Armin Nassehi sagt: "In Zeiten immer kürzerer Krisenzyklen will das 'Kursbuch' verschiedene Perspektiven zusammenbringen. Es lässt Wissenschaft und das Politische, die Kunst, die Religion und die Kultur zu Wort kommen. Und es holt endlich die Wirtschaft ins Boot".
Der Soziologieprofessor aus München ist der Herausgeber des neuen "Kursbuch", das seit 2012 im Hamburger Murmann Verlag erscheint und eine zentrale Stimme und ein neues Forum für gesellschaftliche, ökonomische und politische Debatten sein will. Das ursprüngliche "Kursbuch" war über Jahrzehnte hinweg eine Institution.
1965 von Hans Magnus Enzensberger in Zusammenarbeit mit Karl Markus Michel gegründet, prägte es die intellektuellen Diskurse des Landes entscheidend mit.
(Teil 4 am 24.7.16)
Das komplette Gespräch zum Nachlesen:
Frank Kaspar: "Manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein Illtum!" Dieses Gedicht von Ernst Jandl konnte man vor nicht allzu langer Zeit gleich mehrfach im Kursbuch lesen, das eine ganze Ausgabe dem Thema "Rechte Linke" gewidmet hat. Es war ein Heft über Unterschiede und die Schwierigkeit, zu unterscheiden. Da ging es um die Emanzipation von Linkshändern und darum, wie die rechte und die linke Gehirnhälfte zusammenarbeiten. Aber eben auch um die Frage, ob die Begriffe rechts und links in der Politik überhaupt noch taugen, um uns Orientierung zu geben. Armin Nassehi, wie verhält es sich? Werch ein Illtum? Sind lechts und rinks sich wirklich zum Velwechsern ähnlich geworden? Oder drohen wir eher, Unterschiede zu verwässern, wenn wir da keinen Unterschied mehr machen?
Armin Nassehi: Also, einen Unterschied können wir ja schon deshalb machen, weil wir Witze über die Begriffe machen können. Das heißt, dass wir sozusagen in einem Gedicht darstellen können, dass dies unterschiedliche Begriffe sind, wir wissen sofort, dass da etwas nicht stimmt. Der Hinweis, dass da etwas nicht stimmt, ist ja schon ein Hinweis darauf, dass wir zwischen rechts und links unterscheiden können. Aber wir stellen fest, dass diese Unterscheidung nicht mehr so eindeutig diskriminiert.
Wir kennen heute Rechte, die durchaus linke Motive verwenden, zum Beispiel Kapitalismuskritik oder eine Idee des Revolutionären. Wir kennen Linke, die den Nationalstaat und die nationale, eher ethnisch homogene Form der Solidarität wiederentdecken. Also, man kann durchaus sagen, dass diese Unterscheidung nicht so eindeutig ist, wie wir denken, dass sie sei. Rechts und links ist ja interessanterweise auch oft eine Unterscheidung in Gut und Böse. Und da weiß man auch bisweilen nicht mehr, sind die Rechten immer die Bösen und die Linken immer die Guten? Vielleicht ja, vielleicht nein. Also, verwechseln kann man sie in der Tat nicht. Aber so eindeutige Chiffren dafür zu haben, was es eigentlich bedeutet, das haben wir auch nicht.
Kaspar: Also, die Unterscheidung wird schwieriger, vielleicht gerade deshalb ist das Thema auch für Sie wieder auf der Agenda. Das aktuelle Heft des Kursbuchs widmet sich dem Thema "Rechts. Ausgrabungen", da untersuchen Sie zentrale Begriffe der rechten Weltanschauung wie Nation, Nationalismus. Was bedeutet denn im Kern heute eigentlich rechts, kann man das sagen?
Nassehi: Ja, nach meinem Verständnis sind eigentlich alle Denkungsarten, bei denen wir Menschen eigentlich nur als Mitglieder von Großgruppen - ob das Ethnien sind, ob das Völker sind, ob das Kulturen sind, ob das Konfessionen sind, womöglich sogar Regionen sind, ob das Leute mit bestimmten genetischen Ausstattungen sind - Sarrazin hat gerade wieder ein Buch geschrieben, in dem das eine Rolle spielt -, also, wenn wir Leute uns nur so vorstellen können als Mitglieder von solchen Großgruppen, in denen sie, ja, man könnte fast sagen qua Natur eingeordnet sind, dann haben wir eine rechte Denkungsart.
