Die Proteste stellen nach Einschätzung vieler Beobachter eine der größten Bedrohungen - wenn nicht die größte Bedrohung - des Regimes seit dessen Bestehen dar. Die entscheidende Frage ist, ob das Regime durch die Proteste tatsächlich gestürzt werden könnte. Diese Frage lässt sich heute nicht beantworten.
Der Politologe Ali Vaez (International Crisis Group) betonte schon kurz nach Beginn der Proteste, die jüngere Generation habe keine Hoffnung auf eine Zukunft im Iran und nichts zu verlieren. Das sei der Grund, warum die Menschen auf die Straße gingen.
Die Iran-Expertin und ehemalige Teheran-Korrespondentin Natalie Amiri formulierte das in der Neuen Zürcher Zeitung jüngst so: "Das Regime, das alles zu verlieren hat, steht einer Bevölkerung gegenüber, die nichts mehr zu verlieren hat. Die Wünsche der Menschen sind die roten Linien dieses Regimes. Es gibt keine Verhandlungsmasse, die Forderung der Protestierenden sind keine Reformen, sie wollen eine Revolution."
Der Schriftsteller Navid Kermani äußerte sich in der "Zeit" ebenfalls deutlich: "Es ist klar, dass sich Revolutionsführer Chamenei nach anfänglichem Zögern entschieden hat, auf nackte Gewalt zu setzen, um seine Macht zu bewahren. Ein Zurück kann es nach der jüngsten Eskalation für ihn kaum geben; sein politisches Schicksal und womöglich sein Leben hängen davon ab, dass der Sicherheitsapparat die Proteste erstickt. Mit jeder Hinrichtung greift das Entsetzen weiter um sich, und selbst Angehörige des Systems gehen immer häufiger öffentlich auf Distanz.“
Der Beginn der Proteste
Der Auslöser der Protestwelle war der Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini, deren kurdischer Name eigentlich Jina lautet. Weil die iranischen Behörden den Namen nicht anerkannten, musste sie offiziell den Vornamen Mahsa verwenden.
Die junge Frau wurde Mitte September in Teheran von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen, angeblich weil sie gegen die Kleiderordnung verstieß. Mahsa Amini starb kurz darauf. Die Umstände ihres Todes sind nach wie vor ungeklärt. Ihre Familie zeigte sich überzeugt, dass Mahsa Amini zu Tode geprügelt wurde. Die Behörden sprachen von Organversagen und einer Vorerkrankung.
Die Menschen auf den Straßen und ihre Forderungen
Alle Generationen, alle Schichten: Die Proteste ziehen sich durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung – das ist eine neue Qualität im Vergleich zu früheren Protestwellen. Die Menschenrechtsorgsanisaion „Human Rights Activists News Agency“ mit Sitz in den USA hat einen langen Bericht zu den Protesten veröffentlicht. Demnach gab es Kundgebungen in rund 160 Städten.
Treibende Kraft der Unruhen waren und sind die Frauen, die seit Beginn der Islamischen Republik 1979 diskriminiert werden. Sinnbildlich dafür steht der Kopftuchzwang im Iran. Im Zuge der Proteste zeigten sich immer mehr Frauen ohne Kopftuch auf den Straßen in vielen Städten, viele verbrannten ihren Hidschab. Der wohl bekannteste Slogan der Proteste lautet „Frau – Leben – Freiheit“.
Auch an Schulen und Universitäten kam es zu Demonstrationen. Es gibt zahlreiche Videos, die den Protest und die Wut der jungen Leute dokumentieren. Die Journalistin Natalie Amiri schrieb dazu: "Diejenigen, die im Moment am unerschrockensten kämpfen, sind die Mitglieder der Generation Z. Das Durchschnittsalter der Protestierenden liegt laut Regime bei 15 bis 16 Jahren."
Auch in der Wirtschaft zeigen die Proteste ihre Wirkung: Es gab Streiks in der wichtigen Ölindustrie und zuletzt den Aufruf zu einem dreitägigen Generalstreik, an dem sich auch Basare in einer Reihe von Städten beteiligten.
Der Widerstand zieht sich auch durch die verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen im Iran. Immer wieder gab es Kundgebungen in der Provinz Sistan und Belutschistan, wo die Volksgruppe der Belutschen lebt. Ebenso kam es zu Aktionen in den kurdischen Regionen, aus denen Mahsa Amini stammt. Das iranische Militär hat diese Unruhen brutal niedergeschlagen und dabei auch kurdische Ziele im Nordirak angegriffen. Das Regime wirft etwa den iranisch-kurdischen Exilgruppierungen dort vor, die Proteste im Iran zu befeuern.
Auch zahlreiche Sportler und Künstler zeigen ihren Unmut gegen das iranische Regime. Besonders prominent ist der Fall der Klettersportlerin Elnaz Rekabi, die bei einem Wettkampf im Ausland ohne Kopftuch antrat. Nach ihrer Rückkehr in den Iran sprach sie von einem „Versehen“ – in einer Stellungnahme, die laut Menschenrechtlern erzwungen worden sein dürfte.
