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Krieg und Nahrungsmittel
UN-Entwicklungsexperte: Lebensmittel-Unsicherheit kann schnell zu politischer Krise werden

Durch den Krieg in der Ukraine und der damit unterbrochenen Lieferketten sei die Lebensmittelsicherheit über Nacht zu einem globalen Problem geworden, sagte der Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, Achim Steiner, im Dlf. Vor allem in Entwicklungsländern könne dies schnell zu politischen Verwerfungen führen.

Achim Steiner im Gespräch mit Sandra Schulz |
Ein Mann legt ein typisch ägytpisches Fladenbrot auf einen Verkaufsstand
Der weltweite Anstieg für Lebensmittelpreise könnte vor allem in Entwicklungsländern zu Unruhen führen, sagte der Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, Achim Steiner, im Dlf (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
200 Millionen Menschen seien heute "akut unsicher im Sinne der Nahrungsmittelversorgung", so Steiner. Für viele bedeute das, dass sie nicht wüssten, ob sie morgen etwas zu essen haben. "Diese Zahl hat sich allein in den letzten vier, fünf Jahren verdoppelt und geht jetzt vor allem auch aufgrund der Preisentwicklung noch einmal enorm hoch." In den letzten Jahrzehnten habe man sowohl bei der Nahrungsmittelversorgung als auch bei der Nahrungsmittelproduktion und der Hungerbekämpfung "sehr viele Fortschritte" erlebt. Doch der Krieg in der Ukraine, ein Land, aus dem mehr als 40 Länder weltweit über ein Drittel ihres Weizenbedarfs beziehen würden, habe zu einem globalen Dominoeffekt geführt.

Das Interview im Wortlaut:

Sandra Schulz: Wie ernst ist die Hungerkrise, Stand jetzt?
Achim Steiner: Sie ist sehr ernst. Die Zahlen allein, die in den letzten Tagen vor allem in New York noch einmal vorgestellt wurden, zeigen das Ausmaß der Ernährungsmittelunsicherheit, Nahrungsmittelunsicherheit vor allem. Wir haben heute über 200 Millionen Menschen, die inzwischen akut unsicher im Sinne der Nahrungsmittelversorgung sind. Das heißt, der nächste Tag und der Zugang zu Nahrungsmitteln ist nicht mehr gesichert. Diese Zahl hat sich allein in den letzten vier, fünf Jahren verdoppelt und geht jetzt vor allem auch aufgrund der Preisentwicklung noch einmal enorm hoch. Denn das eine ist das Angebot, der Zugang zu Nahrungsmitteln; das zweite ist das sich leisten können eines täglichen Essens. Das ist die große Herausforderung. 50, 60 Prozent Preisanstieg bedeutet für hunderte von Millionen Menschen, sie können sich dieses nächste Essen nicht mehr leisten.
Schulz: Ist das jetzt schon angekommen, oder entfaltet sich die volle Wucht jetzt erst in den nächsten Wochen und Monaten?
Steiner: In unserem weltwirtschaftlichen Geflecht kommt über die Märkte auf dem Wege des Preises eine solche Entwicklung fast über Nacht an. Das heißt, heute wird Getreide schon mit ganz anderen Preisen gehandelt als noch vor vier, fünf Wochen. Das heißt, in dem Sinne hat sich der wirtschaftliche Effekt, der Kosteneffekt schon auf den Weltmärkten ausgebreitet, und viele Länder geraten nun in den Zugzwang, möglichst schnell ihre Reserven aufzubauen. Das heißt, die Nachfrage geht noch einmal künstlich hoch, und das schafft erst einmal das Problem, dass im täglichen Einkauf Menschen sofort merken, wie die Preise hochgehen.
Wir haben im Augenblick genug Nahrungsmittel auf der Welt, um im Grunde unseren Bedarf abzudecken, aber durch den Ukraine-Krieg, durch die Unterbrechung der Lieferketten, da ja nun Russland und die Ukraine, beide eine Kornkammer sind, aus der sich die ganze Welt versorgt hat, ist das über Nacht zu einem globalen Problem geworden und damit für viele Länder auch zu einer Krise.