Also, wenn wir eindeutig zwischen uns und den anderen kollektiv unterscheiden. Und wenn wir gleichzeitig auch noch eine Art Rangunterschied zwischen diesen Gruppenphänomenen, zwischen diesen Kollektivitäten machen, dann haben wir es eher mit rechten Denkungsarten zu tun. Das ist jetzt natürlich die Antwort eines Soziologen, die ist nicht besonders historisch tiefenscharf, die ist auch nicht empirisch tiefenscharf, sondern das ist eine, die eine Struktur versucht, zu beschreiben. Und wenn man so denkt, dann identifiziert man manches als rechts, was sich selber womöglich gar nicht als rechts ansehen würde. Und man könnte ja das Pendant machen und fragen, was ist denn dann eigentlich links? Und links ist nicht unbedingt nur, dass wir die Menschen nicht so einteilen, sondern unter einer linken Denkungsart würde ich verstehen, dass wir eine Idee einer Gesellschaft haben, die wir, ja, gewissermaßen strategisch umbauen können, die uns wie ein Objekt gegenübersteht. Und wir wollen sie umbauen.
Man braucht dann den neuen Menschen, der sich angemessen nach diesem neuen Umbauplan verhält, das wäre eine eher linke Idee. Und schon diese beiden Beschreibungen zeigen, dass sie im Hinblick auf das, was wir üblicherweise rechts und links nennen, nicht eindeutig diskriminieren.
Kaspar: Wenn ich jetzt nicht den Soziologen, sondern den Herausgeber des Kursbuchs, den Publizisten Armin Nassehi in Ihnen anspreche: Wenn wir nach Europa schauen, dann sehen wir ja im Moment in vielen Ländern die Entwicklung, dass Menschen sich in der Weise, wie Sie es jetzt beschrieben haben, auf solche Gruppenzugehörigkeiten berufen, dass populistische, rechtsnationale Parteien oder Bewegungen den öffentlichen Diskurs bestimmen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung, und vor allen Dingen: Welche Antworten haben Sie als Publizist darauf? Welche Antworten darauf kann das Kursbuch geben?
Nassehi: Kursbuch ist nicht Verkünder einfacher Lösungen
Nassehi: Ja, das Kursbuch hat, wenn Sie mich als Herausgeber des Kursbuchs, als einer der Herausgeber mit Peter Felixberger zusammen des Kursbuchs fragen, dann fragen Sie mich gleichzeitig auch als Soziologe. Dann fragen Sie mich sozusagen als jemand, der diagnostiziert, dass wir feststellen müssen, dass in bestimmten gesellschaftlichen Situationen - das kennen wir aus der Geschichte schon etwas länger - die Wahrscheinlichkeit für eher rechte kollektive Selbstbeschreibungen steigt. Also, dort, wo wir Unsicherheit erleben, dort, wo es Gesellschaften offenbar nicht gelingt, einen Alltag in so alltäglicher Indifferenz zu führen, dort, wo es gelingt, Angst zu schüren, dort, wo man Sorgen etablieren kann, dort, wo man mit der Komplexität der Welt nicht eindeutig umgehen kann, etwa zu sagen, dass ökonomische Pläne oder politische Erwartungssicherheit und ähnliche Dinge nicht so einfach funktionieren, es sehr erwartbar wird, dass die Menschen auf rechte Chiffren abfahren.
Also, rechts würde ja dann heißen, wenn Sie auf den Rechtspopulismus in Europa anspielen, überall dort Parteien zu wählen, die sich selber als Retter des Eigenen, als Verkünder relativ einfacher Lösungen, als Kritiker dieser komplexen Institutionen wie der Lügenpresse und der Kirchen und der Parteien und der Parlamente gerieren. Und als Publizist würde ich sagen, da brauchen wir das, was, na ja, ganz traditionell Aufklärung über genau diesen Mechanismus. Aber eben eine Aufklärung, die sich auch den, ja, den Undeutlichkeiten stellt, die zeigt, dass es nicht einfach damit getan ist, zu sagen, das Rechte ist schlecht, Punkt. Sondern es womöglich einzuordnen in historische Entwicklungen, einzuordnen in gesellschaftliche Entwicklungen, im Übrigen auch einzuordnen im Hinblick darauf, was denn eigentlich die Alternative zum Rechten sein kann.
Kaspar: Welche Bedeutung, welche Auswirkung kann es denn eigentlich haben, wenn ein Medium wie eine Kulturzeitschrift, wenn Publizisten, intellektuelle Publizistik, sage ich mal, solche aktuellen Entwicklungen aufgreift? Hat das überhaupt einen Effekt zum Beispiel auf die politische Auseinandersetzung, die in der Weise, wie wir sie jetzt gerade besprochen haben, sehr konfrontativ, sehr populistisch im Augenblick teilweise abläuft? Hat das einen Effekt oder ist das, was zum Beispiel im Kursbuch, in den anderen Zeitschriften stattfindet, auf einem anderen Planeten, in so einem Salongespräch angesiedelt, was eigentlich in diese andere Sphäre gar nicht hineinwirkt?
