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Drei rebellische Töchter

Sie waren die Töchter eines englischen Barons und hingen den verschiedenen Ideologien des 20. Jahrhunderts an. Nancy, Diana und Jessica Mitford fielen aus allen Mustern der Familie heraus - und nur zwei konnten sich durch Vernunft und Widerstandsgeist vor einer adligen Existenz retten.

Von Roland H. Wiegenstein |
    Kein Weihnachtsfest (oder Neujahrstag), an denen nicht irgendeine Fernsehstation die herztausige Mär vom "Kleinen Lord" ausstrahlte, mit dem bärbeißigen Alec Guiness und einem blonden Knaben, der, durch rechtzeitige Tode in den Rang des legitimen Nachfolgers des Alten promoviert, nun anderthalb Stunden lang zum perfekten Peer erzogen würde. So was muss auch David Mitford passiert sein, der von 1878 bis 1958 lebte und durch den Abgang des älteren Bruders zum zweiten Baron Redestale wurde und mit seiner Frau, Lady Sidney, sechs Töchter und einen Sohn zeugte.

    Einige dieser Töchter sind literaturnotorisch geworden, die älteste, Nancy, brachte es durch ihre gescheiten Gesellschaftsromane zur Bestsellerautorin, die beiden nächsten machten politisch von sich reden, Diana heiratete in zweiter Ehe den englischen Faschistenführer Oswald Mosley, die Ehe hielt kaum länger als die Erste mit dem Erben der Guiness-Brauereien, ihre Neigung zu dem braunen Agitator auch nicht viel länger; die folgende, Unity, geboren 1914, vergaffte sich in Hitler, himmelte den "Führer" so konsequent an, dass der sie bemerkte, an seinen Kneipentisch in München zog, sie zur Olympiade 1936 mitnahm, sie sich ein Bild vom Chefantisemiten Julius Streicher ins Zimmer hängte und 1939 eine Kugel in den Kopf schoss. Sie hat das, hirngeschädigt, bis 1948 überlebt.

    Die folgende Tochter, die 1917 geborene Jessica, schlug sich schon als Mädchen auf die andere Seite, wurde eine fervente Linke, zeitweise sogar Kommunistin und starb erst 1996 als hoch geachtete investigative Journalistin in New York. Eben diese hat in zwei Büchern, deren erstes "Huns and Rebels" 1960 erschien, dessen Fortsetzung wenige Jahre später, ihre Kindheit und die Verwirrungen ihrer Jugend ironisch, witzig, zuweilen sogar boshaft beschrieben; den ersten Band hat der Berliner Berenberg Verlag, auf derlei Ausgrabungen spezialisiert, nun unter dem Titel: "Hunnen und Rebellen" mit dem Untertitel "Meine Familie und das 20. Jahrhundert." veröffentlicht. Sie schildert darin, wie es beim englischen Hochadel zuging, oder besser in dem nicht eben reichen, aber doch mit Schloss und Personal versehenen Teil der "gentry" , dessen monströse Burgen heute in ansehnliche Hotels verwandelt sind. Es sei denn, nichtadlige, aber stinkreiche Einheiraten hätten den fürstlichen Lebensstil des alten Empires in unsere Tage retten können. Die drei rebellischen Töchter (von den fünfen) des ehrenwerten Lord David aber fielen aus allen Mustern der Familie heraus und hingen den bestimmenden Ideologien des 20. Jahrhunderts an, wobei einzig Nancy, die Romanautorin und Jessica, die Journalistin sich durch ihre helle Vernunft und ihren Widerstandsgeist retteten vor dem, was ihnen eigentlich bestimmt war: adlig zu heiraten oder als alte Jungfern mit knapper Apanage ihr Leben zu fristen.

    Der Status der alten Jungfer hatte sich seit den Tagen der Königin Victoria nicht verändert. Sie lebte von einer durch die Familie ausgesetzten Rente, die sorgfältig kalkuliert war, um ein notwendiges Minimum sicherzustellen, eine Summe, die man als ausreichend und nicht übertrieben hoch für die unverheirateten Töchter und jüngeren Söhne eines Peer ansah. Während des den jüngeren Söhnen freistand, ihr Einkommen durch einen freien Beruf, den Militärdienst oder vielleicht sogar durch eine kaufmännische Tätigkeit aufzubessern, blieben solche Wege den unverheirateten Töchtern streng verschlossen, die dann im Lauf der Zeit in das Dämmerleben der Tantenschaft versanken.

