Organisierte Kriminalität
Der lange Arm der Kokainmafia in Europa

Das illegale Geschäft mit Drogen, allen voran Kokain, ist einträglich: Europa gilt dabei als Schmuggelparadies. International vernetzte Drogenkartelle wickeln ihre Geschäfte zunehmend hier ab und bekämpften sich auch gegenseitig.

    Mitarbeiterinnen des Zolls von Rotterdam schauen auf die Frachtcontainer
    Mitarbeiterinnen des Zolls von Rotterdam schauen auf die Frachtcontainer - Rotterdam zählt als Einfallstor Nummer zwei für Kokain in Europa (IMAGO / Belga / IMAGO / KRISTOF VAN ACCOM)
    Millionen in Bargeld, Boote, Flugzeuge und tonnenweise Kokain - knapp drei Jahre ist es her, dass europäischen Behörden ein Coup gelungen ist. 2020 hatten Ermittler aus Frankreich und den Niederlanden das hoch verschlüsselte Netzwerk Encrochat geknackt und Personen, Besitztümer und Millionen Daten des organisierten Verbrechens sichergestellt. 
    Bei der Bilanz von Europol der Daten und Beschlagnahmungen im Juni 2023 wurde einmal mehr klar: Internationale Drogenkartelle sind längst in Europa angekommen und teilen das Geschäft unter sich auf – manchmal friedlich, oft aber auch mit Gewalt. 

    Welchen Umfang hat der Handel mit Kokain?

    Im Hafen von Antwerpen wurden allein im letzten Jahr rund 110 Tonnen Kokain sichergestellt - ein neuer Rekord. Antwerpen gilt als Einfallstor Nummer eins für den Drogenhandel in Europa. In Rotterdam, der Nummer zwei, beliefen sich die Funde auf 52 Tonnen. Doch auch in den Häfen von Le Havre, Hamburg oder im spanischen Algeciras gelingen Behörden immer wieder große Kokainfunde. 
    Die Gesamtmenge des Handels lässt sich jedoch nur schätzen. Der Zoll geht davon aus, dass er nur rund zehn Prozent des geschmuggelten Kokains sicherstellen kann. Heißt im Umkehrschluss: 90 Prozent werden nicht entdeckt und kommen auf den Markt. Der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in Lissabon zufolge lag der Verkaufswert des Kokains in der EU 2020 zwischen 7,7 und 10,5 Milliarden Euro.
    Auch einzelne Fahndungserfolge lassen immer wieder auf die Dimensionen des Handels schließen. So hat die oben genannte Zerschlagung des Kriminellen-Netzwerkes Encrochat vor drei Jahren laut Europol zu bisher mehr als 6.500 Festnahmen weltweit geführt. Fast 900 Millionen Euro seien insgesamt beschlagnahmt worden – das meiste davon in Bargeld. Insgesamt stellten die Behörden auch 100 Tonnen Kokain sicher. Außerdem über 900 Waffen, fast 1.000 Fahrzeuge, 83 Boote und 40 Flugzeuge. 
    Rund 1,5 Tonnen beschlagnahmtes Kokain liegen in Bayern zum Abtransport bereit.
    Polizei vernichtet 1,5 Tonnen Kokain (picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Laut dem Drogenbericht der EMCDDA kommt immer mehr in Südamerika produziertes Kokain nach Europa. Und bei fast keiner anderen Droge ist der Gewinn so hoch. Laut Experten kostet ein Kilo Kokain in Lateinamerika zwischen 1.000 und 3.000 Euro – in Europa kann es dann zwischen 25.000 bis 50.000 Euro weiterverkauft werden. Bei diesen enormen Gewinnspannen von mehr als 1.000 Prozent ist auch ausreichend Geld vorhanden für Mittelsmänner und Schmiergelder und den komplizierten Transport. 

    Wie gelangen die Drogen nach Europa?