Nassehi: Es ist auf dem gleichen Planeten. Es ist auf einem Planeten, in dem das Einwirken auf andere Sphären ohnehin schwierig geworden ist. Also, Ihre Frage ist eigentlich insofern schon sehr gut gestellt, als sie das Problem moderner Gesellschaften beschreibt. Wir sind eine Kulturzeitschrift und es gibt eine Qualitätspublizistik, könnte man sagen, eine intellektuelle Publizistik, die naiv wäre, wenn sie glaubte, dass sie mit ihren Chiffren Effekte im Sinne von Eins-zu-eins-Übertragungen erzielen könnte. Sondern die interessantere Frage ist ja, sich sozusagen selber Rechenschaft darüber abzulegen, welche Diffusionswege wir eigentlich finden.
Ich glaube, dass intellektuelle Publizistik - dazu gehören ganz unterschiedliche Formen, der längere Text, der kürzere Text, aber derjenige, der vielleicht sozusagen wirklich das Medium des Arguments besonders stark macht - eigentlich nur vorführen kann, wie man Selbstbeschreibungen von Gesellschaften, von Organisationen, von Parteien, von Staaten, aber auch von anderen Akteuren minimal verändern kann, um darin sozusagen Wirkungen dann zu erzielen. Ich glaube sehr stark daran, dass wir nicht direkt auf irgendetwas einwirken können, aber dass wir schon, sagen wir mal, indirekt steuern insofern, als wir Chiffren anbieten, die womöglich sonst nicht zur Verfügung stehen. Und so indirekt, so komplex, so, ja, man könnte sagen, diffundierend stellen wir uns unsere Wirkung vor. Wenn wir so naiv wären, zu glauben, in dass wir in der Lage wären, die Probleme der anderen mit unseren Mitteln lösen zu können, dann sollten wir aufhören, solche Texte zu schreiben.
Kaspar: Ist die Marke Kursbuch dafür heute noch von Bedeutung? Sie haben sich ja 2012 mit Peter Felixberger zusammen entschlossen, das Kursbuch wieder zu beleben, was 1965, gegründet von Enzensberger, in der Zeit sagen wir mal seine Blüte hatte oder eine große Breitenwirkung hatte, als es eine Art Forum der 68er-Revolte war. Was kann das Kursbuch als Kursbuch heute noch bewirken, was kann gerade dort veröffentlicht werden, gesagt werden, was ich vielleicht anderswo nicht lesen könnte?
Nassehi: Verbindungen herstellen
Nassehi: Sie fragten nach der Marke Kursbuch. Also, ich selbst war, bevor vom Kursbuch überhaupt die Rede war, schon auf der Suche nach so einer Art Diffusionsraum, um das noch mal so aufzunehmen, für die Übersetzung schwieriger akademischer wissenschaftlicher Denkungsarten in ein Forum, das zwar auch ein akademisch gebildetes Forum ist meistens, aber sozusagen jetzt nicht akademische oder wissenschaftliche, schon gar nicht soziologische Probleme lösen muss. Und auf dieser Suche gab es eine interessante Koinzidenz:
Der Verleger Sven Murmann hat was Ähnliches gesucht und Peter Felixberger, der Geschäftsführer im Murmann Verlag ist, war daran auch beteiligt. Und wir sind dann zusammengekommen. Ich hatte vorhin im Murmann Verlag auch schon ein Buch gemacht. Und ja, es ist quasi wie von selbst entstanden, die Idee: Mensch, eigentlich müsste man das Kursbuch wieder machen. Und ich bin also gerade Sven Murmann sehr dankbar, dass er sozusagen das auch offensiv aufgenommen hat. Und wir haben uns dann tatsächlich auch Gedanken über die Marke gemacht. Wir wollten nicht einfach jetzt irgendein Label übernehmen und dann sagen, jetzt sind wir das Kursbuch, sondern wir haben uns schon damit beschäftigt, was die Bedeutung des Kursbuchs in den 1960er- und 70er-Jahren war.
