Birgit Wentzien: Willkommen zum Interview der Woche im Deutschlandfunk, Frau Dreyer.
Malu Dreyer: Ja, ich danke Ihnen, schönen guten Tag.
Wentzien: Wie gut kennt die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz die gerade eben noch Ministerpräsidentin des Saarlandes und jetzt neue Bundeschefin der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer?
Dreyer: Ja, wir kennen uns eigentlich ziemlich gut, denn sie war ja Ministerpräsidentin im Nachbarland und sie war vorher Ministerin, wie ich auch. Also, wir kennen uns schon eine ganz geraume Zeit.
Wentzien: Sie hat selber mal über sich gesagt, AKK, Annegret Kramp-Karrenbauer, und zwar mitten im Karneval: "Ich bin eine schwarz lackierte Sozialistin, eine konservative Quotenfrau, ein Zungenbrecher auf zwei Beinen." Ganz gut geschildert? Was sagen Sie?
Dreyer: Es ist gar nicht so nebendran, finde ich, die Schilderung, ja. Sie ist ganz klar aus meiner Sicht eine der sozialen Christdemokraten. Sie hatte keine größeren Probleme im Koalitionsvertrag im Saarland, den Mindestlohn zum Beispiel mit zu unterschreiben. Sie ist ganz sicher in gesellschaftspolitischen Fragen eher sehr konservativ und sie ist auch eine Frau, die sehr eloquent ist und die sich durchsetzen kann. Also, die Gesamtbeschreibung, die trifft es ziemlich gut.
Wentzien: Sie waren – Sie haben es angedeutet, Frau Dreyer – beide Sozialministerinnen in Nachbarländern. Sie kennen sich aus dem Bundesrat. Sie selber haben vor jetzt fünf Jahren quasi Ihren Antrittsbesuch bei ihr gemacht. Da war Annegret Kramp-Karrenbauer schon Regierungschefin im Saarland. Wenn man Sie beide nach Ihrer Regierungsverantwortung, Ihrer Ministerinnenverantwortung fragt, in Mainz und um Saarland, könnte es auch sein, dass Sie etwas verbindet, nämlich ein schon großer topografischer Abstand zu Berlin und Verantwortung in den Ländern? Ist das was Gemeinsames?
Dreyer: Also, ganz sicher war auch Annegret Kramp-Karrenbauer eine Ministerpräsidentin, die als Allererstes ihr Land gesehen hat. Das ist nun mal so. Das ist ja auch dem Amt inne. Das ist bei mir ganz genauso. Sie war eigentlich auch gar nicht so die Frau, die in Berlin häufig zu sehen war. Und auch in den großen Runden, würde ich sagen, war sie nie die bestimmende Person – in der Runde der CDU/CSU- Ministerpräsidenten. Also, sie hatte das Saarland. Und damit ist sie sozusagen auch politisch unterwegs gewesen.
Dreyer: CDU ist zerrissen
Wentzien: Damit beschreiben Sie auch eine Herausforderung, die diese Bundeschefin der CDU jetzt quasi zu bewerkstelligen hat.
Dreyer: Also, ihr neues Amt ist sicherlich eine riesige Herausforderung. Ich denke, es war konsequent von ihr und sie ist hohes Risiko auch gegangen, zu sagen: Ich verabschiede mich aus dem Saarland und gehe nach Berlin. Beides zusammen geht schwer. Das haben wir auch schon häufiger mal erlebt. Aber natürlich, sie hat eine Partei, die aus meiner Beobachtung heraus schon auch zerrissen ist. Mit 35, 34 Stimmen Mehrheit gewählt zu werden, das ist nicht viel. Es ist natürlich ein klarer Sieg. Dazu gratuliere ich auch. Aber natürlich hat sie einen ganz schönen Weg vor sich.
