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Dr. Samuel Johnson

Man muss ihn sich als stattlichen Herrn vorstellen, dessen Beleibtheit im Laufe der Jahre zunahm. Dass er gerne aß, ja sich mit wahrer Gier auf seine Leibspeisen stürzte, zu denen alles außer schottischen Gerichten zählte (Schottland konnte er nicht leiden), vermerkt sein Biograph mit uncharmanter Offenheit. Maßlosigkeit gehörte zu seinem Charakter wie Schlagfertigkeit zu seinen Antworten. Wenn er jemanden mochte, hielt er ihm die Treue und verschonte ihn mit seinem bösen Witz. In solchen Fällen wurden kleine Makel wie die schottische Herkunft seines Biographen freundlich übersehen. Was freilich seine Antipathie erweckte, weil es ins Weltbild des in vielen Dingen progressiven, in Fragen von Demokratie und Kunst jedoch stockreaktionären Publizisten nicht passte, ließ sich auch mit guten Argumente nicht verteidigen. Der amerikanische Aufstand von 1776 war so ein Fall, den der Biograph als legitim ansah, der Biographierte hingegen nicht. Amerikaner mochte Samuel Johnson noch weniger als die Schotten, gegen die Krone erhob man sich nicht. Verkehrte Welt, denn der niemals promovierte und nur honoris causa mit dem Doktortitel geschmückte, mächtigste Literaturkritiker seine Epoche entstammte dem einfachen Volke, während sein Biograph James Boswell Esquire dereinst ein prächtiges Landgut erben sollte. Der, dem die demokratische Morgenröte genützt hätte, schmähte die Revolutionen in Frankreich und Amerika als plebejische Untaten, während sie der Landadlige mit freundlichem Interesse betrachtete.

Florian Felix Weyh |
    In England kennt dieses ungleiche Paar jedes Kind. Hierzulande haben nur die Gebildesten von ihm gehört, gelesen hat den Klassiker der Biographieliteratur wohl nur eine Minderheit - und das ist ein ausgesprochener Verlust, ja die Preisgabe eines großen Vergnügens. Nach heutigen Maßstäben gälte der bisweilen ungepflegte Geistesriese Johnson mit seinen Macken, Allüren und exzentrischen Eigenheiten, die seine Gastgeber nur mühsam die Contenance bewahren ließen (denn es war eine Ehre, ihn zu beherbergen), freilich als manisch-depressiv. In den manischen Phasen sprühte er nur so vor Witz und Erkenntnis, in den depressiven zog er sich von der Welt zurück. Für einen Autor mit solchem Nachruhm einigermaßen seltsam, hinterließ er bis auf ein berühmtes Wörterbuch keinerlei bedeutendes Schriftgut, wurde als Publizist von seinen Zeitgenossen zwar gefürchtet, doch setzte keine Maßstäbe. Da er lebenslang gegen die eigene Trägheit anzukämpfen hatte, beantwortete er Briefe nur unregelmäßig, und wäre es nicht zur Symbiose mit seinem Bewunderer Boswell gekommen, wüssten wir über ihn nicht mehr, als drei Zeilen in einem Lexikon verraten. So wie James Boswell seinen Doktor Johnson als Beschreibungsobjekt brauchte, um die eigenen schriftstellerischen Ambitionen auszuleben, bedurfte Johnson dieses Mit- und Aufschreibers, um nachhaltige Spuren in der Literaturgeschichte zu hinterlassen. Denn er war ein Peripathetiker, der seine Gedanken beim Sprechen verfertigte, sich aber nicht dazu verstand, sie hinterher auch aufzuschreiben.

    Das tat Boswell für ihn, führte seitenlang die Dialoge im Tagebuch nach, um sie dann nach dem Tode Johnsons zur berühmtesten Biographie der Epoche - manche sagen: der Welt - zusammenzufassen. Was ist darin Johnson und was Boswell zuzuschreiben? Niemand weiß das, und es steht zu vermuten, dass der literarisch überlieferte Doktor Johnson dem einst lebenden an Eloquenz weit überlegen ist. Der zeitliche Abstand macht diese Differenz unwichtig, es zählt nur das unnachahmlich britische common-sense-Denken des Autorenduos. Man kann Doktor Johnson zu allen Dingen des Lebens befragen, stets weiß er eine Antwort, nie um ihrer selbst Willen originell, sondern immer vernünftig und auf verblüffende Weise logisch. Wer von Literatur erwartet, dass sie Lesegenuss bereitet und den Verstand öffnet, darf sich diesen wieder aufgelegten Klassiker bei Diogenes nicht entgehen lassen. Nach wenigen Seiten schon wird der Londoner Salonlöwe zum Hausgenossen im Geiste, und man beweint sein Hinscheiden nach 650 Seiten aufrichtig. Besonders aufschlussreich, dass sich die Zeiten vor 250 Jahren in ihren literarischen Kämpfen vom heutigen Treiben kaum unterschieden. Blickt einem auf Seite 377 nicht ein sehr vertrautes Gesicht entgegen? Die physiognomische Ähnlichkeit sticht ins Auge, zeigt die Radierung noch Samuel Johnson oder schon Marcel Reich-Ranitzky? Heute jedenfalls hätte Samuel Johnson gleich seinem Nachfahr eine eigene Fernsehsendung, und statt Boswell zeichnete der Videorekorder seine rhetorischen Glanzstücke auf.