Zäune, wohin man schaut. Rund um die Zufahrt zum Eurotunnel, manchmal in unmittelbarer Nachbarschaft kleiner Siedlungen aus Einfamilienhäusern: doppelte, teilweise dreifache meterhohe Sperranlagen, mit Stacheldraht überzogen, Überwachungskameras, Bewegungsmelder, Scheinwerfer, zwischen den Zäunen patrouilliert die Gendarmerie. Die Absperrgitter rund um die weiträumigen Hafenanlagen: meterhoch auch sie, denn in gleich dahinter beginnt der "Dschungel von Calais". 2002 schon begann er wachsen, auf dem Gelände einer früheren Mülldeponie, inzwischen umfasst er auch Teile der Dünen, soll so groß sein wie 16 Fußballfelder.
Breite Wege führen durch den "Dschungel", das Geräusch ihrer knirschenden, klackernden Kieselsteine ist allgegenwärtig. Auch Menschen sind allgegenwärtig, zumeist Männer. Viele Gesichter sind verschlossen; der angereiste Journalist erweckt schon Neugier, doch Zurückhaltung überwiegt, Misstrauen.
"You’re journalist? No thank you!"
Leben in ärmlichen Verhältnissen
Doch gibt es auch wundersame Begegnungen. Auf einem der Hauptwege kommt mir ein Mann entgegen, vielleicht Mitte 30.Er trägt einen leeren Wasserkanister. Bleibt stehen, sieht mich an, lächelt, zeigt auf mein Mikrophon und ohne dass ich etwas gesagt hätte, entschuldigt er sich: er spreche kein Französisch, aber die da drüben, im Restaurant, die schon.
Woher er gekommen sei, frage ich ihn.
"Me? Afghanistan…", und zieht zwei Fotos aus der Jackentasche, sie zeigen zwei Mädchen, sieben, acht Jahre alt, ich verstehe nicht wirklich, was er sagt, von Frankreich und Kindern ist wohl die Rede, doch schon klopft er auf seinen Wasserkanister - er müsse jetzt weiter, Wasser holen, sagt er und bedankt sich und geht, dreht sich noch einmal um, lächelt mir zu - und verschwindet in der Menge.
Das "Restaurant", von dem er sprach, ist eine Hütte, gezimmert aus Brettern, Kisten, alten Türen, etliche Planen bilden das Dach. Europaletten markieren den Eingang, der mit Decken zugehangen ist. Die Vorderwand neben der "Tür" ist kaum einen Meter hoch und besteht aus Autoreifen, man sieht hinein ins Restaurant: es ist niemand da. Im dunklen Hintergrund Matratzen, davor ein Tisch, von Kisten umstellt, an der Seite ein dreibeiniger Grill, ein türloser kleiner Schrank: Reis und Linsen in Tüten, Tee, etliche Gewürze, daneben, aufrechtstehend wie ausgestellt: drei makellose, glänzende Auberginen.
Hilfsorganisationen versorgen Flüchtlinge
Es gibt mehrere solcher "Restaurants" mit klangvollen Namen wie "London Sunshine" oder "The Flower of Khartoum", es gibt Läden, eine Kirche, fünf Moscheen. Mehrere Waschplätze, Toiletten, Duschen, in einem abgesonderten Teil des Lagers stehen vom Staat organisierte Wohncontainer, zumeist dort leben die wenigen Frauen, die es im Lager gibt. Polizisten sind nicht präsent, nur an den Eingängen stehen Posten. Zwei Essensausgaben gibt es, an einer treffe ich: Ronja, 23 Jahre alt. Schon seit Februar kocht sie für die Hilfsorganisation "L‘Auberge des migrants", die 2008 in Calais gegründet wurde und die eng mit der britischen Einrichtung "Refugee Community Kitchen" zusammenarbeitet. Täglich versorgen sie rund zweieinhalbtausend Menschen.
"Was mich eigentlich so von Anfang an ganz oft begleitet ist, dass die Menschen unglaublich gastfreundlich sind und dass man eigentlich jeden Tag irgendwo eingeladen wird – zum Tee oder zum Essen oder zum was auch immer. Und das, finde ich, ist eigentlich der Hauptteil von dem, was wir hier machen, auch wenn wir eigentlich meist in der Küche arbeiten, aber… nochmal diese individuelle Begegnung, die ist einfach superwichtig, und da passiert dann auch so ein wichtiger Austausch zwischen Menschen."
Die erzählten Geschichten seien einander ähnlich und auch wieder nicht: denn alle hätten doch nur eine Geschichte im Sinn.
"Ihre eigene. Also vom Weg, wie sie hierhergekommen sind. Was ganz schön immer ist, was vielen auch wichtig ist zu erzählen: wie ist es bei ihnen zuhause und was fehlt ihnen auch aus ihrer Heimat oder von ihrer Familie? Und was sie sich wünschen. Also, das ist echt bewegend."
Beim Essen lerne ich Muhammadani kennen. Seit drei Monaten ist er im Lager, stammt aus dem Sudan, kam mit dem Boot übers Mittelmeer nach Europa. Warum er den Sudan verlassen habe, frage ich ihn.
Hoffnung auf Weiterreise
Über seine Reise nach Europa will Muhammadani nicht sprechen. Er freue sich, dass er es bis hierher geschafft habe, seine Tante in London warte auf ihn. Dass man es ihm so schwer macht, versteht er nicht:
"Wir kommen alle aus Ländern, in denen es große Probleme gibt. Die einen sind so arm, dass sie nicht mal was zu essen haben. Und nicht wissen, wo sie schlafen sollen. In vielen Ländern gibt es Krieg. Ein Freund von mir: sein Vater starb, seine Mutter, seine Frau und seine Kinder – alle tot! Und es waren die Soldaten unserer Regierung, die sie umgebracht haben! Wir Afrikaner haben wirklich einige Probleme – und trotzdem geben viele Regierungen hier den Flüchtlingen keine Chance."
Etwa 9000 Menschen leben im "Dschungel". Nicht alle wollen nach England, aber die meisten. Ein Mann aus Eritrea ist sich seines Planes sicher:
"Wirklich! 100 Prozent! Eines Tages werde ich die Grenze überqueren! Doch, doch, ich werde es versuchen und eines Tages." - und dann macht er mit der Hand eine startende Rakete nach und lacht.
Ronja: "Gerade habe ich mit einem Freund gesprochen, der hat gesagt, er hat versucht, nach England zu kommen und war in einem Lastwagen – und der ist halt nach Belgien gefahren, und jetzt ist er sechs Stunden zurückgelaufen. Also es gibt Menschen, die kommen in Spanien raus oder… weil man weiß ja nicht, wo die (LKW) letztendlich hinwollen."
Das Gespräch mit Ronja wird immer wieder unterbrochen.
Von Spannungen ist im "Dschungel von Calais" nicht viel zu spüren, gar nichts Aggressives liegt in der Luft, eher etwas Heikles, eine Verletzlichkeit. Es scheint als ob jeder, der auf seine nackte Existenz zurückgeworfen wurde, sich nur noch abschotten, Schutz suchen möchte. Auch in Räumen aus Brettern, Blechen und Zeltplanen – nur getragen von der Hoffnung auf ein besseres Leben, irgendwo, am liebsten in England.
Auf der Rückfahrt hat der Anblick der dreifachen Sperranlagen, mit Stacheldraht überzogen, etwas Erschütterndes.