Archiv


Drollige Zukunftsforschung

Dieses Buch war ein Versuch, das Entwicklungspotenzial vor hundert Jahren in den Blick zu nehmen, getrennt nach Technik und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, Religion, Sport und Kunst. Der jetzige Nachdruck hätte mehr liefern können - aber.

Vorgestellt von Burkhard Müller-Ullrich |
    Wie doch die Zeit vergeht! Morgen ist heute schon gestern. Der Engel der Geschichte schaut in die Vergangenheit, aus der ein solcher Sturm ihn anbläst, dass er seine Flügel nicht mehr schließen kann. So wird er rückwärts in die Zukunft getrieben. Das, was wir den Fortschritt nennen, meinte Walter Benjamin, sei dieser Sturm.

    Man kann dieses geschichtsphilosophische Denkbild wunderbar weitermalen und dabei vielfältig ausdeuten: So zeigt der Wind zwar ungefähr, wohin die Reise geht, aber wissen kann man es nicht, der Engel blickt ja in die andere Richtung. Doch auch in der Geschichte sieht er nicht klar, denn er kann höchstens blinzeln, weil Sand- und Staubkörner ihm entgegenwehen.

    Und doch ist für uns alle nichts so aufregend wie Mutmaßungen über die Zukunft und nichts so fesselnd wie die Rekonstruktion der Vergangenheit. Dieses Buch bietet beides zusammen: einen historischen Vorausblick, der genau ein Jahrhundert überspannt und in dessen Fokus ausgerechnet wir Heutigen des Jahres 2010 stehen. Hundert Jahre – das ist bald die Lebenserwartung des modernen Menschen und scheint deswegen kein völlig abwegiger Prognosezeitraum zu sein. Doch während wir immer länger leben, wird das Prognostizieren immer schwieriger, weil die Entwicklungen der Technik zum dominierenden Geschichtsfaktor schlechthin geworden sind.

    Vor hundert Jahren, als dieses Buch entstand, hatte man von der Rasanz dieses Prozesses gerade einen ersten Vorgeschmack bekommen. Die Mechanisierung und Maschinisierung der Arbeits- wie der Alltagswelt waren in vollem Gang: Die Eisenbahn hatte das Transportwesen bereits revolutioniert, aber es gab noch keinen Auto- und keinen Luftverkehr; Glühbirne und Telefon waren zwar dem Prinzip nach bekannt, aber noch keine gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten; das Radium und seine Strahlung waren gerade erst entdeckt worden, über die großtechnischen Anwendungen der Radioaktivität konnte man bloß fantasieren.

    Letzteres war die Aufgabe, die der Herausgeber Arthur Brehmer den knapp zwei Dutzend Autoren seines ebenso üppig wie zeitgemäß hässlich illustrierten Sammelbandes stellte: Sie sollten sich ausdenken, wie die Welt in hundert Jahren aussehen würde. Und wir lesen heute nicht ohne Staunen Passagen wie diese:

    Sobald die Erwartungen der Sachverständigen auf drahtlosem Gebiet erfüllt sein werden, wird jedermann sein eigenes Taschentelephon haben, durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können, einerlei, wo er auch ist, ob auf der See, ob in den Bergen, ob in seinem Zimmer, oder auf dem dahinsausenden Eisenbahnzuge, dem dahinfahrenden Schiffe, dem durch die Luft gleitenden Aeroplan, oder dem in der Tiefe der See dahinfahrenden Unterseeboot. Überall wird er mit der übrigen Welt verbunden sein, mit ihr sprechen und sich mit ihr verständigen können, und er wird sie sehen, wenn er sie sehen will, und sei er auch tausend Fuß tief unter der Erde oder unter dem Spiegel des Ozeans, und wird gesehen werden in jeder, auch in der kleinsten seiner Bewegungen.