Besonders wichtig für die Protestbewegung ist die Musik. Der Sänger Shervin Hajipour hat den Song „Baraye“ geschrieben und dafür Tweets vertont. Das Lied bringt sowohl die Kritik am Regime als auch die Sehnsucht nach einem anderen Leben zum Ausdruck und gilt längst als Hymne der Proteste.
Die Reaktion des Regimes
Politisch hat das Regime erwartbar reagiert: Der religiöse Führer, Ayatollah Chamenei, machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland und insbesondere die USA und Israel verantwortlich, hinter den Protesten zu stecken.
Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Demonstrierenden vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repression. In Wohnvierteln setzen Einsatzkräfte immer wieder Tränengas ein, um nächtliche Gesänge und das Rufen von Slogans zu unterbinden. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in Zivil gegen Demonstrierende vor. Dabei spielen auch die Bassij-Milizen eine große Rolle, die den Revolutionsgarden unterstellt sind.
Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote.
Zu den vielen Festgenommenen zählen auch die beiden Journalistinnen, die als erste über die Proteste und den Fall Mahsa Amini berichtet hatten.
In Teheran und anderen Städten haben Gerichtsprozesse gegen Demonstrierende begonnen. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen, und die ersten Verurteilten wurden hingerichtet. Oft wird den Inhaftierten „Krieg gegen Gott“ vorgeworfen. Der erste Hingerichtete war ein 23-Jähriger, der in einem Video zuvor ein vermeintliches Geständnis ablegte. Beobachter sprechen von einem Schauprozess, der iranisch-türkische Poliologe Arif Keskin wies darauf hin, dass erpresste Geständnisse seit vielen Jahren im Iran System hätten.
Das iranische Regime nutzt außerdem seine Macht, die Kommunikation der Menschen zu blockieren. Immer wieder wird das Internet gedrosselt oder ganz gesperrt. Es gibt Berichte über den Einsatz eines Überwachungsprogrammes mit dem Namen Siam. Damit lassen sich Demonstrierende orten – so kann unter anderem ermittelt werden, an welchem Mobilfunkmast ein Handy angemeldet ist.
Für viel Wirbel sorgten Berichte über eine angebliche Auflösung der umstrittenen Sittenpolizei. Das hatte der iranische Generalstaatsanwalt bekanntgegeben, dem die Sittenpolizei aber gar nicht untersteht. Die Einheit ist dem Innenministerium unterstellt, und offizielle Bestätigungen für die Auflösung der Einheit gab es zunächst keine. Dementsprechend sprachen viele Beobachter von einer Finte und einem Ablenkungsmanöver des Regimes.
Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt. Es gibt nicht nur Berichte, dass Brandsätze auf Einsatzkräfte geworfen wurden. Das Regime wirft den Demonstrierenden auch die Tötung zahlreicher Einsatzkräfte vor und führt das auch als Begründung für Todesurteile an.
Die Reaktionen im Ausland
Auf politischer Ebene sind bereits zahlreiche Sanktionen gegen den Iran erlassen worden, die zu den bereits seit Jahren bestehenden Strafmaßnahmen gegen das Land hinzukommen. Die EU hat zuletzt Sanktionen gegen die iranische Revolutionsgarde und den Staatssender IRIB verhängt, zuvor auch gegen die Sittenpolizei. Auch die USA, Großbritannien und Kanada haben Strafen beschlossen. Im UNO-Menschenrechtsrat wurde - auch auf Betreiben Deutschlands - eine Resolution verabschiedet, die eine unabhängige Untersuchung der Gewalt gegen die Protestbewegung vorsieht. Zudem wurde der Iran aus einer Frauenrechtskommission der UNO ausgeschlossen.
Umstritten ist, ob die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm noch fortgesetzt werden können. Derzeit liegen die Gespräche ohnehin auf Eis. Als Grund dafür wird auch die Repression des Regimes angesichts der Proteste angeführt. Hinzu kommt die iranische Unterstützung des russischen Angriffskrieges mit Drohnen. Auch deshalb ist eine Einigung im Atomstreit derzeit nicht abzusehen.
International gibt es seit Beginn der Proteste eine Fülle von Solidaritätsbekundungen. Es gab große Kundgebungen im Ausland, etwa in Berlin. Viele Künstler haben sich solidarisch mit den Protesten erklärt und Videos veröffentlicht. Der Song Baraye – die Hymne der Proteste - ist vielfach gecovert und neu vertont und verfilmt worden. Sogar Schulklassen in Frankreich haben das Lied einstudiert, um ein Zeichen der Unterstützung zu senden.
Angesichts der Hinrichtungen im Iran haben in Deutschland inzwischen zahlreiche Politiker symbolische Patenschaften für Inhaftierte im Iran übernommen, darunter etwa Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt.
Allerdings wurde die Haltung der Bundesregierung anfangs auch kritisiert - und zwar als zu unkritisch dem iranischen Regime gegenüber.