Wentzien: Auf die aus Ihrer Sicht zerrissene CDU kommen wir gleich. Vielleicht noch mal ganz kurz zu AKK, Annegret Kramp-Karrenbauer. Sie selber sagt ja auch, man kann durchaus die Abkürzung nehmen, damit das alles ein bisschen schneller geht. Vor der Wahl zur Bundeschefin der CDU wurde ihr oftmals eine Frage gestellt: Reicht denn Landesverantwortung? Reicht eine Regierungserfahrung im Saarland mit weniger Einwohnern als in der Region Hannover, um diesen Bundesjob jetzt zu übernehmen? Die Antwort von AKK ist – ich glaube heute auch noch: "Ich finde es immer wieder erstaunlich, mit welcher Arroganz in Berlin über Landstriche gesprochen wird, in denen die Mehrzahl der Deutschen lebt." Teilen Sie diese Einschätzung?
Dreyer: Ja, also es ist sehr zugespitzt formuliert, aber man darf schon sagen, man sieht das ja auch am Verhältnis zwischen Bund und Ländern, dass manchmal schon ein bisschen von oben herab auf die Bundesländer geschaut wird. Wir reden ja sehr viel in der Politik darüber: Wie schafft man es, wieder näher bei den Menschen zu sein und deren Bedürfnisse zu hören und darauf zu reagieren? Und deshalb sind die Bundesländer einfach von so enormer Bedeutung, denn sie sind die staatliche Ebene, die dann auch mit den Kommunen gemeinsam vor Ort die Politik gestalten.
Und das heißt nicht, dass jeder Berliner Abgeordnete nicht weiß, was im eigenen Wahlkreis zum Beispiel passiert. Aber es gibt auch so etwas wie, man sagt das ja auch so schön, eine Berliner Blase mit ganz viel Eigendynamik. Und deshalb ist es so gut, dass unsere Verfassung so aufgestellt ist, wie sie ist, nämlich, dass es Ministerpräsidenten gibt, die einfach noch mal einen stärkeren Blick auf die Landesbedürfnisse haben und natürlich auch einen funktionierenden Bundestag, der auch noch mal, ja, überregionale Interessen natürlich zu wahren hat für ganz Deutschland.
Wentzien: Sie haben sich jetzt sehr diplomatisch ausgedrückt. Würden Sie auch das Wort Arroganz nutzen? Das hat ja Kramp-Karrenbauer benutzt.
Dreyer: Das weiß ich nicht, ob Arroganz das richtige Wort ist, denn ich bleibe auch an dieser Stelle differenziert. Wir haben Abgeordnete, die sind ganz stark verbunden mit ihren Regionen. Und wir haben andere, die glauben, dass man von Berlin aus alles besser weiß. Und weder das eine ist richtig, noch das andere. Bundestagsabgeordnete haben das nationale Interesse von Deutschland im Blick zu haben. Die haben auch andere Aufgaben. Aber es ist schon richtig, dass Ministerpräsidenten tatsächlich auch konstruktiv mitarbeiten an dem, was in Deutschland insgesamt geschieht, weil sie einfach sehr, sehr nah an den Menschen sind und wissen, wie es vor Ort auch funktioniert.
"Wir wollen nicht mehr den Stil, wie in den ersten Monaten"
Wentzien: Was erwarten Sie als Vizechefin der Bundes-SPD und als Ministerpräsidentin politisch, inhaltlich und stilistisch von der neuen Bundeschefin der CDU? Sie haben, Frau Dreyer, immer wieder betont, die SPD sei oftmals in der Vergangenheit der Regierung in einer wiederum Großen Koalition zu nachgiebig gewesen, sie müsse einen neuen Modus finden in der Großen Koalition, in dem Dreiparteien-Gefüge und viele Erfolge und Themen der Sozialdemokraten seien regelrecht untergegangen in diesem Regierungsbündnis. Ist Ihre Erwartung, auch aufgrund Ihrer Kenntnis von Frau Kramp-Karrenbauer jetzt, dass das Arbeiten in der gemeinsamen Bundesregierung berechenbarer und vielleicht stabiler wird?