"Kriege, Krisen, Naturkatastrophen werfen uns immer zurück"

Schulz: Die Entwicklungsministerinnen und Minister der G7 haben jetzt dieses Bündnis für globale Ernährungssicherheit geschaffen – so haben sie es genannt. Ist das überhaupt das richtige Wort, Ernährungssicherheit? Ist dieser Anspruch erfüllbar?
Steiner: Wir haben in den letzten Jahrzehnten sehr viele Fortschritte erlebt bei der Nahrungsmittelversorgung, bei der Nahrungsmittelproduktion, auch bei der Bekämpfung des Hungers weltweit viele Fortschritte erreicht, die Armutsbekämpfung. Das sind Anzeichen dafür, dass gezielte entwicklungspolitische Maßnahmen dafür, dass gezielte entwicklungspolitische Maßnahmen aus den Entwicklungsländern selber, aber auch aus der internationalen Gemeinschaft sehr wohl gewirkt haben. Aber Kriege, Krisen, Naturkatastrophen werfen uns immer zurück und vor allem in diesem Augenblick bei einem Land wie der Ukraine. Es gibt ja fast 40, 45 Länder weltweit, die über ein Drittel ihres Weizenbedarfs aus der Ukraine abdecken. Das heißt, wir haben hier wirklich einen Dominoeffekt, der sich sehr schnell verbreitet und sofort durch die Sanktionen, auch durch den Stopp von Exporten sich auswirkt, und damit entsteht ein völlig neuer Umstand, denn der Fortschritt bei der Armutsbekämpfung, auch bei Hunger war an sich in den letzten Jahren eine Erfolgsstory.
Schulz: Dass sich das jetzt so umgekehrt hat und auch diese drastische Lage, ist Ihr Eindruck, dass die Botschaft bei den Regierenden schon angekommen ist?
Steiner: Ich glaube, in den letzten zwei, drei Wochen hat sich das sehr schnell auch noch einmal als eine Riesenproblematik in den Hauptstädten abgezeichnet. Natürlich war man und ist man auch durch den Krieg in der Ukraine, durch den Angriff Russlands erst einmal sehr stark auf die Ukraine fokussiert, aber ich glaube, in den Außenministerien, in den Wirtschaftsministerien, auch in den Entwicklungsministerien ist inzwischen das Verständnis dafür sehr schnell gewachsen, dass wir es hier mit einer globalen Krise zu tun haben, die sehr schnell dazu führen kann, dass in einzelnen Entwicklungsländern, wo eine Regierung nicht mehr die Nahrungsmittelsicherheit ihrer Bevölkerung sicherstellen kann, Menschen sich nicht mehr ihr Abendessen ihr nächstes Mal leisten können, dass dort auch sehr schnell politische Verwerfungen entstehen. Das heißt, es ist eine wirtschaftliche, es kann sehr schnell eine politische Krise werden, und es ist eine menschliche Tragödie, dass wir wieder erleben, dass über 200 Millionen Menschen einfach nicht genug zu essen haben.
Hinzu kommen dann noch Trockenheits- und Dürreperioden wie in Ostafrika. Diese Schocks haben wir in den letzten Jahren ja relativ gut auffangen können, auch mit dem Welternährungsprogramm, aber jetzt sind wir in einer Situation, wo wir fast simultan weltweit diese Problematiken jetzt erst mal in den Griff bekommen können, und da sind Länder hinterher, was die Finanzierung angeht, was auch das gemeinsame Handeln angeht. Der G7-Entschluss, dieses globale Bündnis zur Ernährungssicherheit mit ins Leben zu rufen, ist sicherlich ein wichtiger Schritt. Auch gestern im Sicherheitsrat haben die Vereinigten Staaten Initiativen ergriffen. Hier ist enorm und akuter Handlungsbedarf.

"Wir brauchen Finanzierungen"

Schulz: Wenn Sie sagen, das ist in den Griff zu kriegen, wie sieht dieses in den Griff kriegen aus? Geht das mit Geld?
Steiner: Zuerst – und das wäre vielleicht der einfachste Weg -, dass man die Märkte offen hält. Zum einen gibt es ja viele Länder, die auch jetzt normalerweise exportieren würden und die sich jetzt überlegen, ob sie ihre Getreidevorräte erst einmal im Land behalten. Das wäre noch einmal eine Potenzierung dieser Krise. Deswegen auch der Appell an viele Länder, nicht die Grenzen zu schließen, was den Export angeht.
Zweitens – und da ist der Generalsekretär Guterres der Vereinten Nationen sehr aktiv im Moment zu sehen – gibt es einen Weg, wie wir mit diesem Konflikt trotzdem erreichen können, dass wir die Getreidereserven, die ja zurzeit in der Ukraine liegen, wieder auf den Weltmarkt bringen können und durch einen Verhandlungskompromiss erst mal den Druck vom Markt nehmen. Das hätte den Vorteil, dass wir zum einen das Angebot wieder erhöhen können, zum zweiten sich das sofort auf die Preise auswirkt.
Und drittens Liquidität. Wir brauchen Finanzierungen. Das sind Schocks, die im Moment in Milliardenhöhe neue Ausgaben verursachen, und da tut sich die reiche Welt im Moment schwer. Wir erleben im Augenblick die Kürzungen von Entwicklungsetats in vielen Ländern mit dem Argument, wir müssen Flüchtlinge versorgen. Das sind Signale, die hier genau in die gegenteilige Richtung gehen.