    Diese exakte Voraussage des Handys in einer Zeit, als der drahtgebundene Fernsprechverkehr noch in den Kinderschuhen steckte, stammt von dem amerikanischen Journalisten Robert Thompson Sloss, der in Princeton studiert und sich in London niedergelassen hatte, von wo er auch während des Ersten Weltkriegs berichtete. Seine Sätze über das mobile Telefonieren werden zwar inzwischen tausendfach zitiert, aber sie sind gar nicht so originell, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Es war damals nämlich üblich, sich in derlei Fantasien zu ergehen, und es gibt gerade von englischen Autoren ganz ähnlich lautende Formulierungen, die sogar einige Jahre älter sind.

    Interessanter ist da schon, was Sloss über die Auswirkungen der zukünftigen Kommunikationstechnik zu sagen hat. Am Beispiel des Erdbebens von Messina, das kurz vorher stattgefunden hatte, und, mit mehr als 100.000 Toten, als eine der furchtbarsten Naturkatastrophen in die europäische Geschichte einging, entwirft er eine Art Medienpsychologie, die in der Tat das abstoßende Abbild heutiger Zustände ist.

    Es wird keine Zeit und keine Entfernung mehr geben, und einer Katastrophe wie der jüngsten von Messina und Kalabrien werden wir alle beiwohnen können, sicher in unserem Hause sitzend, wo immer dieses auch steht. Wir werden einfach auf drahtlosem Wege uns mit der Unglückstätte verbinden lassen, und wer an dem Anblick allein nicht genug hat, sondern die Sensation furchtbarster Art ganz wird auskosten wollen, der wird, wenn er will, auch das Angstgewimmer der Leute, das Verröcheln der Sterbenden und die Schreie der Hungrigen und die Flüche der Irrsinnigen hören.

    Solange das Fernsehen noch nicht erfunden war und sich keine neuen Erdbeben ereigneten, sorgte der Erste Weltkrieg gewissermaßen für Live-Unterhaltung in dem beschriebenen Sinne. Er begann nur vier Jahre nach dem Erscheinen dieses Buchs, das dem Krieg lauter Absagen erteilte – am dezidiertesten mit der Stimme der Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Bertha von Suttner.

    Wir sind im Besitze von so gewaltigen Vernichtungskräften, dass jeder von zwei Gegnern geführte Kampf nur Doppelselbstmord wäre. Wenn man mit einem Druck auf einen Knopf, auf jede beliebige Distanz hin, jede beliebige Menschen- oder Häusermasse pulverisieren kann, so weiß ich nicht, nach welchen taktischen und strategischen Regeln man mit solchen Mitteln noch ein Völkerduell austragen könnte.

    Derselbe Gedanke hatte schon den schwerreichen Rüstungs- und Sprengstoffproduzenten Alfred Nobel geleitet, als er testamentarisch einen Geldpreis für die Friedensförderung stiftete. Bertha von Suttner hatte ihm diese Idee in den Kopf gesetzt und sie sollte auch zu den ersten Preisträgerinnen gehören. Der Glaube, dass der technische Fortschritt den Krieg auf lange Sicht unmöglich mache, hat allerdings die Tatsache gegen sich, dass der technische Fortschritt von jeher ganz wesentlich dem Kriegswesen entspringt. Es gibt vom Zeppelin bis zum Internet kaum eine Erfindung ohne militärische Bewandtnis, und es versteht sich, dass etliche der in diesem Buch versammelten Zukunftsszenarios von nichts anderem als Wunderwaffen und der durch sie garantierten absoluten Dominanz handeln.

    Manche sind von geradezu rührender Einfalt ...

    Erst im Jahre 2009 ist die gelbe Rasse zu der Erkenntnis gekommen, dass infolge der aeronautischen Überlegenheit der weißen Rasse jeder Widerstand künftig vergeblich sei.

    Andere treffen beinahe wörtlich zu:

    Der größte Unterschied, abgesehen von der Motorluftschiffahrt selbst, zwischen der heutigen Kriegführung und der Kriegführung im Jahre 2009 ist vielleicht darin zu finden, dass der Krieg nicht an den Grenzen des feindlichen Landes beginnt, sondern sofort tief in das Innere hineingetragen wird.

