oder wir hätten etwas Ähnliches rund um das Thema Leichtathletik, dann würde ich Frau Heidler bitten, an der Entscheidung nicht mitzuwirken. Und wenn es so etwas gäbe, was ich sage, dann würde ich mich selber für befangen erklären und die anderen drei würden die Entscheidung treffen.
"Wir sind nicht die Klagemauer"
Schweizer: Wir sitzen ja auch hier, um zu lernen und zu erfahren, was diese Ethikkommission tatsächlich dann genau leisten will und auch soll – die Stichworte Transparenz fallen beim Deutschen Olympischen Sportbund zum Beispiel. Vorstellbar wäre ja auch ein Fall, in dem es darum geht, dass Förderentscheidungen beim Deutschen Olympischen Sportbund eben nicht in der Transparenz erfolgen, wie sie zum Beispiel zu Beginn der Spitzensportreform angedacht waren. Also inzwischen werden da auch Gespräche über Förderung so geführt, dass man eben tatsächlich nicht mehr mitbekommt, wie die Entscheidungen wirklich auch zustande kommen. Wäre das ein Bereich, bei dem die Ethikkommission – weil man eben das Stichwort Transparenz auch bemüht – auch ermitteln könnte, wenn sie den entsprechenden Hinweis bekommt?
de Maizière: Nein, wir müssen das dann in der Kommission beraten. Wir sind ja auch lernend, wir sind die erste Kommission dieser Art, vorher gab es einen Beauftragten, der alleine war. In diesem Ethikcode steht viel drin über Integrität, über Transparenz, aber auch so etwas wie Würde und Respekt, und wir wissen, dass anständiger Sport ohne Respekt nicht geht. Der internationale Fußball hat eine wunderbare Werbekampagne mit dem Titel "Respekt", aber es kann ja nicht sein, wenn in der Geschäftsstelle des DOSB der eine mal den anderen auf dem Flur nicht grüßt und der sagt, das ist respektlos, dass dann die Ethikkommission mahnt, dass man irgendwie höflich zueinander ist. Das wäre zu weit. Also werden wir uns sehr stark sicher um das Thema Integrität, Sauberkeit kümmern im Blick auf finanzielle Zuwendungen, im Blick auf denkbare Interessenkollisionen. Die fachlichen Förderentscheidungen zu überprüfen, ist nicht unsere Aufgabe. Wenn jemand sagt, es geht überhaupt nicht transparent zu und deswegen gibt es den Vorwurf, dass es da sachfremd zugeht, dann würde ich das vortragen in der Kommission. Im Zweifel würde ich auch sagen, na ja, das ist so ein Grenzfall.
Wir haben diskutiert in der Ethikkommission, was in der Satzung bisher nicht vorgesehen ist, ob wir nicht auch überprüfen müssen das Verhalten von Menschen in Firmen oder Gesellschaften, die zur Sportfamilie gehören, wo der DOSB meinetwegen Gesellschafter ist – eine Marketinggesellschaft und Ähnliches. Das ist in der Satzung bisher nicht vorgesehen, kann ich mir aber vorstellen, dass gerade da Anlass besteht hinzugucken, und das werden wir dann gucken. Und wenn unsere Kompetenzen nach unserer Meinung nicht ausreichen, dann werden wir auch gegebenenfalls Satzungsänderungen anmahnen. Also geben Sie uns ein bisschen Zeit. Wir sind nicht die Klagemauer für alle fachlichen Fragen, wo jemand glaubt, er wird im Sport ungerecht behandelt. Also wenn jetzt ein Sportler sagt, ich werde aber nicht aufgestellt, obwohl ich viel besser bin, weil der Trainer jemand anders lieb hat, dann ist das nicht unsere Aufgabe. Wenn jetzt einer sagt, jemand anders ist aufgestellt worden, weil der Trainer verlangt hat, dass ich mit dem sexuelle Kontakte unterhalte, dann wäre das ein Fall jedenfalls für eine Ethikkommission des Fachverbandes oder von uns.