Dreyer: Das weiß ich nicht. Das wird man erst in den nächsten Wochen sehen. Denn immerhin war ja zuvor die Bundeskanzlerin auch die Parteivorsitzende. Sie war ja nicht diejenige, die die Stabilität in dieser Koalition infrage gestellt hätte. Sie hat es einfach nur nicht mehr vermocht, gemeinsam mit der Schwesterpartei dafür zu sorgen, dass man normal miteinander umgeht und normal miteinander arbeitet. Diese Kraft hatte Angela Merkel nicht mehr. Und es wird sich in Zukunft erst herausstellen, wie Annegret Kramp-Karrenbauer umgeht mit den Konflikten innerhalb der CDU und innerhalb der Union. Das kann man heute noch nicht absehen.
Was wir als SPD erwarten, ist natürlich vollkommen klar. Wir haben einen Koalitionsvertrag, den wollen wir umsetzen. Wir wollen nicht mehr den Stil, wie in den ersten Monaten. Den werden wir auch nicht mehr dulden. Und wir brauchen ein gutes Miteinander. Wir werden einen Fahrplan in der nächsten Zeit miteinander abstecken, was umzusetzen ist. Und wenn ich jetzt auf die Woche zurückschaue, dann sehe ich auch viele SPD-Projekte, die auf dem Weg sind. Der Digitalpakt, die Grundgesetz-Änderung, mehr Geld für sozialen Wohnungsbau, natürlich auch das "Gute-Kita-Gesetz". Das sind alles SPD-Projekte, die niemals umgesetzt würden ohne die SPD. Und das wollen wir natürlich auch in Zukunft deutlich machen. Dieser Koalitionsvertrag hat noch ein paar Punkte, die uns wichtig sind.
Wentzien: Aber ganz lapidar und wie das immer so ist mit Journalisten, sehr flach zusammengefasst: Sie haben diese PS nicht auf die Straße bekommen. Die Menschen im Land haben das nicht anerkannt und nicht mit der Sozialdemokratie verbunden. Noch mal insistierend bitte an der Stelle. Sie wollen Ihre inhaltlichen Markenkerne noch mal deutlicher nach vorne stellen und auch die Anteile der Regierungsarbeit der Sozialdemokratie klarer und deutlicher machen. Was haben Sie sich da überlegt? Es wird ja vom Gefüge her nicht großartig andere Bühnen geben dafür. Gibt es vielleicht Ideen, dafür andere Formate zu wählen?
Dreyer: Na ja, also, eigentlich gibt es ja auf der Bundesebene sehr viele Möglichkeiten auch deutlich zu machen, dass die Initiativen, die zur Zeit eben umgesetzt werden, SPD-Initiativen sind. Im Januar beispielsweise werden die Leute merken: Huch, ich zahle ja weniger Krankenkassenbeiträge. Das hat damit zu tun, dass die SPD umgesetzt hat, durchgesetzt hat, gegen den Willen der CDU/CSU, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Zukunft wieder gleiche Beiträge in die Krankenkasse bezahlen werden. Vieles andere mehr wird den Menschen sichtbar werden. Zum Beispiel, dass sie, wenn sie Teilzeit gearbeitet haben, auch wieder zurückkehren dürfen in die Vollzeitstelle. Oder was ich eben gesagt habe, Gute-Kita-Gesetz, Digitalpakt usw.
Wir müssen stärker lernen, immer wieder darüber zu reden und den Menschen deutlich zu machen: Wir gestalten als SPD dieses Land besser und deshalb sind wir in dieser Regierung. Und anhängig davon muss die SPD weiter daran arbeiten, dass ihr Markenkern wieder deutlicher sichtbar ist. Und das tun wir ja. Wir hatten das Debattencamp. Wir werden eine Klausur haben. Im Februar werden wir uns dann an dieser Stelle wirklich auch noch mal genau vereinbaren: Was heißt für uns Sozialstaat 2020/2025? Was bedeutet das für unseren Markenkern, dass die Menschen auch wieder wissen: Aha, ja, das ist SPD.