    Der Hurra-Patriotismus eines gewissen Rudolf Martin, seines Zeichens Regierungsrat, mischt sich mit überraschend triftigen politischen Prognosen:

    Sämtliche europäischen Staaten, keinen ausgenommen, bilden in hundert Jahren eine Staatengemeinschaft, welche den gegenseitigen Krieg ebenso ausschließt, wie heute etwa ein Krieg zwischen dem Königreich Bayern und dem Königreich Preußen oder dem Deutschen Reiche unmöglich ist. Der zunehmende Luftverkehr hat eine solche Menge gemeinsamer Bedürfnisse und Interessen geschaffen, dass in hundert Jahren sämtliche europäischen Staaten als Staatsgemeinschaft ein gemeinsames europäisches Parlament und eine gemeinsame europäische Gesetzgebung haben.

    Der Luftverkehr also ist schuld. Dabei hatte er vor 100 Jahren noch nicht einmal begonnen. Die ersten Motorflugapparate wurden, als dieses Buch in Druck ging, gerade erst getestet. Doch das ließ manche Autoren bereits von interstellaren Verbindungen träumen. Der Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika, Carl Peters, ein Herrenmensch, wie er im Buche steht, ergötzte sich nicht nur an der Fremdheit der Schwarzen am Kilimandscharo, die er reihenweise totschießen ließ, sondern übertrug seine Entdeckungs- und Begegnungslust auch gleich auf die Bewohner fremder Himmelskörper.

    Eine überplanetarische Verbindung war bislang nur mit dem Mars erzielt worden; und gerade von den drahtlosen Stationen der Pole aus. Jedoch hatte man von dort wirkliche Kunde immer noch nicht erzielt. Elektrische Stöße, welche von der Erde hinübergetrieben wurden, waren beantwortet. Man hatte eine Art von Codebuch, die Sonnenvorgänge und andere astronomische Vorgänge betreffend, zusammengestellt, und war augenscheinlich von der anderen Seite verstanden. Astronomische Beobachtungen konnte man sich jetzt ganz gut mitteilen. Aber sobald es sich um Kunde von Geschichte, Sitte und Völkerleben handelte, versagte der Vermittlungsapparat durchaus. Augenscheinlich lebte und dachte und plante auf dem Mars ein ganz anderes Lebewesen als hier. Selbst die einfachsten irdischen Begriffe versagten dort.

    Anscheinend sind die Marsianer genauso primitiv wie Afrikaner. Im Übrigen machte das Weltall beim Erscheinen dieses Buchs den Menschen gerade grimme Mine, weil sich der Halleysche Komet, bereits Jahrhunderte zuvor als Unglücksbringer identifiziert, erneut im Anflug auf die Erde befand. Von der Presse angeheizt, breitete sich im ganzen Abendland eine Art Massenhysterie aus, die auf Untergangsfantasien wie der folgenden beruhte:

    Ohne jede vorherige Warnung würden wir plötzlich in die Dunstmasse des Kometen hineingeraten. Vielleicht würde ein mächtiger Sternschnuppenfall eintreten, vielleicht würden Meteore niederfallen und unsere Erde erreichen, vielleicht aber auch nicht. Wahrscheinlich würden wir nichts besonderes sehen und nichts besonderes merken, bis wir plötzlich mitten drin wären in der Katastrophe. An jenem Tage würden die Vögel leblos aus der Luft stürzen; ein Regen aller, ihrer Lebenskraft beraubten fliegenden Insekten würde auf die Erde niedergehen; der Eisbär würde taumelnd neben seiner Beute niedersinken, der Eskimo würde von plötzlicher Angst und Beklemmung getrieben aus seiner Hütte stürzen und bewußtlos vor deren Eingang zusammenfallen. Jedes Wesen, das atmet, würde nach Atem ringen und, sein Bewußtsein verlierend, zusammensinken.