Schweizer: Sie hatten bei Ihrer Rede zum Neujahrsempfang gesagt, nicht jeder Fehler ist ein Skandal, und damit auch für die Kraft der Differenzierung geworben. Vielleicht sind wir da ja gerade jetzt auch gedanklich. Was hatten Sie damit im Sinn?
de Maizière: Diese Bemerkung war ja nicht nur auf den Sport, sondern auf unsere ganze Gesellschaft gemünzt. Ich stelle fest, dass wir zu grell und zu schrill sind. Ich interessiere mich neben dem Sport auch sehr für Musik, und in der Musik lebt die Kraft einer Komposition davon, dass es piano und fortissimo gibt und ein Crescendo, das etwas lauter wird, das abflaut, dass es eine Pause gibt, dass es einen Paukenschlag gibt oder ein wunderbares Adagio, was an die Herzen geht. Wer immer nur schreit, da machen alle die Ohren zu. Und wer nur flüstert, dem wird nicht zugehört. Deswegen finde ich, wir brauchen die Differenzierung, und ein Fehler ist ein Fehler, der muss abgestellt werden, und ein Skandal ist ein dicker, dicker, dicker Fehler, und da muss man unterscheiden. Und auch nicht jede gute Idee ist gleich grandios, und jeder Erfolg ist herausragend. Und nicht jede Eintagsfliege, die immer irgendwas gewinnt, gehört in die Hall of Fame als Sportler. Und wenn wir nicht diese differenzierende Kraft, die Farbigkeit, die Buntheit des Lebens wieder mehr auch in der Sprache zum Ausdruck bringen, dann wenden sich die Leute ab von öffentlichen Schauspielen, und Sport ist ja auch ein gewisses öffentliches Schauspiel. Und so muss auch die Wahrnehmung von Fehlern sein. Wir müssen Fehler klar und schnörkellos ansprechen, Fehler müssen vor allen Dingen abgestellt werden, aber es gibt Ermessensspielräume. Es gibt harte und strenge Strafen, es gibt Bewährungen, es gibt neue Chancen, es gibt harte Strafen zu Beginn oder das Gegenteil davon. Das muss auch eine Ethikkommission leisten, und das muss eine Gesellschaft leisten, dass wir nicht jede gute Tat in den Himmel loben und jede kleine Sünde zur Todesstrafe führt.
"Sport hat bei der Integration von Flüchtlingen Großes geleistet"
Schweizer: Thomas de Maizière ist heute unser Gast im Deutschlandfunk "Sportgespräch", ehemaliger Bundessportminister unter anderem und jetzt Chef der Ethikkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes. Herr de Maizière, verstehe ich Sie richtig, Sie wollen also jetzt nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen, wenn man das jetzt mal so …
de Maizière: Und umgekehrt nicht, aus jedem Elefanten eine Mücke. Es gibt auch – das hab ich in der Rede gesagt – eine Tendenz zur Selbstüberhöhung des Sports. Natürlich hat der Sport Großes geleistet bei der Integration von Flüchtlingen. Natürlich ist der Sport sehr wichtig, dass man einen Leistungsbegriff der Gesellschaft vorlebt. Natürlich ist Teamgeist etwas, was man im Sport lernt und für die Gesellschaft gut ist. Natürlich ist es wunderbar, wenn Handball der Männer die Zuschauer begeistert. Aber wenn jetzt der Sport sich einbilden sollte, dass nur über den Sport man ein anständiger Mensch wird oder der Leistungsbegriff nur über den Sport geht. Und auch der Ausdruck Sportfamilie darf nicht überbewertet werden – es gibt Konkurrenz, es gibt Wettbewerb, mitten in Mannschaften gibt es das, nicht nur im Fußball. Also wenn der Sport sich selbst überhöht und dann fehlt, weil im Sport auch Menschen sind, ist die Absturzhöhe besonders groß. Und deswegen ist ein bisschen Bescheidenheit und Differenzierung, glaube ich, richtig.
Schweizer: "Das Image ist wichtiger als die Substanz" habe ich mir noch als Zitat notiert aus Ihrer…
de Maizière: Das hab ich aber als Sorge formuliert, nicht als…
Schweizer: Ja, genau das, haben Sie auch bemängelt in Ihrer Neujahrsrede beim Deutschen Olympischen Sportbund. Bisher scheint tatsächlich auch in Sportverbänden oft das Gesetz zu gelten: Lassen Sie uns das bloß nicht nach draußen kehren, wir regeln das intern. Wie wollen Sie damit umgehen? Damit spielen Sie ja darauf offenbar auch an.
de Maizière: Ja, zunächst spielt ja das darauf, dass Kleider machen eben letztlich keine Leute. Es gibt ein wunderbares Märchen über den nackten König, der so tut, als hätte er Kleider an. Das Image ist natürlich wichtig, auch für einen Sportler und für einen Politiker und für einen Schauspieler und für einen Unternehmensführer und für einen Kaufmann und für jeden, für einen Lehrer, der hat ein bestimmtes Image. Aber das Image muss Ausdruck einer Substanz sein, dass man etwas kann, dass man etwas leistet.