    Kokain wird meist in den Containern großer Frachtschiffe von Lateinamerika nach Europa geschmuggelt. Dabei setzen die Schmuggler vor allem auf Container mit Gemüse und Obst - darunter häufig Bananen. Der Zeitdruck, verderbliche Güter in Supermärkte und Lager zu bringen, wird von Drogenschmugglern genutzt. Manchmal gehen sie dabei auch kreativ vor. Beispielsweise wurde Kokain bereits in Ananas entdeckt oder in Nachahmungen von Maniok-Pflanzen.
    Häufig werden die Drogen dabei schon auf den Plantagen in Lateinamerika in die Kisten mit eingepackt. Manchmal helfen aber auch korrumpierte Hafenmitarbeiter mit und packen das Kokain erst dort in Kisten ein. Eine dritte Möglichkeit ist, dass das Kokain auf das bereits abgelegte Schiff aufgeladen wird. Manche Containerschiffe müssen oft noch durch eine Art Mangrovenlandschaft, bevor sie das Meer erreichen, beispielsweise im peruanischen Guayaquil. Das nutzen Kriminelle aus und kommen dann mit kleinen Booten. Das funktioniert aber nur deshalb, weil an Bord jemand dabei hilft, die illegale Ware einzuladen.
    In Antwerpen kommen beispielsweise jeden Jahr mehr als sieben Millionen Container an. Nur ein bis zwei Prozent davon werden überhaupt untersucht. Um zu entscheiden, welche Container untersucht werden, überprüfen die Behörden die Herkunftsangaben. Bei Lieferungen aus Lateinamerika und frischem Obst und Gemüse schauen sie meist genauer hin.
    Von den europäischen Häfen fließen die Drogen dann in die europäischen Großstädte. Proben des Abwassers haben ergeben, dass dort die Nachfrage besonders hoch ist. Auch ist bekannt, dass Kokain vor allem in der Vorweihnachtszeit und in der Festivalsaison im Sommer konsumiert wird. Deshalb wird um diese Zeit auch häufig vermehrt geschmuggelt.

    Wo verlaufen die Schmuggelrouten der Drogen?

    Die Produktion von Kokain erfolgt in Ländern wie Kolumbien, Bolivien oder Peru. Von dort wird die Ware entweder direkt auf Container gegeben, oder macht einen Umweg über den Landweg, bevor es dann verschifft wird – beispielsweise über Brasilien. 
    Ein Transitland ist auch Ecuador. Weil es dort teilweise laxere Kontrollen gibt und das Land zwischen den großen Produzentenländern liegt, sind Drogenkartelle dort auf den Hafen von Guayaquil ausgewichen. Laut Kokain-Jahresbericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen und Verbrechensbekämpfung (UNDOC) sind neue Verteilzentren entstanden. So wird zum Beispiel auch viel Kokain über Paraguay verschifft. Dorthin wiederum gelangt es mit Booten über Flüsse und Flugzeugen durch die Luft. 
    Von den Häfen in Lateinamerika wird das Kokain in der Regel direkt nach Europa geschifft. In selteneren Fällen verläuft der Transport auch über Afrika. Hinzu kommt, dass Kokain natürlich auch in Flugzeugen von Passagieren – sogenannten „Mulas“ - nach Europa eingeführt wird. Auch Schnellboote, kleinere Marineschiffe und sogar U-Boote werden für den Schmuggel genutzt. Häufig machen Drogentransporte aus Lateinamerika erst an der Westküste Afrikas halt, bevor es dann nach Europa weitergeht. 
    Laut dem Drogen-Jahresbericht von UNDOC hat der Schmuggel über den Seeweg zugenommen - während andere Wege eher abgenommen haben.

    Wer steckt hinter der Drogenmafia? 

    Wer genau wo agiert, das lässt sich nur sehr schwer sagen. Besondere mächtig sind die mexikanischen Kartelle. Sie sind wohl weltweit in mehr als 50 Ländern aktiv. Hinzu kommen auch Gruppen aus Kolumbien, Brasilien und Nigeria und zunehmend auch aus Albanien.
    Die UN-Organisation UNDOC spricht von einer zunehmenden Auslagerung der Struktur in dezentrale Netzwerke krimineller Gruppen. Dadurch sei ein System von Dienstleistern entstanden, die Teile der Lieferkette verwalteten, ohne jemals im Besitz der Drogen zu sein. Oft holen sie das Kokain am Hafen ab, sorgen für den lokalen Transport und schützen die Sendungen. Diese Dienstleister garantieren im Allgemeinen die Lieferung des Kokains gegen eine Gebühr, die sich nach der Menge des Kokains richtet.
    In Europa sind vor allem marrokanisch-stämmige, albanische, serbische und kosovarische Banden und die italienische 'Ndrangheta aktiv, die sich den Drogenhandel in Europa nach Regionen und Geschäftsschwerpunkten aufteilen. Sie alle sind bereit, ihre Interessen auch mit Gewalt zu verteidigen.

