Drogen und häusliche Gewalt

Die Probleme hinter der Postkartenfassade auf Boipeba ähneln denen einer Großstadt: Auch hier gibt es Drogenmissbrauch, auch hier wird die Polizei zu handgreiflichen ehelichen Streitigkeiten gerufen. Unser Blogteam war einen Tag lang unterwegs mit der Inselstreife.

Von Jörg-Christian Schillmöller mit Fotos von Dirk Gebhardt |
    Nach knapp einem Kilometer hat Washington keinen Sprit mehr. Seine Yamaha XTC 125 leuchtet weiß-blau in der Nachmittagssonne - erst gestern sind zwei neue Maschinen für die Inselpolizei mit dem Schiff eingetroffen. Aber wie das bei fabrikneuen Motorrädern so ist: Im Tank war kaum Treibstoff.

    Kein Problem. Washington funkt seinen Kollegen Filho an. Der fährt zurück zur Wache und holt in einer 1,5-Liter-Plastikflasche etwas Sprit. Washington nutzt die Wartezeit, um zu Fuß eine Runde von Haus zu Haus zu drehen.

    Ein Küsschen hier, ein "Oba!" dort (das ist der Inselgruß, der entfernt an das spanische "Hola" erinnert): Washington grüßt alle, er drückt Kinder, nimmt Frauen in den Arm. Der Kontakt zur Bevölkerung ist uns wichtig, sagt er, und es wirkt authentisch. Später auf der Rundfahrt wird er fast pausenlos rufen, winken - und hupen.
    Sicherheit auf dem Archipel: Die Lage ist von Insel zu Insel unterschiedlich. Im touristischen Morro de São Paulo auf der Hauptinsel Tinharé hat die Polizei viel mehr mit Drogen und Kriminalität zu tun als auf Boipeba: Hier ist es ruhiger, zumindest jetzt im Winter. Und die Touristen sind viel älter als das Party-Publikum auf Tinharé.



    Vor der Fahrt mit dem Cross-Motorrad treffen wir auf der kleinen Wache mit einer kleinen Zelle den Kommandanten Gilbert. Er ist für das Interview mit dem Boot aus Valença gekommen (und redet offen über die Probleme dort: "Die Stadt erlebt eine kritische Phase, wir stehen auf Platz 29 der Mordrate in Brasilien").

    Dass der Kommandant eigens nach Boipeba kommt, hat damit zu tun, dass die Polizei um ihren Ruf in Brasilien besorgt ist - nicht zuletzt wegen des harten Durchgreifens bei den Massenprotesten im Juni. Mehrfach haben wir in den Vorgesprächen gehört, dass es "viele einseitige Presseberichte" gegeben habe.

    Der Kommandant sagt uns, dass er Verständnis habe für die Proteste - und für friedliche Demonstrationen: "Auch wir sind müde von den Versprechungen der Politik und von der Korruption. Aber wenn es zu Gewalt kommt, dann müssen wir eingreifen: Wir sind nun einmal der starke Arm der Regierung."
    Polizei auf dem Archipel Tinharé, das heißt: Militärpolizei. Die Polizisten sind Soldaten. Die kleine Wache am Hafen von Boipeba ist rund um die Uhr mit zwei Mann besetzt, die alle zwei Tage wechseln. Die meisten Polizisten kommen aus Valença wie Kommandant Gilbert und haben dort ihre Familien. "Niemand wird gezwungen, Dienst auf den Inseln zu tun", betont Gilbert. "Wir setzen auf Freiwilligkeit".

    Die Arbeit auf Boipeba ist geprägt von der Geografie: Bei einem Notruf aus dem Fischerdorf Cova da Onça dauerte es früher eine halbe Ewigkeit, bis die Polizei dort war - manchmal ging das nur mit einem Traktor. Danach durften die Polizisten den Jeep der Gesundheitsstation mitbenutzen - und seit einem Jahr haben sie nun Cross-Motorräder, gemeinsam angeschafft von Kommune und Polizei. Nach Cova da Onça dauert die Fahrt heute eine halbe Stunde.



    Die Probleme auf Boipeba: Drogen und häusliche Gewalt. Neben dem Alkohol konsumieren viele Menschen Kokain und Marihuana. Immer wieder kommt es nach Auskunft der Polizisten vor, dass ein betrunkener Ehemann zu Hause handgreiflich wird. Zwar gibt es heute ein Gesetz, das jeder in Brasilien unter dem Namen "Maria da Penha" kennt. Das Gesetz räumt den Betroffenen umfassende Rechte ein: Es erlaubt Festnahmen und hat in vielen Städten dazu geführt, dass Frauen selbstbewusster auftreten.

    Auf Boipeba sei das anders, sagt Kommandant Gilbert: "Die Gesellschaft ist noch ziemlich traditionell hier." Das heißt: Der Mann verdient das Geld, die Frau bleibt zu Hause - und ist finanziell abhängig. Nach einer Misshandlung trauen sich darum viele nicht, den Gatten anzuzeigen.

    Die Motorrad-Streife mit den Polizisten Washington Luiz Souza da Oliveira und Reginaldo de Jesus Filho beginnt um 16 Uhr und mutet an wie eine touristische Insel-Rundfahrt. Wir sitzen hinten auf den beiden Cross-Motorrädern und fahren alle Straßen ab. Ribeirinho, Matança, Tiririca, Areal: die Viertel des Dorfes tragen Namen (und besitzen eigene Fußballmannschaften).

    An der katholischen Kirche auf dem Hügel ein Zwischenstopp. Der Blick auf den Archipel ist spektakulär: Meer, Fluss, Strände, Palmen und Regenwald glitzern bis zum Horizont. "Früher war hier ein Treffpunkt von Drogenkonsumenten", sagt Washington. "Aber seit hier neben der Kirche eine Bar aufgemacht hat, ist es ruhig. Wir kennen die Orte, wo Drogen konsumiert werden."

    Auf der Insel hört man, dass Washington seinen Job ernst nimmt - und dass er versucht, gerade beim Thema Drogen durchzugreifen. Über andere Polizisten ist zu hören, dass sie schon mal ein Auge zudrücken. Überprüfen lassen sich solche Aussagen kaum.

    Eine knappe Stunde dauert die Rundfahrt durchs Dorf. Wir kommen durch wohlhabendere Viertel, durch ärmere Viertel. Ein Betrunkener schwankt mit einem Plastikbecher Bier in der Hand an uns vorbei, und nicht alle Menschen am Straßenrand vor den Häusern erwidern den Gruß der Polizisten.

    Trotzdem bleibt der Eindruck: Washington und Reginaldo versuchen, sich als Soldaten "in die Gesellschaft zu integrieren", wie Washington es nennt. Doch dass zwei Polizisten auf einer Insel von sechs mal zwölf Kilometern Größe kaum alles mitbekommen können (etwa beim Thema Drogen), ist offensichtlich.

    Ein Detail zum Schluss: Es gibt zwar eine Militärpolizei, aber keine Feuerwehr auf Boipeba. Was tun bei einem Brand? "Dann machen wir es nach dem jeitinho brasileiro", meint Washington. "Wir improvisieren eben, und ich bin sicher, dass uns die Bürger helfen würden."

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    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.
    Karte von Boipeba