Wentzien: Sie sagen: Wir müssen selber mehr darüber reden. Sie meinen auch den eigenen Verein, die eigene Firma?
Dreyer: Ich meine natürlich auch die SPD. Die SPD ist ja eine sehr diskussionsfreudige Partei. Und das ist eigentlich auch ganz schön. Also, die CDU wurde ja in den letzten Wochen gefeiert, weil sie nach 18 Jahren endlich mal wieder so etwas haben wie eine demokratische Auseinandersetzung in der eigenen Partei über die Frage: Ist das eigentlich noch okay, welchen Parteivorsitz wollen wir haben, in welche Richtung will die CDU marschieren? Die SPD ist ein bisschen anders strukturiert. Wir haben immer sehr, sehr viel Diskussion.
Aber ich glaube, es wird schon wichtig sein, dass auch die Sozialdemokraten wirklich lernen, dass das, was wir tun, was wirklich große Ziele immer waren, wie jetzt die Parität oder die Rentensicherung oder der Digitalpakt, dass wir das von morgens bis abends auch den Leuten sagen und nicht uns weiter streiten, man hätte vielleicht noch mehr gekonnt oder nicht, sondern deutlich machen: Das sind echte Erfolge und es bringt ganz vielen Menschen in unserem Land Fortschritte.
"Es gibt den Willen, dass es vorangeht mit der SPD"
Wentzien: Das wäre nach 150 Jahren ja auch mal Zeit.
Dreyer: Ja, es gab auch schon Zeiten, da hat die SPD das besser gekonnt, darüber zu sprechen. Aber wir sind eigentlich gar nicht so schlecht aufgestellt. Ich merke schon, auch in der letzten Woche, als wir im Vorstand zusammen waren, dass es schon auch ein großes Unterhaken gibt, den Willen, dass es vorangeht mit der SPD. Ich bin da zuversichtlich, dass wir das auch schaffen.
Wentzien: In den nächsten 150 Jahren.
Dreyer: Ja, am besten im nächsten Jahr. Wir haben ja kurz vor Weihnachten und kurz vor dem Jahreswechsel. Und das wäre doch ein Wunsch für mich, dass wir es schaffen im nächsten Jahr, dass die SPD zu alter Stärke zurückkehrt. Und das schafft sie auch. Sie kann es schaffen.
Wentzien: Thomas Oppermann, der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, sagt, angesprochen darauf, dass sich an der Bundesspitze der CDU jetzt einiges verändert hat, damit werde kein einziges Problem der deutschen Sozialdemokratie gelöst. Sie selber, Frau Dreyer, Sie sagen: Wir müssen aus eigener Kraft zu alter Stärke finden. Es gibt einen aus der SPD, das ist Martin Schulz, der geht etwas dezidierter auf die Wahl ein bei der CDU, auf diesen, ja, Findungsprozess, den wir ja alle jetzt über viele Wochen hinaus beobachtet haben. Entscheidungen über Personen und Positionen sollten nicht mehr in Hinterzimmern fallen, sagt Schulz, sondern im offenen Wettbewerb. Hand aufs Herz, kann die SPD an dieser Stelle von der CDU etwas lernen?