"Nicht jeder Streit muss nach außen getragen werden"
Schweizer: Und bezogen auf Ethik und den Ethik…
de Maizière: Ja, und wer sozusagen scheinbar total immer von Moral redet, wenn es dann auffällt, dass es nicht so ist, dann ist auch die Kritik sehr viel größer. Also guckt mehr auf die Substanz als auf das Image, im Guten wie im Bösen – das ist der erste Punkt. Jetzt zu der konkreten Frage: Natürlich muss nicht jeder Streit in einer Mannschaft, in einer Familie nach außen getragen werden, das ist in Ordnung. Man zeigt die schwachen Stellen einer Familie auch nicht fremden Leuten, die in die Wohnung kommen. Da kehrt man mal auch ein bisschen Staub unter den Teppich, da wölbt der Teppich sich nicht auf. Wenn man aber Leichen unter den Teppich kehrt, dann geht es nicht, und das fällt sogar auf, weil der Teppich einen großen Wurf schlägt. Mit anderen Worten: Wenn man es übertreibt, wenn man glaubt, man könnte schwere Fehler zukleistern durch Kameraderie, dann macht man einen großen Fehler, und zwar auch im Interesse des Sports und im Interesse des Vereins, im Interesse des Verbandes, für den man arbeitet.
Schweizer: Es gibt eine Studie der Uni Leuven, die sich mit dem Thema Good Governance beschäftigt hat, auch im europäischen Vergleich, und da bescheinigt diese Studie Deutschland eher den Status eines Entwicklungslandes, was Good Governance angeht. Der DOSB, muss man dazusagen, im deutschen Vergleich noch mit am besten, aber insgesamt schneidet der Deutsche Olympischen Sportbund auch eher unterdurchschnittlich ab, zum Beispiel bei Transparenz von Gremienentscheidungen, Transparenz von Vergütungen – da gibt es einige rote Felder –, aber auch bei so Themen wie Geschlechtergleichheit und Athletenrechten. Wo geht da jetzt bei Ihnen die rote Lampe an als neuer Chef der Ethikkommission?
de Maizière: Nun, es gibt eigentlich Studien über alles, und da muss man immer fragen, wie sind eigentlich die Kriterien für die Studien. Und eine dieser Kriterien ist, gibt es schöne Vorschriften, habt ihr alles geregelt. Und wenn nicht, ist ganz schlecht. Ich habe in meiner Rede gesagt, Papier ist wichtig, aber die Wahrheit ist auf dem Platz. Was nützen die besten Regeln, die einem gute Noten bei einer Studie bringen, wenn sie nicht gelebt werden? Und wenn wir jetzt die Punkte mal durchgehen – die Gremien gibt es jetzt, die Papiere gibt es, das erwecken wir jetzt mit Leben. Die Transparenz von Vergütungen, da bin ich gar nicht so sicher, ob das etwas ist, was prinzipiell zu Good Governance dazugehört. Warum soll das eigentlich so sein? Ist das eigentlich überall so? Im öffentlichen Dienst ist es so. Es konnte jeder nachlesen, was ein Bundesminister verdient, es weiß jeder, was ein Abgeordneter verdient. In manchen Betrieben wissen die Leute an einem Schreibtisch nicht, was der andere verdient. Ja, muss denn totale Transparenz da wirklich gut sein? Ist das wirklich nötig für gute Verbandsführung?
Schweizer: Das Argument ist natürlich immer, dass damit eine gewisse Art von Kultur geprägt wird, die dann wirklich strafbare Handlungen auch ein Stück weit unterbinden kann.
de Maizière: Ja, zum Beispiel das Präsidium im DOSB arbeitet ehrenamtlich, da gibt es eine Aufwandsentschädigung – wir haben über die Aufwandsentschädigung des DFB-Präsidenten ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert, das kann man alles erfragen. Aber ob es wichtig ist für gute Verbandsführung, dass alle wissen, was ein Mitarbeiter der Geschäftsführung öffentlich verdient, das halte ich nicht für zwingend. Es muss klar sein, wir müssen uns angucken dürfen, es müssen Interessen ausgeschlossen werden, und manchmal verdient man lieber ein bisschen besser und dafür gibt es keinen Nebenverdienste mit Interessenkollisionen. Also Transparenz von Gehältern finde ich nicht so entscheidend. Athletenrechte ist ein sehr wichtiger Punkt, und da hat es ja eine Diskussion gegeben, etwa die Frage der Finanzierung der Athletenkommission …
Schweizer: Und die Frage der Einbindung.
