Frankreich
Marseille – Eine Stadt im Griff der Drogen

Marseille ist eine Hochburg des Drogenhandels. Die Rauschgiftbanden rekrutieren inzwischen sogar Teenager, die für sie dealen und töten. Wie konnte es so weit kommen? Was tun Polizei und Justiz?

    Silhouette eines Mannes im Kapuzenpullover, der den Sonnenuntergang über dem Vieux-Port in Marseille betrachtet.
    Drogenkartelle in Marseille rekrutieren häufig Jugendliche. (AFP / Nicolas Tucat)
    Viel Armut, viel Reichtum und nicht zuletzt ein Hafen. Die Geschichte Marseilles als Drogenhochburg ist auch eine Geschichte der Gegensätze. Ein neues Gesetz soll der Stadt in Südfrankreich helfen, ihr größtes Problem in den Griff zu bekommen. Kann das funktionieren?

    Inhalt

    Wie ist die Situation in Marseille?

    „Es ist Krieg.“

    So drastisch benennt es zumindest Nicolas Bessone, Staatsanwalt in Marseille. Er sieht die Hafenstadt am Mittelmeer als das „Epizentrum der Drogenkriminalität auf französischem Boden.“
    Auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache:
    Allein im Jahr 2023 starben in Marseille 49 Menschen bei Vergeltungsakten, die mit Drogenkriminalität im Zusammenhang stehen. Oft handelte es sich um Bandenmitglieder, die einen Umschlagplatz verteidigen oder erobern wollten.

    Wir haben 15-Jährige, die sterben und 15-Jährige, die Mörder sind. Das ist neu.

    Lokalpolitiker Hassen Hammou
    Was in Marseille beobachtet werden kann: Die Gewalt wird krasser – und die Täter jünger. Ein Beispiel: Im Oktober 2024 fuhr ein Chauffeur eines Limousinenservices einen Teenager durch die Stadt. Der 14-Jährige telefonierte dabei mit seinem Auftraggeber, einem im Gefängnis sitzenden Drogenhändler. Als dem Chauffeur klar wurde, dass sein Fahrgast einen Auftragsmord begehen sollte, hielt er das Auto an. Daraufhin erschoss der 14-Jährige den Fahrer.
    Verbrechen habe es in Marseille schon immer gegeben, sagt Lokalpolitiker Hassen Hammou, doch was gerade passiere, habe eine andere Qualität: „Wir haben 15-Jährige, die sterben und 15-Jährige, die Mörder sind. Das ist neu.“
    Insbesondere die Viertel im Norden Marseilles, die immer noch nah am Stadtkern liegen, werden vom Drogenhandel bestimmt. Die beliebtesten Rauschmittel dort:  Cannabis und Kokain.

    Warum hat sich Marseille zu einer Hochburg des Drogenhandels entwickelt?

    Schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte sich in Marseille ein Drogenschmugglerring etablieren, der hochwertiges Heroin in die USA exportierte: die sogenannte „French Connection“ – verewigt im gleichnamigen Kinofilm.
    Die Mittelmeerstadt sei vor allem aus einem Grund fest in den Griff des Drogenhandels gelangt, sagt der Publizist Philippe Pujol: „Es gibt eine riesige soziale Ungleichheit auf der einen und eine globalisierte Wirtschaft auf der anderen Seite, die ihren Weg durch den Hafen nach Marseille findet."
    Laut nationaler Statistikbehörde INSEE lebt jeder vierte Einwohner Marseilles unterhalb der Armutsgrenze, also gut 200.000 Personen.
    Dort findet man die Armen allerdings nicht am Stadtrand – wie in den Banlieues von Paris oder anderen französischen Großstädten. Es ist das Zentrum, in dem die Fassaden der Häuser bröckeln, manche gar einstürzen. 2018 starben acht Menschen, als zwei Gebäude nahe des Alten Hafens zusammenbrachen.
    Zugleich ist Marseille aber auch die Stadt mit den meisten „Gated Communities“ in ganz Frankreich: abgeschottete bewachte Wohnanlagen für Gutverdiener. Ungefähr 1.900 sind es inzwischen.

