Bei dem am Freitag veröffentlichten Bericht handelt es sich um die erste offizielle Aufstellung von Opfern des amerikanischen Drohnenkriegs. 2.500 Kämpfer und 116 Zivilisten sind demnach in den vergangenen sieben Jahren getötet worden.
Es sei eine deutliche Veränderung gegenüber der bisherigen US-Politik, dass überhaupt Zahlen aus dem Drohnenprogramm veröffentlicht würden, sagte der Konfliktforscher Michael Brzoska im DLF-Interview. Jedoch bezeichnete der Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg die Daten als "sehr umstritten". Brzoska verwies darauf, dass diverse Nicht-Regierungsorganisationen deutlich höhere Zahlen ermittelt hätten - teilweise durch Befragung der Bevölkerung, zum Beispiel in Pakistan.
Hinter der Veröffentlichung sieht der Wissenschaftler Kalkül. Obama mache die Zahlen deshalb öffentlich, weil er dadurch hoffe, dass auch der nächste Präsident am US-Drohnenprogramm festhalte. Den Friedensnobelpreis, den der amerikanische Präsident im Jahr 2009 erhielt, betrachtet Brzoska mittlerweile als "sehr problematisch". Obama sei nicht der Friedenspräsident geworden, der er werden sollte.
Das Töten mithilfe bewaffneter Flugdrohnen bezeichnete Brzoska als "eine neue Art von Kriegsführung, die die traditionellen Regeln zumindest in Frage stellt." Der Konfliktforscher plädierte für einen internationalen Konsens für Zurückhaltung bei der Anschaffung jener Waffen.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Es ist ein Papier, das in Washington ganz geschickt am vergangenen Freitagnachmittag veröffentlicht wurde, kurz vor einem langen Wochenende also. Auch der heutige Montag, der 4. Juli, ist ja in den USA ein Feiertag. Ganz offensichtlich wollte niemand der Verantwortlichen, dass dieses Dokument allzu große Aufmerksamkeit bekommt, denn tatsächlich ist diese Liste brisant. Es handelt sich um die erste offizielle Aufstellung von Opfern des amerikanischen Drohnenkriegs. Unter anderem steht in diesem Bericht, dass außerhalb der Krisengebiete Syrien, Irak und Afghanistan 2500 Kämpfer getötet wurden und 116 Zivilisten. Mehrere Menschenrechtsgruppen haben diese Zahlen bereits angezweifelt.
Wir können darüber jetzt sprechen mit Michael Brzoska, dem Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Schönen guten Morgen, Herr Brzoska.
Michael Brzoska: Guten Morgen!
"Die Zahlen, die jetzt bekannt geworden sind, die sind sehr umstritten"
Armbrüster: Was halten Sie von den Zahlen, die das Weiße Haus da jetzt vorgelegt hat?
Brzoska: Erst mal muss man sagen, dass es natürlich schon eine deutliche Veränderung gegenüber der bisherigen Politik ist, dass man überhaupt Zahlen veröffentlicht hat. Wenn Sie sich zurückerinnern: Zu Beginn der Präsidentschaft Obamas hat die US-Regierung sich geweigert, überhaupt irgendwelche Informationen über dieses Drohnenprogramm herauszugeben. Das ist schon mal ein Fortschritt.
Andererseits muss man sagen: Die Zahlen, die jetzt bekannt geworden sind, insbesondere was die zivilen Opfer angeht, die sind sehr umstritten. Nichtregierungsorganisationen haben ganz andere Zahlen gesammelt. Das liegt natürlich daran, dass es häufig unklar ist, ob denn jetzt diejenigen, die getötet worden sind durch diese Drohnen, ob das Zivilisten waren oder etwa Kämpfer.
Armbrüster: Wie wird das denn eigentlich hinterher rausgefunden bei so einem Angriff? Fährt da hinterher noch mal jemand hin und guckt genau nach und recherchiert, wie groß die Opferzahlen sind?
Brzoska: Nein, in der Regel natürlich nicht. Manchmal schon. Natürlich kann man auch hinterher noch Leute dahin schicken. Insbesondere die Geheimdienste können das natürlich machen, in Somalia etwa, um zu gucken, wer denn da wirklich umgekommen ist. Aber insbesondere in Pakistan, wo ja die meisten Drohnenopfer zu beklagen sind, ist es natürlich sehr schwierig und dort ist es so, dass die Nichtregierungsorganisationen insbesondere dann lokal die Bevölkerung befragen und versuchen, so rauszubekommen, wer denn da umgekommen ist und ob das Zivilisten waren oder Kämpfer.