Und Sie sagten gerade, das sei vielleicht so ein bisschen die Speerspitze einer Bewegung gewesen. Interessanterweise war das Kursbuch das in der Tat, aber gleichzeitig auch immer ein skeptischer Beobachter dieser neuen Formen von Protest, ein skeptischer Beobachter von Kritik. Es war ein Forum des Kritisierens, aber gleichzeitig auch ein Forum der Problematisierung, was kann Kritik eigentlich leisten in der Gesellschaft. Es war ein Forum, in dem Themen gesetzt wurden, die man eigentlich nirgendwo sonst lesen könnte, von denen man nichts hörte, die zum Teil aus den sozialen Bewegungen kamen, aber zum Teil auch aus der Schriftstellerei, aus der Literatur und so weiter. Und in einer ähnlichen Situation sind wir auch, also gewesen. Heute muss man nicht mehr die Frage stellen, welche Themen kann man setzen, heute darf jeder über alles so lange wie möglich in unterschiedlichsten Medien reden.
Was wir heute eher für ein Problem haben, ist, die Frage zu stellen: Welche Wirkung hat das eigentlich, was man da redet? Wie bringt man Dinge zusammen, die man erst mal nicht zusammenbringt? Vielleicht ist das Problem 2012 dem 1965 insofern ähnlich, als es auch darum geht, sich zu fragen: Welche Rolle kann eine kritische Öffentlichkeit eigentlich in einer komplexen Gesellschaft spielen? Die Antwort von Enzensberger war, Themen zu setzen, dass sie überhaupt da sind. Unsere Antwort ist: Verbindungen herzustellen in einer Welt, in der ohnehin über alles viel zu lang und viel zu viel geredet wird, da vielleicht eine gelassene, ruhigere, langsamere Form reinzubringen.
Kaspar: Sie haben, als Sie wieder gestartet sind 2012, unter anderem im Editorial geschrieben: Das neue Kursbuch soll ein Forum für die Perspektivendifferenz sein. Da spricht der Soziologe. Das ist aber auch, was Sie gerade schon angesprochen haben, ein wichtiges Merkmal einfach unserer Gesellschaft, so wie Sie sie beschreiben jedenfalls. Sie sprechen von einer Gesellschaft, die man nicht mehr aus einer Zentralperspektive erfassen kann, die von Gleichzeitigkeiten, von parallelen Blicken, Perspektiven, Denklogiken geprägt ist. Wie bekommt man denn - vielleicht an einem kleinen Beispiel - diese sozusagen konkurrierenden oder voneinander abweichenden Blickrichtungen, Logiken, Denkweisen übersetzt oder zusammengebracht?
Nassehi: Ja, also, das ist in der Tat das Zentrum auch meines soziologischen Denkens, diese Art der Perspektivendifferenz auch ernst zu nehmen und wahrzunehmen. Moderne Gesellschaften zeichnen sich wirklich dadurch aus, dass zum Beispiel jemand, der ökonomisch handelt, ein anderes Problem lösen muss als jemand, der politisch handelt. Jemand, der medial handelt, ein anderes Problem lösen muss als jemand, der wissenschaftlich handelt. Und so weiter, und so weiter. Und das kann man nicht einfach harmonisieren, indem man das moralisch oder im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel unter eine Knute bringt. Und ja, ein Beispiel:
Ich nehme vielleicht mal ein Beispiel, das weit weg ist von dem, was wir normalerweise diskutieren: Ich mache sehr viel in meiner Forschung Medizinsoziologie, wir interessieren uns zum Beispiel dafür, wie in der Palliativmedizin, also der Medizin, die sich mit sterbenden Patienten beschäftigt, heute man nicht einfach mehr sagen kann, da gibt es die ärztliche Perspektive, die alles bestimmt, sondern dass man sagen kann, da kommen unterschiedliche Akteure auf Augenhöhe, die je unterschiedliche Probleme lösen. Das Ärztliche, das Pflegerische, das Seelsorgerliche, das Rechtliche, das, was eine riesengroße Rolle dafür spielt, die Frage sozusagen der Perspektive von Angehörigen und so weiter. Das ist ein ganz kleines Beispiel, an dem man sehr schön sehen kann, dass dort nicht nur unterschiedliche Interessen sind, sondern auch unterschiedliche Tools, mit denen man Probleme löst. Und das finden sie eigentlich bei fast jedem großen Problem der modernen Gesellschaft.
Und ich könnte Ihnen jetzt viele dieser Beispiele nennen, wo Perspektivendifferenz nicht aufzuheben ist, aber trotzdem Entscheidungen getroffen werden müssen. Und das ist eigentlich das, was uns auch interessiert, wenn wir solche Themen aufnehmen wie zum Beispiel jetzt das Thema, was eigentlich rechts ist. Dann wollen wir nicht wissen, was rechts ist, sondern da wollen wir wissen, wie eigentlich Leute aus ganz unterschiedlichen Perspektiven sich solch einem Thema nähern. Und dass die unterschiedlichen Beschreibungen in ihrer Unterschiedlichkeit schon einen Sinn haben. Und das ist genau die Aufklärungsarbeit, die das Kursbuch versucht, also die nicht einfach sagt, wir haben eine Programmatik und die ziehen wir jetzt entsprechend inhaltlich durch, sondern wir wollen in den Heften, die ja durchkomponiert sind, an einem bestimmten Thema zeigen, welche überraschenden Facetten solch ein Thema tatsächlich hat. Und dann tatsächlich Verbindungen schaffen, die Semantik der Verbindungen im Kursbuch - stammt übrigens schon von Hans Magnus Enzensberger -, Verbindungen schaffen, an die man im ersten Moment womöglich nicht gedacht hat.