Dreyer: Das wird man sehen, aus meiner Sicht. Also, ich glaube schon, dass es stimmt, dass dieses Thema, ja, plötzlicher Parteivorsitzenden-Wechsel, in einem ganz kleinen Kreis sozusagen erst mal geschaut, wer ist der Kandidat, wer ist die Kandidatin, das ist vielleicht nicht das optimale Verfahren. Aber die CDU hat einen großen Wettbewerb veranstaltet – und das ist ja erst mal etwas Positives – und hat dann die Delegiertenkonferenz darüber entscheiden lassen, wer letztlich die Wahl gewinnt. Ob am Ende die Flügel noch stärker Flügel geworden sind oder ob damit tatsächlich für die Partei auch letztendlich ein Gewinn erreicht wird, das wird sich ja wirklich erst in den nächsten Wochen und Monaten entscheiden. Ob ein solcher öffentlicher Wettbewerb, ein Ringen um die Positionen dazu führt, dass eine Partei stärker zusammenwächst, oder ob sie dann noch stärker eigentlich sich spaltet, das ist im Moment nicht zu sagen bei der CDU.
Ich kann nur sagen, was kurz nach der Wahl von AKK stattgefunden hat, dass man von Verrat gesprochen hat, dass man wirklich auch ganz schön aufgefahren ist mit starken Worten, auch Schäuble, der dann gewarnt hat, man muss jetzt aufpassen, dass die Partei nicht zerreißt, das sind ja schon Indizien dafür, dass es nicht nur gemütlich ist im Moment in der CDU. Und deshalb würde ich heute kein Urteil darüber abgeben: Ist das jetzt eine gute Sache gewesen – auch, wenn es eine interessante Sache war – oder bringt sie die Partei nach vorne oder eben nicht?
Wentzien: Wenn man sich in der Geschichte der SPD ein bisschen umschaut, gab es immer einen Kandidaten und der wurde dann auch gewählt. Zwei Ausnahmen gibt es. Das war 1995. Da rockte Oskar Lafontaine den Saal, den Parteitagsaal in Mannheim und verdrängte Rudolf Scharping. Der war eigentlich gesetzt. Und die zweite Ausnahme war im April dieses Jahres. Da hat die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange kandidiert, einen Achtungserfolg geerntet und Andrea Nahles wurde gewählt. Wenn Sie jetzt mal die Geschichte der Partei betrachten und diesen Moment so ein bisschen reflektieren und diese, ja, nicht unbedingt die Aufgaben, die jetzt anstehen, aber schon den Prozess der Findung in der CDU - kann man durch solch ein Mittel, einer Beteiligung von Delegierten, von Mitgliedern, von Parteimandatsträgern möglicherweise so einen Spirit wecken und auch einen Gemeinschaftsgeist und auch ein Interesse für Politik?
Dreyer: Also, zumindest ist es der CDU gelungen, dass in diesen Wochen wirklich ganz, ganz viele auf die CDU geschaut haben und auch sehr viel berichtet worden ist über die CDU. Ich kann mich aber auch nicht beklagen, dass wir keine Aufmerksamkeit hätten. Also, ich erinnere nur mal an diesen Riesenprozess, den wir gemacht haben, um die Frage: Wollen wir in die Große Koalition gehen oder nicht? Also, da ist ja die CDU weit, weit hinter der SPD, wenn es darum geht, basisdemokratische Elemente umzusetzen. Auch danach, die vielen Regionalkonferenzen. Jetzt mit dem Debattencamp. Wir werden ja jetzt im nächsten Jahr auch wieder in die Regionen gehen mit kleinen Debattencamps, wo wir unsere Mitglieder wirklich beteiligen an den inhaltlichen Fragen.
Und ehrlich gesagt finde ich das den springenden Punkt. Warum eigentlich eine Partei nur motivieren mitzumachen, wenn es um Personal geht? Mir geht es darum, die SPD für die Zukunft aufzustellen, und ich möchte, dass die Sozialdemokraten daran mitwirken. Und deshalb ist es wichtig, dass wir nächstes Jahr wieder stärker in die Fläche mit diesen Diskussionen gehen.
Wentzien: Mitgliederentscheide, Delegiertenwahlen klären Personal, aber eben keine grundlegenden Richtungsveränderungen. Aber möglicherweise, Frau Dreyer, braucht man in dieser ziemlich unübersichtlichen Zeit Personen, die für etwas stehen und kann dadurch Interessen und Aufmerksamkeit wecken.
