Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Saal voller Ballettschülerinnen und –schüler. Sie sind jung, begabt, ehrgeizig, gewillt, ihr Leben und ihre ganze Kraft dem klassischen Tanz zu widmen. Die Pädagogin, die das Training leitet, fordert zur Disziplin auf, zu der richtigen Armhaltung, zu immer höher gestreckten Beinen. Aber nicht nur das: sie schreit die Kinder und Jugendlichen an, sie spuckt, sie reißt Einzelne an den Haaren, tritt gegen die Knöchel, während ihre Schülerinnen auf der Spitze stehen. In anderen Klassen werden die Auszubildenden mit Namen und Konfektionsgröße angesprochen – jeder soll wissen, ob sich der heranwachsende Körper im gewünschten Normbereich befindet und einigen wird geraten, mit dem Rauchen anzufangen, um das Gewicht zu halten. Das ist keine Szene aus dem Leben eines russischen Balletttänzers aus dem 19. Jahrhundert, sondern die Realität an der Ballettakademie in Wien.
Erschütternde Zustände
Die erst von der inzwischen zur österreichischen Bundeskanzlerin ernannten Brigitte Bierlein und anschließend von Susanne Reindl-Krauskopf geleitete Sonderkommission hat nun ihren Abschlussbericht präsentiert und darin erschütternde Zustände offenbart. So sei der Kinderschutz in der Ballettakademie ‚grob missachtet’ worden, die Kinder hätten Diskriminierungen, Vernachlässigungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen erfahren. Noch recht diplomatisch attestiert der Bericht einigen Ballettpädagoginnen und –pädagogen eine ‚unterentwickelte Kommunikationsstruktur’ – Bodyshaming, also abwertende Bemerkungen über die Körper der Kinder sind offensichtlich keine Einzelfälle gewesen.
Zwar betont die Sonderkommission, dass es an der Ballettakademie auch zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer gäbe, die wertschätzend mit den Auszubildenden umgingen. Aber zugleich analysiert sie ein weitgespanntes Netz an Fehlern und Fehleinschätzungen: die gesundheitliche Betreuung sei ‚mangelhaft’, die medizinisch-therapeutische Versorgung ‚unzulänglich’. Weder gebe es eine auf die Bedürfnisse von Balletttänzern abgestimmte Ernährung, noch eine kontinuierliche Begleitung durch Ernährungsberater, Psychologen und Physiotherapeuten.
Darüber hinaus würde die ‚Gesamtbelastung, die sich aus Training, Proben, Auftritten, Wettbewerben und dem Schulbesuch ergibt’, unzureichend kontrolliert. Das heißt: die Kinder sind oft vollkommen überfordert und übermüdet. Der Bericht der Sonderkommission bringt es auf den Punkt: Insgesamt hätte an der Akademie das Bewusstsein gefehlt, dass sie als Institution für die Gesundheit der Kinder im hohen Maße verantwortlich ist – was sich dann als besonders problematisch erweist, wenn, wie in Wien, 80 Prozent der Auszubildenden aus dem Ausland kommen und keine familiären Ansprechpartner in der Nähe haben.
Intransparente Führung und mangelnde Kontrolle
Die Ursache allen Übels liegt, laut Sonderkommission, bei der Führungsebene, die intransparent, nicht-partizipativ und ohne klare Verteilung von Verantwortungsbereichen funktioniere. Sowohl der künstlerische Leiter, namentlich Manuel Legris, der auch als Chef des Staatsopernballetts fungiert, als auch die Direktorin der Akademie haben sich ganz offensichtlich nicht ausreichend um Kontrolle bemüht, geschweige denn verstanden, warum seit Jahrzehnten in allen Arten von Ausbildungsinstitutionen Qualitätskontrollen, nachvollziehbare Prüfungskriterien und schriftliche Dokumentationen gefordert werden.
Das sind – zweifellos – untragbare Zustände. Man möchte fast so weit gehen, das ganze klassische Ballett so lange zu boykottieren, bis alle Kaderschmieden auf Kindeswohl und menschenwürdigen Umgang überprüft sind.
Denn zur nächsten Spielzeit gibt es an der Wiener Staatsoper den großen Führungswechsel. Martin Schläpfer wird dann als Direktor des Staatsopernballetts auch der Akademie vorstehen – und hoffentlich, sicherlich alles anders machen.