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Dschihad
Feindesliebe - auch für IS-Rückkehrer

Der Theologe Jürgen Manemann hat sich gefragt, warum Europäer in Syrien für den IS kämpfen. Und er sagt: Das hat auch mit einem Wertevakuum in westlichen Gesellschaften zu tun. Die Rückkehrer seien "Feinde", aber sie hätten ein Recht darauf, andere Menschen werden zu dürfen.

Von Henning Klingen |
Ein Fahrzeugkonvoi mit Mitgliedern der Terrormiliz Islamischer Staat
Wie sollte Deutschland mit IS-Rückkehrern umgehen? (Militant website/AP)
Was tun mit jenen rund 1.000 Personen, die in den vergangenen Jahren nach Syrien ausgereist sind, sich dort dem IS angeschlossen haben, und nun wieder nach Deutschland zurückkommen wollen oder bereits wieder hier leben? Wegsperren und verurteilen? Oder sollte man ihnen die Staatsbürgerschaft aberkennen, wie dies bereits in einigen europäischen Ländern diskutiert oder durchgeführt wird?
"Wir tragen Verantwortung für diese Gewalttäter"
Der Theologe und Politik-Philosoph Jürgen Manemann warnt vor voreiligen Schlüssen. Um die Frage wirklich erschöpfend beantworten zu können, müsse man dem eigentlichen Problem auf die Spur kommen: nämlich der Frage, was diese Menschen eigentlich dazu gebracht hat, in den Dschihad zu ziehen:
"Dschihadismus ist nicht als ein Virus zu betrachten, das von außen eingeschleppt wurde; und diese Gewalttäter wurden nicht erst außerhalb unseres Staates zu diesen Gewalttätern und von diesem Virus befallen, sondern in unserer Gesellschaft. Das heißt: Wir tragen Verantwortung für diese Gewalttäter und dürfen sie deswegen, aufgrund dieser Mitverantwortung meines Erachtens nicht einfach an andere Staaten delegieren."
Manemann hat das Phänomen der europäischen Dschihadisten in den letzten Jahren intensiv erforscht und dazu unter anderem ein vielbeachtetes Buch publiziert. Seine These: Europäischer Dschihadismus hat weniger mit Religion, das heißt dem Islam zu tun, als vielmehr mit sozialen Pathologien in den europäischen Gesellschaften.
"Diese Menschen sind erstmal unsere Feinde"
Wo jungen Menschen die Erfahrung fehle, dass sie in ihrem Leben etwas bewirken und verändern können, drohen nihilistische Tendenzen, so Manemann. Anders gesagt: Islamismus füllt eine Leerstelle. Die europäischen Gesellschaften tragen Mitschuld daran, dass Menschen aus ihrer Mitte in den Dschihad gezogen sind – und sie müssten sich daher nun auch ihrer Verantwortung stellen:
"Unser Rechtssystem lehnt ja die Todesstrafe ab - nicht zuletzt deshalb, weil es so etwas wie ein Menschenrecht darauf gibt, ein anderer Mensch werden zu dürfen. Und in unserem Rechtssystem geben wir den Menschen - auch Gewalttätern und Mördern - die Möglichkeit, andere Menschen noch werden zu können. Nur nochmal um den Punkt klarzumachen: Diese Menschen sind erst einmal unsere Feinde. Aber worauf es ankommt ist, den Feind nicht in alle Ewigkeit zum Feind zu erklären - die Hoffnung also nicht aufzugeben, dass dieser Feind nur Feind auf Zeit ist. Das heißt aber, mit diesem Feind so umzugehen, dass wir uns weigern, ihn zu dehumanisieren."