    Die Bräuche waren streng, auch wenn es, wie bei den Redesdales an manchem mangelte, Lady Sidney, genannt Mav, den Etat durch eine Hühnerfarm aufbessern musste. Doch was Adel eigentlich sei, das hat sie ihren ungebärdigen Töchtern erklärt: nicht snobistisch nämlich:

    Meine Eltern wären weniger schockiert als verständnislos verblüfft gewesen hätte man ihnen Snobismus vorgeworfen. Snobismus war ja per definitionem etwas, das ausschließlich in der Mittelschicht vorkam; er drückte sich in einem ungesunden Begehren aus, höher aufzusteigen, als es die eigene soziale Stellung zuließ, dorthin vorzudringen, wo man nicht erwünscht war und dann wiederum hochmütig auf die herabzusehen, die auf der sozialen Stufenleiter unter einem kamen. Meinen Eltern wäre es nicht im Traum eingefallen, auf irgendjemand herabzusehen; sie zogen es vor, immer stur geradeaus zu schauen, auch wenn dies ihr Gesichtsfeld begrenzte … Im Geschichtsbild meiner Eltern waren die Oberklasse, die Mittelklasse und die Arbeiterklasse dazu geschaffen, ewig auf harmonisch parallelen Schienen durch die Epochen zu reisen, die sich niemals begegnen oder kreuzen konnten.

    Zu den Gewohnheiten des Hochadels gehörte es auch, zwar die Söhne auf höhere Schulen und Colleges zu schicken, den Töchtern reichte ein wenig Französisch, Reiten und Anleitung zur Behandlung von Personal, was im Falle der Mitford-Schwestern von der Mutter Mav besorgt wurde. Als die Gören älter wurden, kamen Gouvernanten ins Haus, die die Erziehung übernehmen wollten, aber fast alle bald wieder Swinbrook verließen, weil sie mit ihren ungebärdigen Zöglingen nicht fertig wurden, nur eine blieb etwas länger und brachte den jüngeren, Nancy und Diana waren schon außer Haus, die Kunst des Ladendiebstahls bei, den sie perfekt beherrschten. Mit sechzehn begann die Initiation, das Debut bei Hofe und die anschließende, viermonatige Ballsaison in den verschiedenen Londoner Häusern der guten Gesellschaft.

    Endlich kletterten wir aus dem Auto und stolperten durch das Regendunkel in einen hell erleuchteten, überfüllten Korridor voll bloßer Schultern und dem muffigen Geruch geliehener Straußenfedern. Weitere Stunden eines Vorrückens Zoll um Zoll, diesmal, wie es mir schien, durch Meilen ein wenig überfütterten menschlichen Fleisches hindurch…. Endlich am Ziel, ein prachtvoller Lakai arrangiert unsere Schleppen, ein anderer röhrt: "The Lady Redesdale! The Honorable Jessica Mitford!" Wir befinden uns in Gegenwart zweier großer, ausgestopft wirkender Figuren, die von ihren Thronen herab nicken und lächeln wie aufgezogene Automaten. Noch eine Hürde: Das Knicksen, je einmal in Richtung der beiden Ausgestopften, dann ohne Stolpern rückwärtsgehen, bis man die erhabene Präsenz verlassen hat. Die spezielle Version des Pubertätsritus, welche die englische Oberschicht pflegt, ist vorüber. Ich bin jetzt eine Erwachsene.

    Aber eine Rebellische, die schon vom Ungeist des Sozialismus geleckt hat und die Bälle, veritable Heiratsmärkte, nur mehr mit Abscheu absolviert.

    Eine endlose Abfolge von opulent geschmückten Sälen mit sehr jungen Männern und Frauen, die den mit zuverlässiger Gleichförmigkeit produzierten Früchten an einem Marktstand glichen, hier und da mit einer überreifen oder unreifen Ausnahme … Glatte helle, harmlose Gesichter, welche die Gesundheit unzähliger Frischluftkindheiten auf unzähligen Landsitzen ausstrahlten – es gab nicht viel, was ein Individuum vom anderen unterschieden hätte.

    Für die Siebzehnjährige gab es einen der anders war, – nicht hochadlig genug, obzwar ein Neffe von Winston Churchill: er drückte die Schulbänke einer feinen Public School, das sind in England absurderweise die Privatschulen, und gab eine Schülerzeitung heraus: "Out of bounds", die von den Respektspersonen als so gefährlich erachtet wurde, dass sie an den Schulen verboten war und nur geheim kursierte. Esmond Romilly, so hieß der Knabe, machte die Oberschicht und ihre Schulen madig und trat für den Sozialismus ein. Genau das Richtige für Jessica, die den Versuch machte, ihm nach Spanien zu folgen, als dort die Franco-Truppen daran waren, die Macht zu übernehmen. Esmond machte einige Kämpfe in Nordspanien mit, dann wurde er, noch nicht großjährig, zurück nach Frankreich spediert, gemeinsam mit Jessica, die ihm gefolgt war. Die beiden heirateten in Bayonne, Esmond schrieb nach den abgehörten Nachrichten aus Spanien Artikel und machte sich mit seiner Gefährtin 1939 auf den Rückweg, der in Southampton endete, auf einem Frachter gen Amerika. Auch wenn die beiden, deren Tochter nach wenigen Monaten starb, die nächsten Monate mit lauter Gelegenheitsjobs verbrachten und dabei die Adressenlisten von Leuten abklapperten, die ihre Freunde ihnen gegeben hatten – der Oberschichtsclan hielt zusammen – Esmond eifrig weiter Artikel schrieb und Jessica mal als Bardame arbeitete, es war, alles in allem, ein spannendes Leben, so wie es sich die politisch aufgeklärten jungen Leute vorgestellt hatten, die in ihren Sitten unangestrengt schnöde blieben, wie es ihre Herkunft ihnen als selbstverständlich erscheinen ließ. Esmond hatte ständig neue Einfälle, wie man an Geld kommen könnte, die meist schief gingen, er war ein fantasievoller Träumer, dem nur eins wichtig war, der Kampf gegen den Faschismus. Jessicas Begegnungen mit den wahren Proletariern gingen nicht eben hoffnungsvoll aus, beschädigten aber nicht die Ideologie. Sie erlebten fassungslos, dass nach Hitlers Raubzügen in die Tschechoslowakei sogar ein Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion zustande kam.