de Maizière: Die Frage der Einbindung, da hat es Kritik gegeben, da ist viel verändert worden. Es gibt auch einen Kompromiss, was die Bezahlung angeht. Da finde ich übrigens, wir haben über Öffentlichkeit gesprochen, das war kein schönes Bild, was der Sport da gegeben hat. Und wenn ich jetzt schon im Amt gewesen wäre als Vorsitzender einer Ethikkommission, Hinweis oder nicht, dann hätte ich mal den Sprecher der Athletenvereinigung und den Präsidenten des DOSB eingeladen, um nicht zu sagen einbestellt, und gesagt, Leute, können wir das nicht ohne Öffentlichkeit so klären, dass die Athletenvereinigung unabhängig finanziert wird, aber nicht vor der Öffentlichkeit wir ein Schauspiel bieten, wer wen finanziert.
Schweizer: Und warum ist das aus Ihrer Sicht so schädlich, wenn die Öffentlichkeit eingebunden ist? Das ist ja auch ein kontrollierendes Element.
de Maizière: Ja, weil dieser Streit, finde ich, der hat im Ergebnis zu einem guten Ergebnis geführt. Aber dass man vor der Öffentlichkeit zwischen Funktionären und Athleten darüber streitet, wie unabhängig die Athletenvereinigung ist, finde ich jedenfalls keinen Ausdruck von Stärke. Die Öffentlichkeit war da ein Notruf, aber das muss nicht sein. Man kann auch viele Probleme, finde ich, ohne Öffentlichkeit genauso gut lösen.
"Es wird ein bisschen zu viel geduzt im Sport"
Schweizer: Im Aufgabengebiet von Ethikkommissionen, Herr de Maizière, das frage ich jetzt am Ende dieses Gesprächs, kommen als Erstes Fälle von Korruptionsverdacht, Klüngelei in den Sinn, von Veruntreuung, massives Fehlverhalten von Mitarbeitern. Dann ist das Kind ja aber schon meistens in den Brunnen gefallen, da ist dann was passiert. Haben Sie auch eine gestaltende Absicht als Chef der Ethikkommission in dem Sinne, dass Sie sagen, Sie möchten tatsächlich auch eine andere Kultur prägen, die so was einfach auch überhaupt gar nicht zulassen kann? Ihre Aufgabe wäre ja, erst mal auf Hinweise einzugehen.
de Maizière: Darüber haben wir ja in der ersten Sitzung gesprochen. Wir können uns auch vorstellen, selbst initiativ zu werden, aber natürlich hat unsere Existenz – und wenn es dann mal einen Fall gibt – auch eine gewisse abschreckende Wirkung, aber auch abschreckend führt nicht zwingend zu einem guten Teamverhalten, sodass allein unsere Existenz vielleicht dazu beiträgt, dass man Mängel abstellt. Aber wissen Sie, ich hab als Kind ein Buch verschlungen, "Elf Freunde müsst ihr sein" – kennen vielleicht viele, es gibt ja auch eine Zeitschrift dazu –, und da hatte ich immer die tolle Vorstellung, dass man besonders gut Fußballs spielt, wenn elf Spieler auch wirklich Freunde sind. Das ist eine Illusion. Man muss nicht Freunde sein, um ein guter, professioneller Partner in einem Verband oder so zu sein. Wenn es da ist, umso besser. Deswegen habe ich auch mal gesagt, nicht so viel von Familie und Freundschaft und so reden. Es wird auch ein bisschen zu viel geduzt überall im Sport, finde ich. Ein bisschen Distanz ist nicht so schlecht, auch übrigens für anständiges Verhalten. Aber seriös, anständig, integer, das ist wichtig, da müssen sich nicht alle lieb haben.
Schweizer: Das ist das Schlusswort, Herr de Maizière, ich danke Ihnen für das Gespräch! Das war das "Sportgespräch" im Deutschlandfunk. Am Mikrofon war Marina Schweizer, und Sie können dieses Gespräch wie immer auch als Podcast abonnieren: Deutschlandfunk Sportgespräch. Danke fürs Zuhören und tschüss!
de Maizière: Guten Abend!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.