Dreyer: Vielleicht, aber ich würde das nicht überbewerten. Also, wir sehen das ja in der Vergangenheit. Die CDU hat ja eine ganz andere Geschichte als die SPD hinter sich. Wenn die Bundeskanzlerin als Parteivorsitzende eigentlich alle möglichen Themen von heute auf morgen abgeräumt hat, die ursprünglich eigentlich zum Markenkern der CDU gehört haben. Ich sage jetzt nur mal: Bundeswehr beispielsweise, also die Wehrpflicht. Oder, wenn ich an das Thema Hauptschule, zweizügiges Schulsystem denke. Von heute auf morgen hat plötzlich die CDU einen vollkommen anderen Kurs gehabt. Dann finde ich das erheblich schwieriger, ohne Beteiligung der Partei solche Schritte zu gehen, die eigentlich dann nicht mehr klarmachen - nicht umsonst haben viele gesagt, die Sozialdemokratisierung der CDU – was ich ehrlich gesagt nicht so sehe. Aber nichtsdestotrotz, das hat ja damit zu tun, mit den Entscheidungsprozessen in der Partei.
Und das würde in der SPD niemals akzeptiert werden, dass man Kehrtwenden dieser Art macht, ohne zu diskutieren. Und deshalb ist es wichtig, dass wir im Moment eben diskutieren, auch, wenn viele Menschen das nicht verstehen. Aber wir werden im nächsten Jahr mit Beteiligung von ganz vielen Mitgliedern in der Lage sein zu sagen: So stellen wir uns Zukunft vor. Und das sind die sozialdemokratischen Antworten in einer Zeit, wo sich sehr, sehr viel verändert, vor allem durch die Digitalisierung. Wir versprechen dann den Menschen, dass wir als Partei der Arbeit ihnen zusichern können, dass wir sie mitnehmen in diesem Prozess, dass sie auch Jobs haben in Zukunft, dass wir darauf achten werden, dass es gute Arbeitsplätze gibt, und dass sie auch die soziale Sicherheit haben und keine Ängste haben müssen vor diesem Wandel.
"Das ist die alte SPD in der neuen Zeit"
Wentzien: Ich höre Ihnen zu und verstehe, dass, wenn es nach Ihnen geht, sollte die SPD sich sehr, sehr viel mehr um die Inhalte kümmern als um Personen und Personaldebatten. Davon hatten Sie jetzt genug.
Dreyer: Na ja, wir sind ja neu aufgestellt. Es ist bei uns noch nicht so lange her, dass wir eine neue Parteivorsitzende gewählt haben, auch einen neuen Vorstand gewählt haben. Und dieses Personal ist im Moment dafür verantwortlich, dass auch die inhaltliche Debatte und die Neuaufstellung kommt. Und ich sage das auch noch mal aus meiner Erinnerung. Nach jeder Bundestagswahl, in der wir weniger Prozente hatten als wir uns wünschten, hat jedes Mitglied in der SPD gesagt: Wir brauchen eine Neuausrichtung für die Zukunft. Wir müssen Dinge verändern. Und dann war das immer ganz schnell weg.
Und jetzt haben wir gesagt, diesmal muss es tatsächlich geschehen. Und deshalb freue ich mich auch über diesen Prozess. Er ist wirklich unglaublich inspirierend. Und nächstes Jahr, hoffe ich, dass wir so weit sind, dass die Bürger und Bürgerinnen wissen: Genau, das ist die alte SPD in der neuen Zeit. Bis heute denken wir an morgen. Und das definieren wir dann auch ganz genau: Was heißt soziale Gerechtigkeit? Und wir werden das so tun, dass die Menschen auch sagen: Okay, das probieren wir jetzt auch wieder aus und wir wollen Vertrauen. Denn es kann natürlich kein Zustand bleiben, dass wir bei 14, 15 Prozent sind als SPD. Das ist unmöglich und das wollen wir unbedingt ändern.