Auch Feinde haben Anspruch auf Gerechtigkeit
Das Menschenbild, für das Manemann einsteht, ist nicht zufällig ein christliches. Manemann ist Theologe und Direktor des vom Bistum Hildesheim getragenen "Forschungsinstituts für Philosophie" in Hannover. In der Feindesliebe sieht er ein entscheidendes Gebot, das angesichts grassierender gesellschaftlicher Verfeindungen eine weit über das bloße christliche Umfeld hinausreichende Bedeutung hat:
"Desweiteren kommt im Zeitalter der Verfeindungen dem biblischen Imperativ 'Liebe deinen Feind' eine große Bedeutung zu. Dieses Gebot ist Ausdruck der Weigerung, den Feind als einen absoluten Feind zu denken, sondern dass wir diesen Feind nur als einen zeitweiligen Hasser verstehen dürfen. Wir sind also vom Gebot der Feindesliebe ausgehend darauf verpflichtet, auch im Feind immer noch den Menschen mitzuentdecken, für den man eine Verantwortung hat, selbst wenn er mein Feind ist. Wir müssen also Sorge dafür tragen, dass auch der Feind einen Anspruch auf Gerechtigkeit hat - und das können wir nur garantieren, wenn wir die Rückkehrer hier bei uns verurteilen."
July 18, 2017. Mosul, Iraq: ISIS fighter is led away after surrendering to Iraqi Army soldiers on July 18, 2017 amid ruins of the Old City.
Nachdem der Islamische Staat militärisch geschlagen ist, kehren viele Kämpfer heim in ihre Ursprungsländer. (Imago / Carol Guzy)
Natürlich ist sich auch Manemann darüber im Klaren, dass eine derartig liberale Haltung den IS-Rückkehrern gegenüber nicht von jedem geteilt wird. In einem öffentlichen Diskurs, der sich immer stärker auf innere Sicherheit fokussiert, eckt sein Plädoyer für Menschlichkeit ausgerechnet jenen gegenüber, die sich unmenschlich verhalten haben, an.
"Der wirksamste Schutz gegen Dschihadismus ist Bildung"
Ist das nicht pures, ja, naives "Gutmenschentum"? – Nein, sagt Manemann: Zum einen wolle er auf die größeren Zusammenhänge hinweisen, in denen Terror- und Dschihadismus-Bekämpfung gesehen werden sollten. Und zum anderen sei die Betonung der eigenen Werte – der Glaube an Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz – die einzig zukunftsträchtige Antwort auf zunehmende Verfeindungen in der Gesellschaft.
"Die Sicherheitsdienste müssen natürlich diese Rückkehrer genauestens im Auge behalten. Und damit sind hohe personelle und finanzielle Kosten verbunden. Aber ich glaube, wir haben, wenn wir unseren politischen und biblischen Werten treu bleiben wollen, keine andere Wahl. Und vielleicht führt ja auch das endlich dazu, dass wir endlich darüber nachdenken, was denn der wirksamste Schutz überhaupt gegen dschihadistische Gewalt ist; und der wirksamste Schutz ist, den Bildungsbereich zu stärken, Geld in den Bildungsbereich einfließen zu lassen."
Für Versöhnung ist es zu früh
Doch würde er dies auch Angehörigen von Terroropfern gegenüber vertreten können? Manemann zögert. Ja, das würde er – denn es sei längst nicht ausgemacht, dass eben jene Angehörigen notwendigerweise auf Rache sinnen oder ihre politischen oder persönlichen Werte und Überzeugungen einfach über Bord werfen würden. Aber natürlich müssten Angehörige von Opfern in diese Debatte aktiv einbezogen und gehört werden. Ihre Stimme fehle derzeit schließlich ebenso wie jene der Kirchen:
"Kirchen haben natürlich die besondere Aufgabe, Motoren von Versöhnungsprozessen zu sein. Aber wir müssen bei der Versöhnung immer mitbedenken: Es gilt ja nicht nur der Satz 'Vater vergib ihnen, denn sie wussten nicht, was sie taten', den kann man bei den meisten Rückkehrern nicht anwenden, sondern wir müssten zunächst einmal sagen 'Vater vergib ihnen nicht, denn sie wussten, was sie taten'. Wir sollten also erst dann von Versöhnung sprechen, wenn wir die Dramatik, um die es hier geht - um Massenmörder oder um potenzielle Massenmörder - durchdrungen haben. Aber den Anspruch auf Feindesliebe, den sollte die Kirche in der jetzigen Situation stark machen, weil wir selbst unseren Feinden den Anspruch auf Gerechtigkeit nicht absprechen dürfen."
Jürgen Manemann: "Der Dschihad und der Nihilismus des Westens. Warum ziehen junge Europäer in den Krieg?"
Transcript-Verlag 2015, 136 Seiten, 15 Euro