Kaspar: Was heißt das eigentlich für die Rolle des Publizisten oder des Autors? Denn gerade der Essay, also der lange, elegant, gut argumentierende Text ist ja klassischerweise eigentlich auch mit so einem Rollenverständnis verbunden. Oder oft war es so, dass Autoren sich so verstanden haben, dass der gute Autor ein Thema durchdrungen hat, den Durchblick hat, weiß, zu welchem Schluss er gekommen ist. Und jetzt mit Elan und all seinem handwerklichen Können seine Perspektive darstellt und im besten Fall durchsetzt. Jetzt schreiben Sie, die neue Weise der Kritik müsste eigentlich eher in die Richtung gehen, dass ein Autor, ein Gesellschaftsdenker die eigene Beschränktheit im Blick hat und immer mitdenkt und -sieht, wo seine Perspektive endet und wo er sozusagen eben nicht den Gesamtdurchblick hat. Das ist aber glaube ich doch auch erst mal ein Lernprozess, wie sozusagen dann das neue Verständnis von Autor aussieht und was ein guter Essay ist! Was ist unter den Bedingungen ein guter Essay?
Nassehi: Guter Essay bietet Perspektivenverschiebungen
Nassehi: Na, Sie haben es ja fast schon gesagt, was ein guter Essay ist. Ein guter Essay ist heute nicht mehr der Intellektuelle, der gewissermaßen vor einem weißen Blatt Papier sitzt und eine Welt entwerfen kann und sich dann hinterher hochnäsig darüber wundert, dass diejenigen, die das lesen, nicht diese Welt leben, die da entworfen worden ist. Gewissermaßen eine Art Gottesposition vor dem weißen Blatt, bei dem man so tun kann, als würde man bei null beginnen. Das ist naiv, so kann man heute nicht mehr argumentieren. Sondern wir suchen uns genau diese Autorinnen und Autoren, die das tun, was Sie gerade gesagt haben. Ein Beispiel: Alfred Hackensberger hat in dem Kursbuch über Fremdheit, das wir gemacht haben, versucht zu zeigen, mal dieses Fremdheitsthema aus der Perspektive der Flüchtlinge zu sehen, warum wir denen eigentlich so fremd sind. Schon hat man eine ganz andere Perspektive und schon ist nicht mehr ein Intellektueller da, der hingeht und sagt, was Fremdheit ist, sondern der das an einem bestimmten Beispiel versucht, zu beschreiben.
Ich habe in meinem eigenen Beitrag versucht, zu zeigen, dass Fremdheit auch dort vorkommt, wo wir es gar nicht mit Fremden zu tun haben. Auch da sage ich jetzt nicht, wie wir mit dem Fremden umgehen müssen und wie die Lösung der Probleme ist, sondern mit einer Perspektivenverschiebung, überhaupt auf die Frage zu kommen, wie produzieren wir eigentlich Gemeinsames, vor dem etwas Anderes fremd ist? Das ist eine Frage, die nicht mehr diese, ja, wie soll man sagen, diese merkwürdige, hochnäsige Allmacht des Intellektuellen versucht, zu beschreiben beziehungsweise in Anspruch zu nehmen, sondern Sie haben es sehr schön gesagt, die Selbstbeschränkung dieser Perspektive. Ich meine, wenn man auf andere Perspektiven stößt, stößt man ja fast automatisch auf Selbstbeschränkung, weil dann die eigene Perspektive nur eine Perspektive unter anderen wird. Vielleicht - auf so einen Begriff wäre ich vor dem Gespräch jetzt gar nicht gekommen - ist es der demütigere Akteur und Autor, den wir da brauchen, als denjenigen, der sich Welten entwirft, wie er sie gerne hätte.
