Als 1997 die Arbeitslosigkeit in Deutschland einen ersten Höhepunkt erreichte und gleichzeitig der neo-liberale Umbau der Gesellschaft im Gang war, da taten sich die beiden großen Kirchen in Deutschland zusammen und formulierten ein gemeinsames Sozialwort. Dabei ging es den Kirchen unter anderem um gerechte Arbeitsbedingungen. In dem Dokument bekennen sich die Kirchen zur Betriebs- und Unternehmensverfassung einschließlich der Mitbestimmung der Arbeitnehmer und zum System der Tarifautonomie. Und damit kein Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkommt, formulieren sie:
"Die Kirchen können nicht Maßstäbe des wirtschaftlichen Handelns formulieren und öffentlich vertreten, ohne sie auch an sich selbst und das eigene wirtschaftliche Handeln anzulegen. Mit Recht wird dies als eine Frage der Glaubwürdigkeit angesehen."
Die Glaubwürdigkeit der Kirchen als Arbeitgeber allerdings ist in den vergangenen Jahren schwer erschüttert worden. Vor allem im Bereich der evangelischen Diakonie sind zahlreiche Fälle bekannt geworden, in denen Beschäftigte in Tochterfirmen ausgegliedert wurden, um sie schlechter bezahlen zu können. Oder sie wurden in niedrigere Gehaltsgruppen eingruppiert. In anderen Branchen hätten sich die Mitarbeiter durch gewerkschaftlich organisierte Streiks wehren können.
Nicht aber in den Kirchen. Denn hier gilt ein besonderes Arbeitsrecht, das in der Regel weder Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern noch das Streikrecht kennt. Die Kirchen nennen ihr System zur Lohnfindung den "Dritten Weg". Demnach ist der "Erste Weg" die Beamtenbesoldung ohne jegliche Mitbestimmung und der "Zweite Weg" die klassischen Tarifverhandlungen in der freien Wirtschaft. Der "Dritte Weg" der Kirchen versteht dagegen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als eine Dienstgemeinschaft. Der Staatsrechtler Claus Dieter Classen von der Universität Greifswald:
"Dieser Begriff bedeutet, dass eben der Einzelne, der im kirchlichen Dienst tätig ist, in einer besonderen Rolle tätig ist. Er übt eben in Gemeinschaft auch mit anderen Dienst nicht nur für seinen Arbeitgeber, sondern er leistet eben auch einen Dienst für Gott. Und weil eben alle Arbeitnehmer in dieser Gemeinschaft verbunden sind, deswegen gibt es eben diesen Begriff der Dienstgemeinschaft, der dann eben auch manche Besonderheiten legitimiert."
Der Dritte Weg ist eine Konsequenz aus zwei deutschen Diktaturen
Interessant dabei ist, dass es diesen Sonderweg der Kirchen in den meisten anderen Ländern nicht gibt. Auch in der Weimarer Republik unterlagen die Kirchen dem ganz normalen Arbeitsrecht. Der Dritte Weg ist eine Konsequenz aus zwei deutschen Diktaturen. Traugott Jähnichen ist Professor für evangelische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum und beschäftigt sich als Sozialethiker seit langem mit dem kirchlichen Arbeitsrecht.
"Man hat in der NS-Zeit eben einen massiven Druck gerade auf diakonische Einrichtungen erlebt und was man dann parallel sehen muss, ist, dass in der SBZ - also in der späteren DDR - dann versucht wurde, über Betriebsratswahlen und über die dortige Gewerkschaft, die dann schon sehr staatsdominiert war, auch in kirchliche Bereiche hinein zu regieren. Und das war historisch gesehen der Startpunkt, wo man gemerkt hat, hier müssen wir uns gegenüber einem totalitären Staat abgrenzen und die eigene Autonomie vertreten."
Aus dieser Erfahrung haben die Kirchen in der Gründungsphase der Bundesrepublik darauf gepocht, dass das grundgesetzlich garantierte Recht der Kirchen auf Selbstorganisation ihrer Angelegenheiten auch im Bereich des Arbeitsrechtes gilt. Das Betriebsverfassungsgesetz nimmt Religionsgemeinschaften deshalb ausdrücklich aus. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Beschäftigten der Kirchen keine Mitbestimmungsrechte hätten. Die Kirchen haben eigene Mitarbeitervertretungsgesetze. Tarife werden von paritätisch besetzten Kommissionen aus Dienstgebern und Dienstnehmern ausgehandelt. Karl Jüsten ist Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz beim Bund. Er verteidigt diesen Weg.
"In dem Verfahren müssen sich die Arbeitgeber mit den Arbeitnehmern zusammensetzen und so lange zusammenbleiben, bis sie eine Gehaltsordnung gefunden haben. Das ist ein sehr starkes System. Ich behaupte sogar, dass es dem anderen in bestimmter Weise überlegen ist. Also, das Verfahren kommt schon zu sehr gerechten Ergebnissen."
Gewerkschafter fordern Ende des Dritten Weges
Tatsächlich sind die Beschäftigten der Kirchen jahrzehntelang mit dem Dritten Weg gut gefahren. Doch vor allem die Diakonie hat in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, die Löhne zu drücken. Für den Dachverband Diakonie Deutschland ist das schwer zu kontrollieren. Jede Landeskirche hat ihr eigenes Diakonisches Werk. Und innerhalb dieser Diakonischen Werke ist jede Einrichtung wieder eine eigenständige Institution. Zwar haben die Diakonischen Werke jeweils für ihren Bereich eigene arbeitsrechtliche Grundsätze verabschiedet. Einige Werke haben ihren Einrichtungen aber erlaubt, auch arbeitsrechtliche Grundsätze anderer Landeskirchen anzuwenden. So konnten zum Beispiel westdeutsche diakonische Einrichtungen die niedrigeren Gehälter eines ostdeutschen Diakonischen Werkes zahlen.