    "Würde", "wäre", "vielleicht" und "wahrscheinlich": Die französische Astronomin Gabrielle Renaudot verließ damit durchaus das wissenschaftliche Terrain, um die Unheilserwartungen ihrer Zeitgenossen zu bedienen. Damit sorgte sie immerhin für einen apokalyptischen Kontrapunkt in dieser sonst durchweg aus enthusiastischen Fortschrittsfantasien bestehenden Textsammlung. Offenbar ging man davon aus, dass die zivilisatorische Entwicklung allemal zu paradiesischen Zuständen führen werde; nur eine kosmische Katastrophe könnte den herrlichen Hundertjahre-Horizont noch trüben.

    Es besteht gar kein Zweifel darüber, dass wir zu der Annahme berechtigt sind, die Zukunft werde dem Radium ein Zeitalter völliger Krankheitslosigkeit danken. Noch seltsamer als alle diese Wunderkuren muss uns die sichere Aussicht erscheinen, dass auch das Alter künftighin seinen Einfluß auf unseren Organismus verlieren, und dass es kein Altern mehr geben wird. Die kommenden Geschlechter werden ewig junge Menschen hervorbringen, Menschen voll physischer Kraft und voll Schönheit, Menschen, die vom Kranksein nichts wissen und alle Berichte über Krankheiten und Seuchen als seltsame Märchen aus einer fernen, fernen, vergessenen Welt betrachten werden.

    Obwohl die Genforscher ihr Möglichstes tun, müssen wir doch heute feststellen, dass diese Prophezeiung noch nicht eingetroffen ist. Hingegen weiß man mittlerweile, dass die auf das Radium gerichteten Heilserwartungen just wegen der damit verbundenen Genschädigungen übertrieben waren. Man traute dem strahlenden Element übrigens noch sehr viel mehr zu: Nicht nur Gesundheit und ewiges Leben sollte es den Menschen bringen, sondern auch des Nachts für eine schummrige Beleuchtung in den Städten sorgen, indem die Hausfassaden mit radiumhaltiger Farbe angestrichen werden, ganz zu schweigen von der Waffentechnik, die dem, der Radiumstrahlen einsetzt, absolute Überlegenheit gewährt.

    Es gibt eine bestimmte Art futuristischer Fantasien, die überall in der Science-Fiction-Literatur anzutreffen ist und eigentlich nur in einer quantitativen Übersteigerung altbekannter Phänomene besteht. Dann werden einfach höhere Hochhäuser gebaut, schnellere Verkehrsmittel benutzt, und auch Schlachten werden in kolossalen Größenordnungen geschlagen. Das Gewaltsame in diesen Vorstellungen parodierte der österreichische Komponist Wilhelm Kienzl, der sich von der Neuen Musik etwa eines Richard Strauß, den er Laufvogel nannte, überfordert fühlte.

    Man wird Baßflöten und Diskantfagotte, 12saitige Universal-Geigen und Sopran-Pauken konstruieren und verwenden, von den ins Ungeheuerliche gesteigerten Detonationen und hypercharakteristischen Geräuschen der Schlag- und Lärminstrumente gar nicht zu reden, deren heute schon hochentwickelte Vielfältigkeit u.a. noch durch Kanonen, Dynamit-Explosions- und Erbeben-Einsturz-Maschinen erhöht werden wird.

    Während also die Musik zum Lärm ausartet, wird auch in der bildenden Kunst eine Größenanpassung stattfinden, weil man wegen des Luftverkehrs die Werke mehr von oben betrachten wird:

    Im Geiste sehe ich schon die Dünen der holländischen Küste, die Gletscherfirne der Alpen, die endlosen Sandstrecken der afrikanischen und asiatischen Wüsten, die riesigen Steppen Amerikas, die Dschungelfelder von Indien und die Eisfelder der Polargegenden mit bunten, gen Himmel schreienden Plakaten bedeckt, und ich freue mich, dass ich jene Zeit nicht mehr erlebe.