Kaspar: Um mal so ein paar Themen zu nennen, die Sie in den zurückliegenden Heften seit dem Neustart hatten: "Privat 2.0", da ging es um die Folgen der Digitalisierung. "Jugend forsch", das war ein Heft über neue Arbeitsformen, unter anderem die Beobachtung oder Selbstbeobachtung, dass Menschen um die 30 ganz selbstverständlich mit der Idee groß werden, dass man sich selber zu einer Marke macht oder einen Markenkern entwickeln und auch vorzeigen muss heutzutage. Also, das sind viele Querschnittsthemen, die eigentlich in ganz viele Bereiche der Gesellschaft hineingehen. Und man ist eingeladen eigentlich, so ein bisschen wie der Titel eines Buches, das Sie mal gemacht haben, "Mit dem Taxi durch die Gesellschaft", quasi so kreuz und quer in verschiedene Lebensbereiche, Wissensgebiete hineinzufahren. Hat bei all dem denn dennoch das Kursbuch eine Richtung, einen Kurs?
Nassehi: Na ja, wenn dieser Kurs ein politischer Kurs sein sollte, dann würde ich sagen: Nein. Wir sind weder rechts, noch links, noch liberal, was immer das bedeuten sollte. Aber es hat natürlich einen Kurs, es hat genau den Kurs, sich Gedanken darüber zu machen, was das denn eigentlich heißt, in eine Richtung zu denken. Also, Sie haben ja einige Themen erwähnt, wenn man dieses Beispiel über die Jugend, wir haben da junge Leute - das heißt unter 36, das ist jetzt auch nicht so jung, aber aus der Perspektive der beiden Herausgeber, 20 Jahre jünger als diese Herausgeber - mal versucht, schreiben zu lassen und haben festgestellt, dass es ganz spannend ist, dass da zum Teil ganz andere ... Konfliktlinien will ich jetzt gar nicht sagen, aber ganz andere Unterscheidungsmerkmale, die die Beschreibungen ausgemacht haben, als wir das erwartet haben. Und schon haben wir sozusagen eine Richtung, bei der wir sagen können:
Uns interessiert, wie sich die Dinge womöglich neu ordnen, das ist die Richtung des Kursbuchs. Das Kursbuch hat auch die Richtung, zu sagen, wir wollen auf keinen Fall vorher schon, bevor wir die Hefte komponieren, schon so ein Ergebnis vorgeben. Also, insofern ist die Richtung nicht eine Richtungslosigkeit und Beliebigkeit, ganz im Gegenteil, sondern der Versuch eigentlich, bei der Suche nach Richtungen ein bisschen zu helfen. Und ich glaube, dass das auch der modernen, gegenwärtigen Gesellschaft sehr, sehr angemessen ist, übrigens auch in einer Tradition stehend. Das alte Kursbuch war natürlich links, aber es hat schon die Frage, was es denn bedeutet, links zu sein, bisweilen ironisch gebrochen, bisweilen nicht so eindeutig beantwortet, was zum Teil ein großes Ärgernis für viele richtige Linke war. Insofern ist diese Tradition, für etwas Bestimmtes zu stehen, eher für eine bestimmte Denkungsart zu stehen, aber nicht für eine bestimmte Richtung.
Kaspar: Jetzt sind Sie mit dem Kursbuch auf Reisen, gemeinsam mit dem Goethe-Institut gibt es gerade in diesem Jahr die Veranstaltungsreihe "Kritikmaschine", eine Art Diskurstournee. Sie sind mit verschiedenen Vortragsthemen in verschiedenen Ländern unterwegs, Riga, Moskau, Sankt Petersburg waren bereits Stationen, es kommen noch New York, Los Angeles und Lissabon unter anderen. Wie ist es um die internationale Öffentlichkeit der Kulturzeitschriften oder des Feldes, in dem Sie sich da bewegen mit dem Kursbuch, eigentlich bestellt heute? Gibt es eine gegenseitige Wahrnehmung, werden Themen, Texte aufgegriffen zum Beispiel auch von englischsprachigen Zeitschriften, die die deutschen Debatten betreffen? Welche Erfahrung machen Sie vielleicht jetzt gerade auch mit dieser Tour, auf der Sie da sind?
Nassehi: Qualitätspublizistik ist sehr national organisiert
Nassehi: Es ist ganz interessant, dass überhaupt die Qualitätspublizistik viel nationaler organisiert ist, als man so denkt, übrigens auch im Wissenschaftsbereich, wo die Wissenschaften ja sehr stark internationalisiert, globalisiert sind, was natürlich an der sprachlichen Performance liegt. Wir haben den Wunsch, dass wir das Kursbuch nicht nur international öffnen, sondern auch mit dem Kursbuch in globale Räume gehen. Da ist die strategische Partnerschaft mit dem Goethe-Institut für uns tatsächlich eine ganz wunderbare Sache, mit der Kritikmaschine tatsächlich auf Reisen zu gehen. Ich werde selbst im Herbst nach Boston und Los Angeles reisen und dort übrigens auch mit dem Herausgeber des Baffler zusammentreffen und womöglich eine Partnerschaft auch von Zeitschriften zu initiieren, wo wir wechselseitig womöglich voneinander lernen können. Ich finde ja gerade an der amerikanischen Qualitätsöffentlichkeit, wenn man diesen Begriff mal so nennen soll, sehr interessant, dass das zwar sehr ähnlich ist, aber zum Teil ganz andere Themen eine Rolle spielen und die Idee von bürgerlicher Öffentlichkeit ganz anders formuliert wird, als wir das in Deutschland und Europa kennen.