Armbrüster: Wem vertrauen Sie denn da mehr, der US-Regierung oder Nichtregierungsorganisationen wie zum Beispiel Amnesty International?
Brzoska: Ich denke mal, dass die Nichtregierungsorganisationen Recht haben, dass die Anzahl der Opfer größer ist. Andererseits ist es natürlich auch extrem schwer, das zu unterscheiden, und manchmal werden Leute auch einen Teil des Tages Zivilisten und den anderen Teil des Tages Kämpfer. Insofern ist diese Unterscheidung dann auch nicht immer so passend. Aber insgesamt, denke ich mal, sind die Zahlen, die jetzt das Pentagon beziehungsweise das Weiße Haus in den USA veröffentlicht hat, wahrscheinlich zu niedrig.
Obama will nicht als Drohnenpräsident in die Geschichte eingehen
Armbrüster: Diese Veröffentlichung jetzt, warum, meine Sie, macht Obama das?
Brzoska: Ich denke, es gibt zwei Gründe. Der eine ist, dass er schon, glaube ich, nicht gerne in die Geschichte eingehen würde als der Drohnenpräsident, wie ihn ja zum Beispiel selbst die damalige Außenministerin Hillary Clinton bezeichnet hat. Und das andere ist: Er will, dass das Drohnenprogramm so weitergeführt wird, wie er es jetzt bestimmt hat, nämlich dass man schon etwas darüber veröffentlicht, dass es nicht völlig im Geheimen bleibt. Insofern ist dieser Schritt, den er gemacht hat, auch eine Bindung des nächsten Präsidenten, denn dies ist verbunden mit einer National Security Directive. Das heißt etwas, was zumindest politisch auch für den nächsten Präsidenten oder Präsidentin eine Bindung hat.
Armbrüster: Sie haben es erwähnt: Er steht da in der Kritik. Obama steht in der Kritik, weil er diesen Drohnenkrieg so sehr ausgeweitet hat. Was würden Sie denn sagen? Hat er seinen Friedensnobelpreis noch verdient?
Brzoska: Ich sehe das als sehr problematisch inzwischen, nicht nur wegen der Drohnen, auch weil Obama ja auch in anderen Fällen eher dann sich entschieden hat, militärisch vorzugehen. Denken wir etwa an den Schritt, den er im Irak gemacht hat. Insofern ist es schon damals sehr ambitioniert gewesen vom Nobelkomitee, ihm den Preis zu verleihen, und letztendlich ist Obama dann doch ein Gefangener auch der US-amerikanischen Interessen geblieben und nicht der Friedenspräsident geworden, von dem man sich damals gehofft hatte, dass er es werden würde.
Kriegsführung der Amerikaner stellt traditionelle Regeln in Frage
Armbrüster: Ich würde noch mal gern genauer auf diese Kontroverse eingehen. Warum ist dieser Drohnenkrieg denn eigentlich so umstritten, denn eigentlich handelt es sich ja auch, man könnte fast sagen, nur um einen weiteren Krieg, bei dem auch Kämpfer sterben, aber auch Zivilisten, wie ja in jedem anderen bewaffneten Konflikt, wie in jedem anderen Krieg auch?
Brzoska: Der Hauptkritikpunkt betrifft den Einsatz der Drohnen außerhalb von Kampfgebieten. Es ist immer schwer zu definieren, was genau ein Krieg oder ein bewaffneter Konflikt ist, um den technischen Begriff, den die Juristen vor allen Dingen benutzen, hier anzuführen. Aber dass jetzt in Somalia oder in Libyen die Amerikaner einen Krieg führen, das ist natürlich etwas, was schwer nachzuvollziehen ist, und insofern ist insbesondere der Drohneneinsatz jetzt in Gebieten, in denen die Amerikaner nicht angegriffen werden, in denen man jetzt nicht sagen kann, dass Kämpfe stattfinden, natürlich sehr hoch umstritten. Außerdem haben die Amerikaner zum Teil auch bewusst Individuen getötet. Auch das ist nach üblichem Verständnis eigentlich in Kriegen ungewöhnlich, sondern das Übliche ist ja eigentlich, dass man sich bekämpft, dass man mit militärischen Mitteln gegeneinander vorgeht, und insofern ist diese Drohnenkriegsführung eine neue Art von Kriegsführung, die die Amerikaner insbesondere eingeführt haben, die eigentlich die traditionellen Regeln zumindest in Frage stellt.