Wentzien: Sind Volksparteien ein Auslaufmodell? Annegret Kramp-Karrenbauer sagt, die CDU sei das letzte Einhorn, die letzte Volkspartei.
Dreyer: Ja, das … also, ich werde natürlich niemals akzeptieren, dass, auch wenn das schön gesagt ist von ihr, ja, dass es in der Definition eine Volkspartei gibt. Selbstverständlich ist die SPD eine Volkspartei. Warum? Weil sie nicht nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen arbeitet, sondern die gesellschaftlichen Fragen insgesamt versucht zu beantworten und tatsächlich die Probleme der Gesamtgesellschaft aufzugreifen. Das ist ein großer Unterschied zu den kleineren Parteien, auch, wenn sie prozentual gut dastehen zurzeit, die aber nur eine bestimmte Klientel im Kopf haben oder ein bestimmtes Thema im Kopf hat.
Wir sind Volkspartei, weil wir unterschiedlichste Themen unserer Gesellschaft beantworten und aufgreifen. Und deshalb muss der nächste Schritt sein, wenn wir diese Klarheit haben, auch das Vertrauen der Menschen wieder zu gewinnen und damit auch eine Kontinuität in unseren Antworten zu haben, dass die Leute sagen: Ja, da erkennen wir die SPD und deshalb wählen wir sie auch wieder.
Wentzien: Frau Dreyer, wir sprechen bitte auch über den aktuellen Aufstand – so nenne ich ihn mal, Sie können gleich alles wieder hinfort werfen – der Bundesländer gegen den Bund. Es steht 16:1. Es geht um versprochene Bundesgelder für Tablets und Notebooks für Schülerinnen und Schüler. Der Bund will fünf Milliarden Euro geben und die Länder sagen: So nicht! Warum?
Dreyer: Ja, das ist natürlich kein Aufstand, sondern wir leben ja in einem föderalen Deutschland und das ist gut so. Und deshalb gibt es die Möglichkeit, dass ein Vermittlungsausschuss angerufen wird, wenn man nicht einverstanden ist mit dem, was vorgelegt wird. Wir sind nicht einverstanden, weil dieses Paket ein anderes ist als das, womit wir uns zum ersten Mal befasst haben im Bundesrat und das auch abgesprochen war mit dem Bund. Was ist anders? Wir wollen als SPD und die Bundesländer insgesamt unbedingt den Digitalpakt. Wir finden es richtig, dass bei einem so enormen Wandel in der Gesellschaft der Bund auch die Länder und die Kommunen unterstützt bei der Ausstattung der Schulen.
Wir möchten aber nicht, dass damit verbunden wird ein ganz anderer Artikel im Grundgesetz, der für alle Finanzhilfen der Zukunft – also nicht nur für Schule, sondern für alle – eine neue Kostenaufteilung vorsieht und das in der Verfassung festschreibt. Das halten wir für nicht zielführend. Und wir halten es auch für übergriffig. Ich sage mal ein Beispiel. Wenn wir heute wieder in einer Notsituation wären, beispielsweise Flut, dann wäre in der Verfassung geregelt, dass ein Bundesprogramm, was helfen soll, eine solche nationale Katastrophe auch zu bewältigen, dass das nur geht, wenn die betroffenen Bundesländer genauso 50 Prozent bezahlen. Das ist aber manchmal nicht machbar und nicht möglich. Der Bund hat ja die Möglichkeit, seine Programme selbst zu stricken, sich mit uns zu verständigen, dann auch festzulegen: Was sind die Prozentzahlen? Wer fördert was und wie viel? Und das hat in der Vergangenheit funktioniert und es gibt keinen Grund, das in die Verfassung zu stellen.