Friedrich von Borries, der auch einer der Initiatoren der Kritikmaschine ist, ist jemand, der versucht, sozusagen auf dem Gebiet des Ästhetischen hier auch Verbindungen zu schaffen. Also, da wollen wir mehr machen, als derzeit tatsächlich stattfindet. Aber man muss auch analytisch tatsächlich sehen, diese Öffentlichkeiten sind, auch wenn sie über Globalisierung reden, sehr oft nationale Öffentlichkeiten. Und das muss man in der Tat zu überwinden versuchen. Wir werden viel stärker durch solche Partnerschaften dann auch Texte aus anderen Ländern bekommen, und diese Blicke - wieder Perspektivendifferenz -, die werden auf jeden Fall Folgen haben für die Kursbücher.
Kaspar: Wenn wir hier auch darüber reden, wo die Kritik heute ihren Ort hat, wo kritische Intelligenz ihren Ort hat, würde ich gerne noch auf ein einzelnes Heft schauen als Beispiel: "Was macht die Kunst?", haben Sie auch mal gefragt im Kursbuch, und Sie haben da auch in ganz verschiedene Bereiche geguckt. Es ging um die Kunst der Zauberei und die Kunst des Managements, aber was mich interessieren würde, wäre eine Entwicklung, die, ich glaube, Philipp Felsch beschrieben hat in seinem Buch über die Theorieversessenheit der 70er- und der Folgejahre. Also, es gibt offenbar so eine Wanderung der Ambitionen, Ideen, Ideale, auch der politischen, dieser 68er-Jahre in die Kunstszene hinein. Künstler müssen sozusagen heute ganz selbstverständlich die Theorie oder Diskurse zu ihren Werken mitliefern, müssen ihre eigene Relevanz irgendwie behaupten und argumentativ untermauern. Heißt all das aber auch, dass sozusagen diese besonderen kulturpolitischen Ideen von damals in so eine Vernissagenkonversation, Sekt-und-Häppchen-Gesprächsform hineingewandert sind, oder haben sie ein vielleicht auch wichtiges Zuhause gefunden? Gibt es in der Kunst irgendwie noch eine Art Refugium der Revolte?
"Mehr Kritik würde heißen auch mehr Selbstkritik"
Nassehi: Es ist ja auch umgekehrt. Also, auch die Sozialphilosophen, die kritischen Philosophen, denken Sie an Boris Groys, Kursbuch-Autor, denken Sie an Fredric Jameson, die ja sozusagen die Kritik selbst in der Kunst verorten, in der Ästhetik, was übrigens ein Topos ist, den wir bereits aus dem 19. Jahrhundert kennen, also, denken Sie an Schiller, denken Sie an Schelling, wo sozusagen die Kunst eine besondere Erkenntnisform gewesen ist, denken Sie an Theodor Adorno. Das sind ja durchaus gar keine ganz neuen Formen, dass man der Ästhetik das zugewiesen hat. Die interessante Frage ist, wie kann Kritik eigentlich heute möglich sein? Ich glaube, dass wir wieder auf die Kunst kommen, wenn es um Kritik geht, weil wir womöglich auch die ästhetischen Formen der Kritik uns angucken müssen. Wenn ich mal den provokativen Satz sagen darf, da muss man ja sagen:
Kritik ist heute sehr, sehr konservativ geworden. Also, viele Kritiker, die wissen genau, was man kritisieren muss. Kapitalismuskritik ist eine Marke, die funktioniert unglaublich toll, man weiß, wer die Guten, man weiß, wer die Bösen sind, man weiß, wo man ansetzen muss. Und es ist oftmals mehr Posing als tatsächlich Theorie dahinter, das muss man leider so sagen. Und jetzt ist die interessante Frage: Wie können wir eigentlich heute Kritik üben? Und Kritik ist eben heute nicht mehr das Urteil aus der Perspektive dessen, der weiß, wie die Dinge passieren, sondern Kritik würde heute zum Beispiel bedeuten, wenn wir Leute, die in bestimmten Bereichen gemeinsame Lösungen finden müssen, darauf hinweisen, dass sie in der Lage sein müssen, ihre Perspektiven in die ihres Gegenübers zu übersetzen, dann hat das ein riesiges kritisches Potenzial, weil man eigentlich dann erst auf Lösungsperspektiven kommt, weil man dann erst darauf kommt, tatsächlich in der Gesellschaft etwas erreichen zu können und nicht nur in einem Posing auf der richtigen Seite stehen zu wollen.