"Völlig andere" Nahrungsmittelversorgung aufgrund der Sanktionen

Schulz: Das will ich gerne noch genauer verstehen. Es ist klar, es gibt eine Konkurrenz jetzt ums Geld, weil viele andere Themen auch auf der Agenda sind, auch die Frage nach militärischer Sicherheit. Das ist sicherlich eine Konkurrenz ums Geld. Aber wenn Sie sagen, eigentlich ist das Getreide da, eigentlich müsste es ausreichen, dann ist es doch eher ein Verteilungsproblem?
Steiner: Es ist ein Verteilungsproblem, das zum einen dadurch entsteht, dass weltweit auf den Märkten die Nervosität steigt. Das heißt, jede Regierung, die über Reserven verfügt, überlegt sich jetzt zweimal, lässt sie die, wie sie es in einem normalen Jahr machen würde, vielleicht zum Teil auf dem Weltmarkt zum Verkauf anbieten, oder behält sie es in ihren eigenen Kornsilos, weil man nicht weiß, wie das nächste Jahr, die nächsten zwölf Monate aussehen. Und dann, weil die Ukraine vor allem eine so bedeutende Produktion für den Weltmarkt hat. Wenn man diese Produktion kurzfristig wieder auf den Weltmarkt bringen könnte, würde das auch erst einmal in den nächsten Monaten einen sehr großen Beitrag leisten. Das ist das Wichtige: Wir müssen verstehen, dass durch den Konflikt, durch die Sanktionen wir fast über Nacht eine völlig andere Nahrungsmittelversorgung in vielen Ländern verursacht haben. Daher auch der Appell vieler Entwicklungsländer, hier einen politischen Weg zu finden, wie man diese Reserven wieder auf den Markt bringt. Denn was immer wir machen: Wir können innerhalb von sechs Monaten nicht irgendwo anders diese Produktion kompensieren.
Schulz: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist es jetzt im Moment wirklich hauptsächlich dieses logistische Thema, diese Notlieferungen zu organisieren. Aber wir bewegen uns ja eigentlich von einer Krise zur nächsten. Der Syrien-Krieg hatte den Hunger massiv anwachsen lassen, dann jetzt zuletzt diese Dürreperiode in Südafrika. Wie sieht da eigentlich klassische Entwicklungszusammenarbeit überhaupt aus?
Steiner: Je nach Umständen baut man landwirtschaftliche Systeme auf. Man kann Produktionen fördern, ob das die kleinbäuerliche Landwirtschaft ist, oder ob das eine mehr großflächig ausgerichtete Produktion ist. Wir haben Möglichkeiten, weltweit Nahrungsmittelproduktion zu fördern. Das haben wir auch sehr erfolgreich getan. Nur so haben wir es ja geschafft, dass wir zum Beispiel im Jahr 2021 mit fast siebeneinhalb Milliarden Menschen genug zu essen hatten auf der Welt. Dass Armut und dass Ungleichheit viele hier noch sehr stark diskriminiert, ist die zweite Herausforderung, aber es gibt genug Nahrungsmittel. Wir haben die Fähigkeit, sie zu produzieren. Das ist auch mit ein Erfolg jahrelanger Entwicklungszusammenarbeit, der Förderung von landwirtschaftlichen Betrieben im globalen Süden.
Aber auch die Landwirtschaftssysteme müssen sich weiterentwickeln in einer Zeit des Klimawandels. Wie können wir kohlenstoffarme Landwirtschaft fördern? Wie können wir auch diese Schocks reduzieren, ob das die Dürreperioden sind, die Überschwemmungen? Auch das wird Teil einer Nahrungsmittelsicherheitspolitik werden und genau deswegen müssen Länder zusammenkommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.