    Fehlende Perspektiven locken in den Drogenhandel

    Für die Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, gebe es kaum Möglichkeiten, aufzusteigen, sagt der Lokalpolitiker Hassen Hammou. Die einzige Perspektive für Geld und Anerkennung liege für viele – hauptsächlich männliche – Heranwachsende darin, Drogendealer zu werden, erklärt der Grünen-Vorsitzende in der Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur.
    Die jungen Menschen, die von Drogenhändlern rekrutiert würden, seien nicht nur Täter, sondern auch Opfer, betont Staatsanwalt Nicolas Bessone:
    "Es sind Jugendliche, die meist früh die Schule verlassen, wenig gebildet sind, die wenig über die Republik und den Wert des Lebens wissen, die häufig in ein Heim eingewiesen wurden, denen Gewalt angetan wurde. Sie sind ein gefundenes Fressen für diese kriminellen Banden.“

    Wie reagieren Polizei, Justiz und Politik?

    Bald will das französische Parlament ein neues Gesetz verabschieden, mit dem der Drogenhandel bekämpft werden soll – nicht zuletzt der in Marseille.
    Geplant sind unter anderem mehr Justizmitarbeiter, ein Gerichtshof, der auf Drogenverbrechen spezialisiert ist und ein angepasstes Strafvollzugssystem. Beispielsweise sollen Drogenhändler im Gefängnis isoliert werden. Bei jedem Kontakt mit einer externen Person soll anschließend eine Leibesvisitation durchgeführt werden. Und: Wer Minderjährige über Social-Media-Plattformen anwirbt, damit diese Drogendealer werden, dem sollen in Zukunft bis zu sieben Jahre Gefängnis und 150.000 Euro Strafe drohen.
    Außerdem soll eine nationale Staatsanwaltschaft geschaffen werden, die auf die Organisierte Kriminalität spezialisiert ist.
    Frankreichs Regierung kennt die Zustände in Marseille natürlich schon lange. Staatspräsident Emmanuel Macron hat die Stadt immer wieder besucht. Schon 2021 kündigte er an, zu handeln – mit einem Investitionsplan. Der Name: „Marseille en Grand“ – „Marseille ganz groß“. Ausstattung: fünf Milliarden Euro. Schulen, Wirtschaft und öffentlicher Personennahverkehr sollten ausgebaut werden.
    Doch nur ein Bruchteil des versprochenen Geldes kam vor Ort in Marseille an. Paris schiebt die Verantwortung dafür der Stadtregierung zu. Diese rufe die Mittel nicht ab und lehne beispielsweise Videoüberwachung ab. Der sozialistische Bürgermeister zeigt mit dem Finger auf die französische Regierung, die Versprechen nicht einhalte. Das Geld sei versprochen, fließe aber nicht.
    Auch schon vor Verabschiedung des neuen Gesetzes wurden und werden in Marseille mehr Polizistinnen und Polizisten auf die Straße geschickt und Staatsanwaltschaften verstärkt. Beides hat dazu geführt, dass die Morde im Drogenmilieu leicht zurückgegangen sind.
    Zugleich hat aber die Zahl der Ermittler abgenommen – mit spürbaren Folgen. Allein in Marseille stauten sich derzeit 120.000 Verfahren, sagt Staatsanwalt Nicolas Bessone. Viele Dealer werden deshalb vorübergehend auf freien Fuß gesetzt – obwohl sie zuvor festgenommen worden waren.
    Journalist Jean-Marie Magro hat intensiv zur Drogenkriminalität in Marseille und ihren Ursachen recherchiert. Mit Blick auf das neue Gesetz und die zahlreichen Maßnahmen ist er der Ansicht: „Das löst eben kein einziges soziales Problem in Marseille selbst.“

    Mit Recherchen von Jean-Marie Magro, jma