Das wollte die Gewerkschaft Verdi irgendwann nicht mehr akzeptieren und klagte vor dem Bundesarbeitsgericht. Ein Ende des Dritten Weges: darum ging es den Gewerkschaftern. Den Gefallen haben die Richter ihnen allerdings nicht getan. Kerstin Griese ist Kirchenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion und gleichzeitig Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales.
"Das ist ja ein sehr weises Urteil vom November 2012, in dem das Bundesarbeitsgericht den Kirchen quasi drei Hausaufgaben aufgegeben hat, nämlich, erstens, sie müssen sich an die ausgehandelten Verträge auch wirklich halten und keine Umgehungsmöglichkeiten suchen. Zweitens, sie müssen die Gewerkschaften angemessen beteiligen und drittens, sie brauchen eine unabhängige Schlichtung. Und ich erlebe schon, dass in beiden großen Kirchen - in der Evangelischen und in der Katholischen Kirche - man überall jetzt dran ist, diese Forderungen umzusetzen."
Die Richter haben nämlich auch entschieden: Solange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, dürfen Gewerkschaften zu Streiks in kirchlichen Betrieben aufrufen. Arbeitskämpfe aber wollen die Kirchen unbedingt vermeiden. Martin Dutzmann, Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland beim Bund:
"Selbstverständlich haben Arbeitnehmer und Arbeitgeber vielfach unterschiedliche Interessen. Deswegen gibt es die arbeitsrechtlichen Kommissionen. Und da haben wir gesagt, da möchten wir auf die Ultima Ratio Streik an dieser Stelle verzichten. Wir sind der Meinung, dass dieses Gegeneinander von Streik und Aussperrung, dass dieses nicht zu den Formen gehört, die dem Gegenstand unserer Verkündigung entsprechen."
An dieser Haltung entzündet sich Widerspruch. Die Gewerkschaft Verdi will die grundsätzliche Bestätigung des Streikverbots durch das Bundesarbeitsgericht nicht akzeptieren. Die Bestimmungen zur Beteiligung der Gewerkschaften, die die Kirchen nach der Urteilsverkündung geschaffen haben, sind Verdi außerdem zu vage. Deshalb hat die Gewerkschaft vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingelegt. Ein Urteil steht noch aus.
Der Theologe Traugott Jähnichen ruft die Kirchen dazu auf, die Kritik ernst zu nehmen. Andernfalls machten sie sich unglaubwürdig. Und er macht darauf aufmerksam, dass es auf dem Gebiet der ehemaligen nordelbischen Landeskirche bereits seit Jahrzehnten Tarifverträge mit den Gewerkschaften gibt. Die Diakonie in Niedersachsen ist diesem Beispiel nun gefolgt. Insofern sei das Argument der Kirchenleitungen falsch, wenn sie den Dritten Weg als theologisch einzig mögliche Variante darstellten, ihrem Verkündigungsauftrag gerecht zu werden.
"Ich würde den Dritten Weg jetzt nicht als den einzigen, den besten in den Mittelpunkt stellen, aber er ist durchaus zukunftsfähig, wenn er sich anpasst. Daneben gibt es den Zweiten Weg und wird es vielleicht sogar noch weitere Zweite Wege oder Mischformen geben und dann entsteht idealerweise ein Wettbewerb, wie dieser Bereich am besten zu gestalten ist, und das kann man zumindest theologisch, glaube ich, ganz gelassen abwarten."
Katholische Kirche will Praxis mit wiederverheirateten Geschiedenen ändern
Die Katholische Kirche hat noch an einer zweiten Front ihres Arbeitsrechtes zu kämpfen: den umfangreichen Loyalitätspflichten ihrer Beschäftigten. Regelmäßig stößt die Katholische Kirche auf harsche Kritik, wenn sie einer Kindergartenleiterin oder einem Arzt kündigt, weil deren Privatleben den katholischen Moralvorstellungen widerspricht. Das geschieht wohl gemerkt in Einrichtungen, die oftmals vollständig von der öffentlichen Hand finanziert werden. Rein rechtlich betrachtet ist das allerdings kein Grund, der Kirche diese Praxis zu verbieten, so der Staatsrechtler Klaus Dieter Classen:
"Der Staat finanziert ja nicht speziell die Kirchen, sondern er finanziert bestimmte freie Träger, die bestimmte soziale Aufgaben erfüllen. Und trotzdem ist er eben als freiheitlicher Staat natürlich gehalten, das Selbstverständnis der verschiedenen Träger mit zu berücksichtigen. Dann ist es doch auch konsequent, dass der Staat sagt, ok, dann finanziere ich auch den kirchlichen Kindergarten, selbst wenn der nach bestimmten anderen Regeln funktioniert als andere Kindergärten."
Diese Rechtsauffassung ist auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jüngst bestätigt worden. Allerdings verlangen die Richter eine gründliche Abwägung des Einzelfalls. In Zukunft haben die individuellen Rechte eines Mitarbeiters also größeres Gewicht gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Zumindest was die wiederverheirateten Geschiedenen angeht, will die Katholische Kirche noch in diesem Jahr ihre Praxis ändern, verspricht Karl Jüsten, der Beauftragte der Bischofskonferenz:
"Das wird reformiert, sodass also möglicherweise künftig da etwas Druck genommen wird, dass wir das nur noch auf einen Personenkreis begrenzen, der zur Führung der Kirche gehört."
Ob das den Kritikern reicht, ist allerdings zweifelhaft.