Armbrüster: Ein Vorwurf lautet ja auch immer, dass diese besonders heimtückische Art der Kriegsführung dafür sorgen würde, dass weitere Teile der Bevölkerung radikalisiert werden und sich dann möglicherweise auf die Seite von bewaffneten Islamisten wie zum Beispiel den Taliban schlagen. Ist da was dran an dieser Gleichung, mehr Drohneneinsätze gleich radikalere Kämpfer?
Brzoska: Der Nettoeffekt ist wahrscheinlich relativ gering. Netto in dem Sinne, dass zum Teil das stattfindet, was Sie beschreiben, dass mehr Leute radikalisiert sind, sich mehr Kämpfer etwa den Taliban oder El-Kaida anschließen. Andererseits sind natürlich schon viele Kämpfer auch getötet worden. Insofern hat das Programm natürlich auch den Zweck erfüllt, den die US-Regierung wollte. Insofern: Diese beiden Wirkungen heben sich wahrscheinlich gegeneinander ziemlich auf.
"Ich fürchte, dass wir weiter Drohnenkriege erleben werden"
Armbrüster: Was ist denn Ihre Einschätzung? Wird dieser Drohnenkrieg noch länger dauern, oder ist da möglicherweise mit einem Ende zu rechnen, wenn Obama das Weiße Haus verlässt?
Brzoska: Ich fürchte, dass wir weiter Drohnenkriege erleben werden, denn der große Vorteil für diejenigen Staaten, die diese Drohnen einsetzen, ist, dass sie ihre eigenen Soldaten nicht gefährden, auch die Kosten relativ gering sind, und natürlich der Eindruck erweckt wird, ohne dass man eigene Menschen gefährdet, dass man etwas tut gegen Gegner, die einen militärisch angreifen.
Armbrüster: Was sollte Deutschland tun in dieser Situation?
Brzoska: Ich denke, dass wir da zurückhaltend sein sollen, denn insbesondere was die anderen Staaten angeht ist ja bisher nur festzustellen, dass die USA diese Drohnen massiv einsetzen, und insofern könnte man vielleicht versuchen, doch einen internationalen Konsens hinzubekommen, diese Art von Kriegsführung jedenfalls außerhalb von Kampfgebieten nicht weiter auszudehnen.
Armbrüster: Halten Sie das für realistisch, wenn es da genügend Staaten gibt, die sich dafür aussprechen, für so ein Verbot oder so eine Einschränkung aussprechen?
Brzoska: Ich kann das schwer einschätzen. Die Chancen stehen nicht sehr hoch. Aber ich denke, man sollte es nicht ausschließen, das zu versuchen, und insofern zunächst erst mal Zurückhaltung üben in der Beschaffung von solchen bewaffneten Drohnen.
"Herr Gabriel hat ein großes Problem"
Armbrüster: Herr Brzoska, wir müssen noch ganz kurz an diesem Montagmorgen über ein anderes Thema sprechen. Wir haben schon mehrfach in der Sendung erwähnt: Die deutschen Rüstungsexporte sind im vergangenen Jahr deutlich angestiegen. Die Umsätze haben sich nahezu verdoppelt. Sigmar Gabriel, der Bundeswirtschaftsminister, steht deshalb massiv in der Kritik, weil er ja versprochen hatte, die Rüstungsexporte eigentlich zurückzufahren. Hat Herr Gabriel hier ein Versprechen gebrochen?
Brzoska: Ich denke, dass Herr Gabriel hier ein großes Problem hat, weil er sich nicht klar genug ausgedrückt hat und immer wieder den Eindruck erweckt hat, als wenn er insgesamt den Rüstungsexport vermindern wollen würde. Er hat aber immer gesagt, es ginge ihm besonders um die problematischen Rüstungsexporte, und da sehe ich eigentlich keinen Aufwuchs, außer jetzt das, was schon von der vorherigen Regierung beschlossen worden war, etwa diese Panzerlieferung nach Katar. Herr Gabriel hat ein großes Problem, weil er in der Tat einen falschen Eindruck erweckt hat, nämlich insgesamt die Rüstungsexporte senken zu wollen, das dann aber nicht in die Praxis umgesetzt hat, und das schlägt ihm jetzt sozusagen entgegen als Kritik.
Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk war das Michael Brzoska, der Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Vielen Dank, Herr Brzoska, für Ihre Zeit heute Morgen.
Brzoska: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.