    Der österreichische Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr nahm indessen die soziale Stellung des Autors ins Visier und orakelte:

    Das Kennzeichen der Literatur in hundert Jahren wird es sein, dass es keine Literaten mehr geben wird, nämlich keinen besonderen Stand, der das Privileg hat, für die anderen das Wort zu besorgen, wie der Bäcker das Brot und der Metzger das Fleisch.

    Eine hochmoderne Theorie, die wir inzwischen durch Andy Warhols Forderung nach einer Viertelstunde Ruhm für jedermann sowie durch die zahllosen Kursangebote in therapeutischem Schreiben bestätigt finden. Bahr machte sich über diese Deprofessionalisierung lustig und erörterte auch die Frage, wie denn wohl eine Literatur aussehen werde, die nicht zum Zweck des Lebensunterhalts ihres Verfassers entstehe, sondern aus innerer Notwendigkeit.

    So ist die Zukunft der Künste abgedeckt: laute Musik, gigantische Monumente und ein Literaturbetrieb ohne Literaten. Und wie steht es um den Sport?

    Der Sport der Zukunft wird der Sport der rasenden, sich überbietenden Geschwindigkeiten sein.

    Neben den technischen Prognosen unserer Hobby-Wahrsager interessiert aber vor allem, wie die Entwicklung der inneren Verfassung von Staat und Gesellschaft gesehen wird. Darüber haben sich sogar einige der prominenteren Autoren dieses Buches ausgelassen, zum Beispiel der sozialdemokratische Vordenker Eduard Bernstein, der zu einer Zeit, da Deutschland noch ein Kaiserreich war, mit unaufgeregter Bestimmtheit das Heraufkommen der Demokratie ankündigte und zugleich die wirtschaftlichen Notwendigkeiten im Blick hatte, welche einem exzessiven Sozialismus schon einen Riegel vorschieben würden.

    Die Idee der Arbeiterklasse ist die Demokratie, die Demokratie in Staat, Gemeinde und Wirtschaft. Je nach den Umständen, unter denen sie zum Durchbruch kommt, werden sich ihre ersten Wirkungen gestalten: Unorganisch oder organisch, das heißt mehr zerstörerisch oder mehr aufbauend. Ob aber das eine oder das andere stattfindet, das Ende wird immer sein, dass das Bedürfnis der Wirtschaft und die Anforderungen der zweckmäßigsten Art, zu wirtschaften, über alle doktrinären Ideen den Sieg davontragen werden. Es wird daher voraussichtlich im Verstaatlichen und Kommunalisieren Maß gehalten, der privaten wirtschaftlichen Betätigung, sei es von Genossenschaften, sei es sogar von Einzelnen, erheblicher Spielraum gelassen werden. Daher wird es zum Beispiel auch innerhalb bestimmter Grenzen wahrscheinlich noch Profit, das heißt Ungleichheit der Einkommen, bzw. Möglichkeiten der Vermögensbildung geben.

    Während vor hundert Jahren allerlei wild ausgedachte Sozialutopien en vogue waren, las Bernstein einfach die Statistiken seiner Zeit und leitete daraus die künftigen Trends ab: Rückgang der Landwirtschaft, Wachstum der Städte, Entwicklung der Montanindustrie und Einsetzung der Arbeiterklasse in ihre Souveränitätsrechte.

    Die schwedische Reformpädagogin Ellen Key malte sich die soziale Lage der Frauen in hundert Jahren aus und sparte dabei nicht mit ironischen Bemerkungen über das allgemeine Emanzipationspalaver, das Diktat keimfreien Gesundheitsstrebens und die Angleichung der Geschlechter – eine seherische Vorwegnahme unserer Fitnesswahn-und-Unisex-Epoche, in der Kinder auch bereits in vitro gezeugt werden.