    Welchen Einfluss hat die Drogenmafia in Europa?

    Experten warnen schon lange: Mit mehr Drogen steige auch die Gewalt. Das ist bereits in den Orten spürbar, die für den Transit wichtig sind, so zum beispielsweise in Antwerpen. Dort kommt es immer wieder zu Schusswechseln und Explosionen. Anfang des Jahres starb dabei ein elfjähriges Mädchen. Im vergangenen Jahr hatten Kriminelle aus dem Drogenmilieu auch versucht, Justizminister Vincent Van Quickenborne zu entführen. Er hatte der Drogenkriminalität den Kampf angesagt. Bei seiner Wohnung hatten die Ermittler ein Auto mit Kalaschnikows und gefüllten Benzinkanistern sichergestellt. 
    Belgiens Justizminister Vincent Van Quickenborne vor einer Sitzung in Brüssel
    Belgiens Justizminister Vincent Van Quickenborne warnt vor "Narco-Terror" in Europa (picture alliance / dpa / BELGA / Jasper Jacobs)
    Auch in den Niederlanden gab es Anschläge auf, Morde an und Bedrohungen von Politikern, Journalisten, Juristen. Der bekannteste Fall ist wohl der Mord an Kriminalreporter Peter R. de Vries, der auf offener Straße erschossen wurde. Die Ermittler gehen davon aus, dass eine berüchtigte marokkanisch-stämmige Drogenbande für den Mord verantwortlich ist.
    Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) zeigt sich in ihrem Bericht auch besorgt über das Entstehen von Kokainwerkstätten in Europa: 2021 wurden 34 Labore in Europa ausgehoben - 2020 waren es erst 23.
    Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Innenkommissarin Ylva Johansson eindringlich vor der Gefahr durch organisierte Kriminalität gewarnt. „Die Bedrohung der Gesellschaft durch das organisierte Verbrechen ist heute genauso groß wie die terroristische Bedrohung“, sagte sie bei einem Besuch am Antwerpener Hafen im Februar 2022. Die Gewalt infolge des Drogenhandels habe gravierende Auswirkungen etwa auf das Vertrauen und den Zusammenhalt der Gesellschaft.

    Welche politischen Maßnahmen sind im Gespräch?

    Derzeit setzt die EU vor allem auf den Kampf gegen Geldwäsche, Prävention bei den Konsumenten und eine engere Zusammenarbeit bei der grenzüberschreitenden Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Im Juni 2023 haben die Niederlande, Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien eine solche Vereinbarung getroffen. Sie wollen auch enger mit lateinamerikanischen Ländern im Kampf gegen die Drogenbarone kooperieren. 
    Dort hat die Debatte zeitweise eine andere Dimension eingenommen: Einige lateinamerikanische Regierungschefs, darunter auch Konservative, haben sich für die Legalisierung von Kokain ausgesprochen. Doch beim Wie sind sie vage geblieben. Sie verweisen vor allem auf Europa und die USA. Dort müsse man den Konsum eindämmen - denn solange Europäer und US-Amerikaner bereit seien, hohe Summen für Kokain zu bezahlen, werde das Angebot auch nicht abreißen. 
    Die großen Gewinnmargen machen es auf jeden Fall schwierig, nur mit polizeilichen Mitteln gegen die Kartelle vorzugehen. Denn die organisierten Strukturen scheinen den Behörden meist einen Schritt voraus zu sein. So ist zwar die Technik - beispielsweise zum Scannen von Containern - besser geworden. Auch konnten europäische Behörden viele Fahndungserfolge gegen die Drogenmafia verbuchen. Doch trotz allem ist der Straßenpreis für Kokain konstant geblieben. Das wiederum lässt darauf schließen, dass weiter ein konstanter Strom von Kokain den Weg nach Europa findet.

    dpa, afp, UNDOC, EMCDDA, Europol, Marcus Wolf, Carolin Born, Anne Herrberg, nm