    Tatsächlich ging eine Welle blinder Erleichterung durch ganz England – Erleichterung, dass zumindestens im Augenblick das Schlimmste noch nicht eingetreten war … Die drohende Vision eines in wenigen Jahren völlig unter der Naziherrschaft stehenden Europas aber schien Wirklichkeit werden zu wollen.

    Wie wir wissen, kam es anders. Zunächst für Esmond und Jessica, die sich 1939, wenige Monate vor Kriegsbeginn nach New York eingeschifft hatten und dort und auf einer langen Reise durch die Vereinigten Staaten weiter herumabenteuerten. Dabei lernten sie das Land, auch seine Schattenseiten, genau kennen. Viel Zeit hatten sie dafür nicht, im Buch gerade mal siebzig Seiten, auf denen Jessica die gemeinsamen Taten und Haltungen gewohnt ironisch schildern kann: Immer findet sich, selbst in anscheinend hoffnungslosen Situationen ein Ausweg, wie ihn nur Menschen finden, deren innere Selbstsicherheit sie über Abgründe trägt. Und dann kam der Krieg wirklich.

    Aus der wilden Konfusion der ersten Angriffstage

    Gemeint ist der Blitzkrieg Hitlers im Westen, der im Mai 1940 begann

    trat auf jeden Fall eine Tatsache hervor: Der deutsche Feuerregen auf diese schlecht vorbereiteten, uneinigen Länder erhellte wie mit einem weithin glühenden Blitzschlag die wahre Natur der Gefahr, in der sich Europa befand, und er machte aller Welt die verbrecherische Dummheit der jahrelangen schäbigen Kompromisse und Abkommen mit Hitler deutlich. Über Nacht war die Beschwichtigungspolitik tot und begraben. Am Tag nach dem Beginn der Offensive erklärte Chamberlain seinen Rücktritt und Churchill wurde aufgefordert, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Für Esmond war dies der entscheidende Punkt, der Moment, in dem alle Zweifel beendet waren, ob der Krieg auch mit Entschiedenheit geführt würde: Der Kurs der englischen Politik stand nun fest… Es gab keinen Zweifel, dass dies ein spießiger Krieg werden würde, und die Absonderung der Kommunisten – die verkündeten, sie blieben bei ihrer Diagnose eines "imperialistischen Krieges" – würde die Sache noch spießiger machen. Der Dienst in einem solchen Krieg würde eine mühselige Übung werden, man würde auf Schritt und Tritt von Langeweile umzingelt sein, und doch war er unerlässlich.

    Also zog Esmond in diesen spießigen Krieg, als Freiwilliger in der Royal Canadian Air Force. Und fiel 1941 bei einem Einsatz über der Normandie. Jessica blieb allein zurück. Sie schuf sich eine neue Person, nicht weniger spöttisch als die frühere, aber doch seriöser. Sie begann als Journalistin zu arbeiten, trat der Kommunistischen Partei der USA bei und 1957 wieder aus. Aber das erzählt sie erst im zweiten Band ihrer Memoiren. Da war sie schon bekannt und hatte in einem Buch ihre Erfahrungen als investigative Journalistin und ihre ungemein boshafte Reportage über das amerikanische Bestattungswesen veröffentlicht. Die Adelstochter war in der Wirklichkeit angekommen. "Hunnen und Rebellen" – das war ihre Jugend, das war die Zeit der Unbekümmertheit, auch der großen Liebe, die nur mit beispielhafter Diskretion benannt wird. Danach wurde es ernst.


    Buchinfo:
    Jessica Mitford: "Hunnen und Rebellen, meine Familie und das 20.Jahrhundert", übersetzt von Joachim Kalka, Berenberg Verlag, 336 Seiten, 25 Euro.