Ich muss es tatsächlich so deutlich sagen. Mehr Kritik würde heißen auch mehr Selbstkritik. Unsere europäische Denktradition hat zunächst einmal Kritik begonnen als Erkenntniskritik: Was kann ich eigentlich wissen? Wie kann ich eigentlich zu moralischen und zu ästhetischen Urteilen kommen? Wie kann ich überhaupt Gesellschaften beschreiben? Der Wissenschaftler - und es tut mir leid, ich muss auch als Wissenschaftler reden - muss immer Methodenkritik machen: Sind seine Sätze irgendwie gedeckt? Und auch der Kursbuch-Autor und die Kursbuch-Autorin sind niemals Leute, die einfach sagen: Leute, so ist das und so müssen wir das jetzt tun. Sondern er fragt nach den Bedingungen, der Möglichkeit, bestimmte Dinge sehen zu können oder entsprechend umsetzen zu können. Das versuchen wir schon durchzuhalten. Und das, finde ich, ist besonders kritisch. Aber nicht das Posing, zu sagen, ich kenne den Gegenstand und er müsste eigentlich so aussehen. Das ist eine Form von Kritik, um die sich die Gesellschaft bisweilen gar nicht kümmert.
Früher hat man den Spruch gemacht: Wenn Kritik was ändern würde, dann hätte man sie längst verboten. Da ist irgendwie vielleicht was dran. Diese Kritik ändert tatsächlich nichts, es sind eher die kleinen Perspektivenverschiebungen. Übrigens, ich muss es immer wieder sagen: Das galt auch schon für das alte Kursbuch, ja. Das alte Kursbuch hat gerade die Kritiker auf ihre blinden Flecke hingewiesen. Denken Sie an die Begleitung etwa der Grünen, der Ökologiebewegung durch das Kursbuch, das war keine Hurra-Begleitung, sondern das war der Versuch, Leute, lebt ihr vielleicht bisweilen auch in romantischen Vorstellungen über die Moderne, die so angemessen nicht sind? Davon haben dann alle Seiten gelernt.
Kaspar: Um abschließend noch mal darauf zu schauen, in welchen Händen das neue Kursbuch jetzt gelandet ist, Armin Nassehi: Sie sind ja nicht nur ambulanter Soziologe und motorisierter Flaneur, der mit dem Taxi durch die Gesellschaft fährt, sondern in Ihrem Privatleben auch Sänger, Stimmlage Bass. Hat das neue Kursbuch so eine Art Generalbass, an dem man seine Haltung oder seinen Grundton ablesen oder abhören könnte?
Nassehi: Der Generalbass - um das aufzunehmen -, der ist ja eine sehr subtile Form. Der ist ja irgendwann gar nicht hörbar, weil er immer da ist. Man würde aber hören, wenn er nicht da ist. Und das wäre in der Tat eine schöne Metapher auch für das, was wir mit dem Kursbuch machen, vielleicht nicht zu laut darauf hinzuweisen, dass man gewissermaßen bestimmte Dinge durchhalten muss, sie aber durchhalten. Also, wenn das Kursbuch der Generalbass eigentlich von so etwas wie öffentlichem Diskurs sein könnte, dann würde uns das schon sehr entgegenkommen, nämlich in dem Sinne, dass der Generalbass ja in der Lage sein muss, auf kleine Veränderungen in den höheren Stimmen so zu reagieren, dass die eine Kraft haben können. Also, das kennt man sozusagen, wenn ein vierstimmiger Chor, der braucht den Continuo, also den Basso continuo eigentlich dafür, den oberen Stimmen Spielmöglichkeiten zu geben. Und bisweilen - das weiß ich als Basssänger - kann auch der Bass zu sehr melodischen Formen kommen. Das gelingt aber nur dann, wenn die oberen Stimmen eine Sicherheit bekommen haben, die ihnen eigentlich nicht zusteht. Das ist eine schöne Metapher auf das, was das Kursbuch will.
Kaspar: Und wie ist das im Chor, stehen die Bässe rechts oder links?
Nassehi: Das kommt darauf an, wir singen gerade Scarlatti zehnstimmig, da muss man so stark verteilen, dass man von außen den Bass nicht sieht, aber man hört ihn.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.