Wentzien: Also, Sie sagen, die Digitalpakt-Gelder müssen fließen, aber diese grundsätzliche Geschichte, die jetzt reingerutscht ist quasi, nämlich, dass alle Aufgaben oder viele Aufgaben danach dann auch hälftig, hälftig von Bund und Ländern finanziert werden sollen und müssen, das gehe einfach nicht?
Dreyer: Nein, das geht nicht. Das hat auch nichts mit dem Digitalpakt zu tun. Und ich sage das auch noch mal sehr deutlich an die Zuhörer und Zuhörerinnen. An den Bundesländern liegt es nicht, die Verabredung der Vergangenheit zum Digitalpakt umzusetzen und zwar schnell. Aber es geht nicht, dass daran gekoppelt ist ein ganz anderes Thema, was wirklich gar nichts mit dem Digitalpakt zu tun hat. Und deshalb rufen wir den Vermittlungsausschuss an. Wir sind auch bereit, sehr, sehr schnell dort zu agieren und hoffentlich auch schnell zu Lösungen zu kommen, weil wir eigentlich schon zwei Jahre auf die fünf Milliarden für die digitale Ausstattung warten. Schon Frau Wanka als Bundesbildungsministerin hatte uns diese fünf Milliarden versprochen. Und ich finde, in einer Lage der Digitalisierung ist auch nötig, dass alle an einem Strang ziehen.
Wentzien: Das Ganze hat ja eine Vorgeschichte. Dieses Kooperationsverbot, um das es jetzt geht, wurde 2006 quasi aufgestellt bei der Föderalismusreform I – hieß, glaube ich, diese Wuchtbrumme damals: Neue Finanzordnungen zwischen Bund und Ländern, damit die Verantwortlichkeiten klar sind. Damals haben das auch SPD und Union auf die Beine gestellt. Das war auch eine Große Koalition. Die hat ziemlich großartig damals diesen Erfolg ja auch gefeiert. Haben Sie sich damals geirrt oder ist es jetzt richtig? Wo geht die Reise hin, Frau Dreyer?
Dreyer: Also, wir haben begonnen in Rheinland-Pfalz mit einem großen, großen rot-grünen Programm zu den Ganztagsschulen. Damals hat die rot-grüne Regierung, Bundesregierung gesagt: Wir möchten gerne die Bundesländer unterstützen im Ausbau von Ganztagsschulen. Das war der Start auch in Rheinland-Pfalz, was die großen Ausbautätigkeiten betraf. Und das war richtig und das war gut. Damals war das Grundgesetz noch so gestrickt, dass das möglich war, für einen bestimmten Bereich Geld zu geben, wenn ein gesellschaftlicher Wandel es erfordert. Und dafür bin ich auch heute noch. Ich finde das richtig.
Natürlich wollen wir kein Bundesbildungsministerium in dem Sinne, dass Bildungsinhalte in Details vorgeschrieben werden und, und, und. Das ist natürlich die Hoheitskompetenz der Bundesländer. Aber, dass bei großen Fragen – Inklusion, Ganztagsschule, Digitalisierung – der Bund in der Lage ist, die Länder und die Kommunen auch zu unterstützen, das muss doch selbstverständlich sein. Und diese Änderung im Grundgesetz finde ich richtig. Und deshalb steht die SPD auch ganz klar zu dieser Änderung.
Wentzien: Was sagen Sie den Schülerinnen und Schülern, die warten?
Dreyer: Den Schülerinnen und Schülern sage ich, dass wir als Land weiter investieren mit ganz, ganz viel Geld. Wir machen da auch wirklich sehr viel. Und wir erklären ihnen die Demokratie in der föderalen Aufteilung in unserem Land, Bundesland, auch die Vorteile davon und sagen: Wir werden uns anstrengen, dass wir gemeinsam am Strang ziehen, sodass wir am Ende sagen können: Im Frühjahr wird es dann auch echt so weit sein.
Wentzien: Das haben wir jetzt gut gehört und sagen herzlichen Dank.
Dreyer: Ich danke.