    Das Gesellschaftsleben ist eine Gesellschaftspflicht, und der Einsame wird als anarchistischer Attentäter betrachtet. Man trifft sich in Sport- und Diskussionsklubs zu einem Verkehr, welcher keine materiellen Genüsse verlangt. Seine Eßpillen nimmt jeder aus seiner Schachtel ein. Nur sehr alte Leute, die sich aus dem zwanzigsten Jahrhundert noch die Lust an den alkoholfreien Weinen, an den nikotinfreien Zigarren und dem coffeinfreien Kaffee bewahrt haben – die einzige Form, in der Genußmittel noch zu finden sind – schleichen zu dem einen oder anderen geheimen Automaten, um dort die niedrigen Bedürfnisse zu befriedigen, die die jüngere Generation verachtet. Wenn diese masculinfreien Männer und femininfreien Frauen zusammentreffen, dann ist der einzige Stimulus der Austausch sozial-allgemeinmenschlicher Gedanken. Der männliche und der weibliche Typus sind in so hohem Grade verschmolzen, dass der Blick nur durch gewisse, aus Zweckmäßigkeitsgründen noch beibehaltene Verschiedenheiten in der Kleidung die Geschlechter unterscheiden kann.

    Wie aber werden diese gemischtgeschlechtlichen Diskussionsgruppen ihre Freizeit verbringen? Der Schriftsteller Alexander von Gleichen-Rußwurm, ein Urenkel Friedrich Schillers und ein eher tragikomischer Fall der deutschen Literatur, der später wegen einer grotesken Betrugsaffaire als "Mäusebaron" in die Geschichte einging, steuerte ein paar Überlegungen über die Zukunft der Geselligkeit bei.

    Da nun allem Anschein nach nicht nur der Mann sondern auch die Frau außerhalb des Haushalts in steigendem Maße beschäftigt sind, und da fremde Leute, das heißt hauptsächlich Dienstboten, sich immer weniger zuverlässig erweisen, wächst das Bestreben, die Bürde der eigenen Wirtschaft abzuwerfen und im frohen, komfortablen Kommunismus des vornehmen Hotels aufzugehen.

    Leider hat sich diese sympathische Idee bisher in der Wirklichkeit nicht recht durchsetzen können, und die meisten von uns müssen auch im Jahr 2010 noch auf den frohen, komfortablen Kommunismus des vornehmen Hotels verzichten, was wieder einmal zeigt, dass unsere Welt weiterhin Entwicklungspotenzial besitzt.

    Dieses Buch war ein drolliger Versuch, das Entwicklungspotenzial vor hundert Jahren in den Blick zu nehmen, getrennt nach Technik und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, Religion, Sport und Kunst. Allerdings vermag die systematische Anlage nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es sich um ein heterogenes Sammelsurium handelt, das in eiliger und oberflächlicher Weise zusammengeschustert wurde. Nicht einmal das Inhaltsverzeichnis der Originalausgabe ist vollständig, und gleich mehrere Autorennamen sind mehrfach falsch geschrieben. Die Berliner Verlagsanstalt Buntdruck war eben eher auf Postkarten und Werbeprospekte spezialisiert.

    Es wäre allerdings angebracht gewesen, im Vorwort dieses Nachdrucks die Editionsgeschichte aufzuklären und wenigstens ein paar Informationen über die obskursten der 23 beteiligten Autoren beizusteuern. Das leistet Georg Ruppelt, Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek, leider nicht. Er beschränkt sich darauf, einen Abriss der futuristischen und utopischen Literatur im Allgemeinen zu geben und ansonsten den Inhalt des vorliegenden Werks zusammenzufassen.

    Dieses Werk als solches ist aber keine wirkliche Entdeckung. Es erfährt zwar durch den Nachdruck zum hundertjährigen Jubiläum berechtigterweise besondere Aufmerksamkeit, aber es wurde in der Vergangenheit immer wieder nachgedruckt, zuletzt vor sechs und vor 22 Jahren. Und es wird von unseren heutigen Trend- und Zukunftsforschern oft und gern zitiert, weshalb man bei manchen Zitaten völlig unbekannter Verfasser gern endlich wüsste, um wen es sich dabei handelt – und ob der Name bloß falsch geschrieben oder gar erfunden wurde.

    "Die Welt in 100 Jahren", hg. von Arthur Brehmer. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1910, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010, 340 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-487-08304-9